Vom Erschließen eines Geschäftsfeldes und den Verheißungen alternativen Proteins
Nachhaltigkeitsdebatten, Wandel von Konsum, Veggie-Trend: Wer dieser Tage einen Blick auf die Strategien des Fleischkapitals wirft, gesellschaftlichen Umbrüchen und sich verändernden Lebensweisen zu begegnen, kann grob zwei Tendenzen ausmachen. Ein Teil der Unternehmen schickt sich an, dem grün-liberalen Veggie-Lifestyle traditionalistisch die Stirn zu bieten und propagiert karnivore Lebensweisen umso offensiver, der andere setzt auf Modernisierung und versucht, durch Anpassung vom Wandel zu profitieren.
Der wohl bekannteste Stichwortgeber der zweiten Linie: Godo Röben, von 1995 bis 2017 Geschäftsleiter für Marketing und PR sowie von 2017 bis 2021 einer von zwei Geschäftsführern des 1834 gegründeten Produzenten von Wurstwaren Rügenwalder Mühle. Das Traditionsunternehmen hat sein Sortiment teilweise auf vegetarische und vegane Produkte umgestellt und erzielt mittlerweile mehr Umsatz mit Veggie- als mit Fleischprodukten – ein Wandel, für den Röben maßgeblich verantwortlich zeichnet. In dieser Pionierrolle personifiziert er gewissermaßen die Öffnung der Branche für pflanzliches Protein – ein Image, das auch Teil der Vermarktung seiner öffentlichen Person ist. Er fungiert seither als Public Intellectual und Berater, der die Fleischindustrie modernisieren und fit für die Zukunft machen will. Wer auf alternative Proteine umsattele, so in etwa seine Kernbotschaft in Interviews und Vorträgen, könne natürliche Ressourcen und Tiere schonen, gesünderes und nachhaltigeres Essen anbieten und mit dem Erschließen eines lukrativen Zukunftsmarktes auch noch satte Gewinne einfahren. Dass ihm diese Perspektive unter konservativen Traditionalisten der Branche nicht nur Fans einbringt, wundert kaum.
Das Buch »Vergesst Fleisch!«, geschrieben von dem Wirtschaftsjournalisten Christian Weymayr und erschienen in der Buchreihe des stets am urbanen Yuppie-Zeitgeist orientierten Wirtschaftsmagazins brand eins, ist eine kurzweilige Lektüre. Es dient primär dazu, Röbens Erfolgsstory nachzuerzählen und, um im BWL-Jargon zu bleiben, sie als Best-Practice-Beispiel und Blueprint für potenzielle Nachahmer vorzustellen. Auf etwas mehr als 120 Seiten erzählen die 20 kurzen Kapitel abwechselnd die Geschichte der teilweisen Umstellung von Rügenwalder auf Veggie-Produkte und referieren Zahlen, Studien und Prognosen zum allgemeinen Wandel globaler Ernährungssysteme und zur Entwicklung des Markts für Veggie-Fleisch. Weymayr zitiert dabei ausführlich aus seinen Gesprächen mit Röben.
Vegan for Profit – aber nicht der Tiere wegen
Dabei werden durchaus einige unbequeme Wahrheiten aufgerufen, die für die Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung zwar kalter Kaffee, in der unternehmerischen Öffentlichkeit aber nicht selbstverständlich sind: Die »fleischlastige Ernährung ist nicht nur mit Tierleid, sondern auch mit einem Raubbau an der Umwelt erkauft« (S. 13), wird etwa gleich zu Beginn klargestellt – weswegen »wir« nicht weitermachen könnten wie bisher. Die ökologischen, sozialen und ethischen Verheerungen der Fleischproduktion werden bemerkenswert klar benannt und durch entsprechende Zahlen und Studien untermauert (die teils katastrophale Situation der Arbeiter in den Schlachtfabriken wird allerdings nicht angesprochen).
Allein, diese Fakten werden hier natürlich nicht als Argumente für die Befreiung der Tiere oder die Abschaffung der Fleischindustrie angeführt, sondern als Begründung, den Wachstumsmarkt für alternative Proteine zu erobern. Der Tierverbrauch müsse langfristig um 80 Prozent sinken, heißt es – und weil Appelle an die Vernunft dazu nicht reichten, müsse die Produktion von Alternativen angekurbelt werden: Das sei »kein frommer Wunsch, sondern schlichte Notwendigkeit: Alternatives Fleisch ist alternativlos« (S. 14). Die Umsetzung gesellschaftlichen Wandels wird hier einmal mehr an die Kapitalseite delegiert.
Einblicke in einen Umbauprozess
Interessant sind vor diesem Hintergrund die von Röben geschilderten Innenansichten aus der Veränderung von Rügenwalder – etwa die Bedeutung der Kultur innerhalb des Unternehmens in diesem Wandel. 30 Millionen Euro waren bereits investiert, als Rügenwalder 2014 die erste vegetarische Mortadella in die Läden brachte. Im Unternehmen selbst waren aber noch längst nicht alle von Röbens Plan überzeugt. Bestellte neue Maschinen für die Veggie-Produktion etwa seien in seiner Abwesenheit wieder storniert worden, erzählt der Vermarktungsfachmann, weil man davon ausging, sie nicht wirklich zu brauchen. In mehreren Betriebsversammlungen habe er darum die gesamte Belegschaft zusammengetrommelt und ihnen »die ganze Geschichte – von der Entstehung der Erde über die Bevölkerungsexplosion und die Massentierhaltung bis hin zur Elektromobilität« (S. 34) eingebläut. Auch die Geschäftsleitung habe er überzeugen müssen, den Werbeetat von 20 Mio. Euro komplett für die neuen Veggie-Produkte einzusetzen. Der Vertrieb wiederum stand vor großen Herausforderungen, die neuen Produkte plötzlich verkaufen zu müssen. Als Röben 2015 zum Chief Marketing Officer of the Year gekürt wurde, interessierte das im Unternehmen kaum einen.
Erhellend ist auch der Einblick in die konkreten Abläufe und Veränderungen der Produktion: Mitte 2015 musste Rügenwalder, anders als kalkuliert, nicht fünf Tonnen Veggie-Wurst pro Woche liefern – sondern ganze 50. Es brauchte also, berichtet Röben, mehr Rohstoffe, Maschinen und Arbeitskräfte. Ein akutes Problem an mehreren Stellen: »Die Einkäufer kannten den Fleischmarkt in- und auswendig, aber mit dem Pflanzenmarkt hatten sie keine Erfahrung. Plötzlich war beispielsweise eine ganze Erbsenernte ausverkauft, und Nachschub gab es erst zur nächsten Ernte.« (S. 66) Auch der Kauf von Maschinen für die Produktion erwies sich als Problem, weil Hersteller die Aufträge nicht in der gewünschten Zeit liefern konnten.
Dass die Bezugnahme des Unternehmens auf Klimaschutz, Nachhaltigkeit oder die Belange der Tiere nicht einfach Ausdruck edler Gesinnung, sondern schlicht Teil einer unternehmerischen PR-Strategie ist, wird ebenfalls deutlich. Etwa dann, wenn Röben erzählt, wie er dem früheren Rügenwalder-Chef nach einem Interview riet, das Mitgefühl mit Tieren nach vorne zu stellen: »Wieso positionierst du uns nicht klar beim Tierleid? Das ist es, was die Menschen berührt.« (S. 93) Oder wenn er beschreibt, wie ihm klar wurde, dass die vermeintlich abstrakte Klimafrage durchaus kaufentscheidend sein kann: »Langsam begriff ich, dass auch Klima ein Thema ist, das die Leute triggern und zum Griff ins Veggie-Regal bewegen kann.« (S. 93) Völlig klar: Die Anpassung an vegetarisch-vegane und grün-liberale Lebensweisen ist eine profitorientierte Akkumulations- und Verkaufsstrategie.
Anlagegeschäfte und staatliche Unterstützung
Natürlich spielen auch Faktoren jenseits des Unternehmens eine Rolle für den Veggie-Boom der letzten Jahre und den Aufbau eines neuen Marktes. Zum Beispiel wird in »Vergesst Fleisch!« die Bedeutung von Firmenbewertungen für potenzielle Investoren beschrieben: Als entscheidender Moment wird eine Rügenwalder-Beiratssitzung im Jahr 2019 zu Finanzen geschildert, in der Röben den Kurs der Beyond-Meat-Aktie auf dem Handy nachschlug. Das 2009 gegründete US-Unternehmen war nur ein paar Wochen zuvor mit zwei Milliarden Dollar bewertet worden, stand nun aber schon bei sensationellen sieben Milliarden Dollar. Eine so ungewöhnliche Bewertung gab denn auch der deutschen Fleischbranche zu denken: »Die ganze Welt wurde aufgerüttelt. Auf einmal kam das Veggie-Thema richtig in Fahrt«, rekapituliert Röben (S. 41). Die Folge: Bis Ende 2022 sei der Rügenwalder-Absatz durch die Decke gegangen, und auch die Finanzwelt interessierte sich verstärkt für Veggie-Produkte. »Die sahen, dass es da einen unglaublichen Markt geben muss, wenn eine Firma weltweit so abgeht« (S. 42).
Der Kontakt zur Politik und staatliche Förderung finden ebenfalls Erwähnung: Nachdem die Grünen-Politikerin und frühere Landwirtschaftsministerin Renate Künast ihn anfangs abblitzen ließ, bat sie ihn im Sommer 2022, Röben war damals schon bei Rügenwalder ausgeschieden, um ein Gespräch: Mit der AG Ernährung und Landwirtschaft der Grünen-Fraktion im Deutschen Bundestag sollte er das Thema der Ernährungswende weiter voranbringen. Röben, so heißt es im Buch, schlug eine 15-köpfige Arbeitsgruppe »mit Vertretern der gesamten Wertschöpfungskette vom Agrarunternehmen bis zum Wurstproduzenten, plus Wissenschaft, Medizin und Organisationen wie ProVeg« vor (S. 60). Die Arbeitsgruppe wurde akzeptiert und forderte bald 200 Mio. Euro für Forschungs- und Ausbildungscluster für alternative Proteine mit dem Ziel, bis zum Jahr 2030 ein Fünftel des Fleischkonsums durch pflanzliche Produkte zu ersetzen. Künast sei noch weiter gegangen und habe 250 Mio. Euro pro Jahr für die damals anstehende Haushaltsplanung veranschlagt. Zusammen mit den verschiedentlich im Buch zitierten Schilderungen Röbens, wie man damals die Reaktionen der (potenziellen) Kunden auf die neuen Veggie-Produkte im Blick behielt, ergibt sich ein Bild sehr konkreter Maßnahmen zur Erschließung und Förderung eines neuen Marktes.
Nächster Hype: In-vitro-Fleisch?
Das nächste große Ding, das von Weymayr wie vielen anderen als Wachstumsmarkt und logische Fortsetzung des Veggie-Trends ausgemacht wird: kultiviertes Fleisch. Der Autor zitiert eine Prognose, die ab 2027 oder 2028 den ersten Firmen Gewinne mit kultiviertem Fleisch verspricht. Das Good Food Institute, eine NGO, die mit Teilen der Politik und Wirtschaftsunternehmen zusammen für den Aufbau eines Marktes für alternatives Protein wirbt, wird ebenfalls mit der Einschätzung zitiert, dass dieser Wirtschaftsbereich allmählich reife. Dass es aber, wie an anderer Stelle bereits ausgeführt, nicht zuletzt die Fleischkonzerne selber sind, die in die Entwicklung von In-vitro-Fleisch investieren und sich damit gleich ein zusätzliches neues Geschäftsfeld erschließen wollen, wird hier, kaum verwunderlich, nicht problematisiert.[1]
Wer also an Innenansichten unternehmerischer Umbauprozesse oder an Schilderungen der Erschließung neuer Geschäftsfelder interessiert ist, findet in »Vergesst Fleisch!« eine Reihe illustrer Hinweise. Klar ist jedoch, dass diese wie auch die kritischen Einlassungen zur Fleischindustrie und zum Fleischkonsum hier mit einem spezifischen Zweck vorgetragen werden: Entsprechend dem wirtschaftsjournalistischen Storytelling dient der Band der Imagebildung rund um die Figur Godo Röben und soll den Umbau der Rügenwalder Mühle als prototypische Erfolgsgeschichte verkaufen. Er dient keineswegs der Aufklärung und Gesellschaftskritik, sondern soll der brand-eins-Leserschaft ein neues, innovatives Marktsegment näherbringen.
Daniel Horn
Ein Artikel aus dem Zirkular “Hammel & Sittich”, Ausgabe 6, Januar 2025