Eine technische Lösung für ein soziales Problem?

In-vitro-Fleisch ist vor allem ein neues Big Business

Sogar die Vertreter der international herrschen den Klassen haben mittlerweile einige Probleme der industriellen Fleischproduktion anerkannt. Etwa beim World Economic Forum (WEF) in Davos beklagen sie seit zwei Jahren unter anderem Wasser- und Landverbrauch, Klimaschädlichkeit, mangelndes Tierwohl und Gefahren für die menschliche Gesundheit. Dominic Waughray, Mitglied des WEF-Vorstands, äußert sich im Whitepaper »Meat: the Future« dennoch zuversichtlich. Die Einführung von Fleischersatzwaren biete ein »Portfolio an Lösungen, das zusätzlich zu bestehenden tierischen Proteinoptionen dazu beiträgt, mehr Proteine im 21. Jahrhundert für größere Teile der Welt und angepasst an verschiedene Märkte, Bedürfnisse, Konsumentenvorlieben und Preise zur Verfügung zu stellen.«

Bruce Friedrich, Geschäftsführer des Good Food Institute (GFI), das Unternehmen bei der Umstellung auf Fleischersatzprodukte unterstützt, Lobbyarbeit dafür betreibt und Informationen darüber bereitstellt, gibt sich ebenfalls optimistisch: »Wie Menschen es immer in der Geschichte getan haben, werden wir Märkte und Innovationen nutzen, um diese Probleme zu lösen.« In-vitro-Fleisch (IVF) beziehungsweise Fleisch auf Zellbasis sei »eine der vielversprechendsten Technologien«. Fleisch müsse auf eine neue Art und Weise produziert werden. Dafür bräuchte man aber »alle Mann an Bord«, auch die Industrie. »Wir wollen die Fleischindustrie nicht zerstören, wir wollen sie transformieren.«

Damit ist das moderne Heilsversprechen bereits umrissen, welches IVF-Start-ups, Investoren, Philanthropen, NGOs und politische Bewegungen seit einigen Jahren verbreiten: Weltrettung durch Kunstfleischwaren. Der Mythos wird regelmäßig befeuert, wenn wie 2013 technische Fortschritte erzielt werden. Damals präsentierte der niederländische Wissenschaftler und Mitbegründer des Start-ups Mosa Meat, Marcus Johannes »Mark« Post, der Öffentlichkeit die erste Burgerbulette aus dem Labor Mittlerweile ist die Produktpalette ausgedehnt worden. Zusätzlich zur Herstellung von Rindfleisch wird auch an der Fabrikation von Schweine- und Hühnerfleisch sowie von »Meeresfrüchten« geforscht. Marktfähig ist aber bisher noch keines der Produkte.

Vegan ist die IVF-Produktion bis dato auch nicht. Um an die benötigten Zellen zu kommen, werden Tiere gehalten, und ihnen muss Muskelgewebe entnommen werden. Bevor die so gewonnenen Zellen in einem Bioreaktor zu Fleisch heranwachsen können, müssen sie in einer Nährlösung kultiviert werden. Diese besteht bisher noch aus Wachstumsserum von Föten trächtiger Schlachtkühe. Post behauptet allerdings, dass die Nährlösung zumindest in seinem Unternehmen inzwischen komplett pflanzlich sei. Außerdem sei die Zahl der gehaltenen Tiere geringer als in der konventionellen Fleischindustrie, und keines müsste mehr getötet werden. Zudem ist es wahrscheinlich, dass die In-vitro-Rindfleischproduktion auf Massenbasis umweltfreundlicher als die herkömmliche Methode ist. Sie käme mit weniger Wasser und Land aus, und die Schadstoffemissionen wären geringer. Gleichwohl äußern Wissenschaftler wie John Lynch, Raymond Pierrehumbert und Arianna Ferrari erhebliche Zweifel an der Ökobilanz des Kunstfleischs, insbesondere weil der Energieverbrauch der Bioreaktoren bis heute nicht bekannt ist.

Ungeachtet der berechtigten Einwände ist es nachvollziehbar, dass nicht nur Tierrechts- und Tierbefreiungsaktivisten bei einer solchen Produktivkraftentwicklung aufhorchen. Eine Lösung, die der kapitalistischen Tierausbeutung ein Ende macht, würde sie trotzdem nicht bieten. An der Quantität und Qualität der Tierausbeutung, insbesondere für Fleisch, ändert sich allein durch IVF-Produktion und -Verkauf erst einmal genauso wenig wie durch den Konsum von Tofu oder Grünkernbratlingen. Fleischkonzerne und Wissenschaft rechnen nahezu einhellig mit weiteren Wachstumsschüben für die globale Tierfleischproduktion. Die Kunstfleischwaren verschaffen indes nur einigen Verbrauchern ein gutes Gewissen, einer neuen Kapitalfraktion einen fruchtbaren Boden für Profite und dem Kapitalismus ein tierfreundliches Antlitz.

Eine neue Kapitalfraktion entsteht

Laut einer Aufstellung des GFI arbeiten seit 2015, als Memphis Meats (USA), Mosa Meat (Niederlande), Integriculture (Japan) und SuperMeat (Israel) gegründet wurden, weltweit rund 60 Unternehmen an der Herstellung verschiedener IVF-Sorten. Allein 2019 kamen 21 neue hinzu. Die meisten Start-ups finden sich in den USA. Dort sind es 20, in EU-Europa 16, in Israel fünf und in Kanada vier. In Deutschland haben drei ihren Sitz, in der Schweiz gibt es eines.

Die Investitionen in die IVF-Erforschung und -Entwicklung sind in den vergangenen fünf Jahren exponentiell gestiegen. Sofern bekannt, ließen Geldgeber 2015 international nur knapp zwei Millionen US-Dollar (USD) springen, 2019 schon über 82 Millionen. Ende Januar 2020 teilte Memphis Meats mit, dass Finanziers 161 Millionen USD für das Unternehmen bereitgestellt hätten. Die Investoren sind damit zwar noch nicht so spendabel wie bei der Entwicklung pflanzenbasierter Fleischalternativen, deren Produzenten allein im Jahr 2018 mit 673 Millionen USD ausgestattet wurden. Aber das Finanzvolumen des In-vitro-Sektors wächst im Windschatten des kommerziellen Erfolgs der beiden führenden Hersteller von Fleisch auf Pflanzenbasis Beyond und Impossible Meat.

Seit 2019 hat die IVF-Industrie in den USA auch eine Interessenvertretung: die Alliance for Meat, Poultry & Seafood Innovation. Gründungsmitglieder sind Memphis Meats, BlueNalu, Finless Foods, Fork & Goode und Just. Ihnen geht es vor allem um den Aufbau eines Branchenimages, die Zulassung ihrer Produkte für den dortigen Markt und darum, sich in den bereits einsetzenden Kämpfen mit konkurrierenden Kapitalfraktionen durchzusetzen. Zum Beispiel die Bezeichnung der hergestellten Endprodukte als »Fleisch« ist wie bei pflanzlichen Alternativen hoch umstritten. Die US-Fleischbarone betiteln die neuen Produkte schlicht als »Fake Meat«.

Mit der Fleischindustrie, Bill Gates und anderen »Philanthropen«

Das Verhältnis der Fleischindustrie zu den neuen Unternehmen ist aber keineswegs nur von Konkurrenz geprägt. Der deutsche Verband für alternative Proteinquellen Balpro meint etwa: »Wir fordern keine Revolution gegen tierische Erzeugnisse oder andere Produktkategorien, sondern treten für eine objektive Betrachtung von alternativen Proteinquellen und den entsprechenden Technologien zu ihrer Erschließung ein.« Justin Whitmore, Vizepräsident des größten US-Fleischkonzerns Tyson Foods, geht noch deutlich weiter: »Wir investieren weiterhin in unser traditionelles Fleischgeschäft, aber wir glauben auch daran, zusätzliche Wachstumsmöglichkeiten zu erschließen, indem man den Konsumenten eine größere Auswahl bietet.« Produktion von Tier- und In-vitro-Fleisch schließen sich also nicht aus, sondern sollen einander ergänzen.

Entsprechend beginnen IVF-Start-ups und Fleischkonglomerate, miteinander zu verschmelzen: Tyson Foods hat zum Beispiel über zwei Millionen USD an das israelische Unternehmen Future Meat Technologies überwiesen. Die Bell Food Goup, einer der beiden führenden Schweizer Fleischhersteller, ist mit sieben Millionen Euro an der niederländischen Firma Mosa Meat beteiligt. Migros, die Mutter des zweiten eidgenössischen Fleischkonzerns von Rang, Micarna, ist bei Aleph Farms aus Israel eingestiegen, und der deutsche Marktführer im Geflügelfleischsektor, die PHW-Gruppe, hält zehn Prozent der Anteile an Super Meat mit Sitz in Tel Aviv.

Die IVF-Pioniere stehen aber nicht nur auf den Gehaltslisten reiner Fleischkapitalisten, sondern auch auf denen anderer Großkonzerne. Der Agrarmulti Cargill gehört zum Beispiel zu den Gönnern von Aleph Farms und Memphis Meats. An letzterem sind auch Microsoft-Gründer Bill Gates, Kulturindustriemogul und Fluglinienteilinhaber Richard Branson sowie der saudische Prinz Khaled bin Alwaleed bin Talal beteiligt, bei Mosa Meat der deutsche Chemie- und Pharmakonzern Merck und Google-Ko-Gründer Sergey Brin.

Tierschutz- und Tierrechtsclaqueure

Im Wissen darum, wer bereits heute im IVFGeschäft das Sagen hat, sollte man meinen, dass Organisationen, die sich für Tiere einsetzen, zumindest kritische Distanz wahren. Aber ganz im Gegenteil – Tierschutz- und Tierrechtsorganisation suchen den Schulterschluss. Ingrid Newkirk, Präsidentin von People for the Ethical Treatment of Animals (PETA), brüstet sich geradezu damit, dass ihre Organisation seit Ende der 1990er-Jahre zu den IVF-Vorkämpfern zählt. Die Schweizer Tierschutz-»Denkfabrik« Sentience Politics übernimmt in einem 2016 veröffentlichten Positionspapier die Mär von der angeblich möglichen schrittweisen Ablösung der traditionellen Fleisch- durch die IVF-Produktion. Sie will daher die Öffentlichkeit »über die Vorteile von kultiviertem Fleisch« informieren und für Subventionen und andere staatliche Hilfen eintreten. ProVeg Deutschland plant zum zweiten Mal in Folge seine »New Food Conference«, unter anderem gesponsert vom Fleischkonzern Rügenwalder Mühle und von der Supermarktkette Lidl, um dem IVF-Business eine Plattform zu bieten.

Diese und andere Tierschutz- und Tierrechtsorganisationen kreieren durch ihr Tun den Absatzmarkt, ein politisch korrektes Image für IVF-Waren und den Mythos, ein tierfreundlicher Kapitalismus sei durch Technik, Markt und »ethischen Konsum« möglich. PETA und Co agieren als zivilgesellschaftliche Vorfeldgruppen der neuen Kapitalfraktion, die mit Fleischersatzwaren ihre Gewinne einfährt, aber sonst alles dabei belässt, wie es ist. Die gemeinsame Losung von IVF-Start-ups, Investoren und Tierschützern lautet – in Newkirks Diktion: »In diesen Tagen haben wir einen freien Markt, der auch frei von Grausamkeiten ist.«

Der Schwindel vom sauberen Fleisch

Dass ein florierender Markt für IVF und vegane Fleischersatzwaren mitnichten frei von Ausbeutung von Arbeitern, Tieren und Natur – also frei von Grausamkeiten – ist, liegt auf der Hand. Mit wenigen Ausnahmen bestreiten nicht einmal die Befürworter der Diversifizierung von Produktion und Angebot ernsthaft, dass die Fleischherstellung, wie von von der Food und Agriculture Organization (FAO), der Welternährungsorganisation der UNO, prognostiziert, international bis 2050 weiter exorbitant anwachsen wird. Solange Tyson, Bell, PHW und so weiter mit Fleischwaren Geld verdienen können, wird sich daran nichts ändern. Der Markt ist weder demokratisch noch gerecht: Auf Basis des Privateigentums an Produktionsmitteln ermöglicht er gerade, Tiere und ihre Körperteile als Waren zu verkaufen.

Für die Fleischindustrie und ihre Finanziers sind die Investitionen in IVF und andere »alternative Proteine« von Nutzen, weil sie Anlagen für überakkumuliertes Kapital bieten und neue Profite versprechen. Sie lassen auch den Kapitalismus und das Geschäft mit dem Tiermord vegan und ökologisch erscheinen (»Vegan-« und »Greenwashing«). Zudem zeigt sich bereits, dass mit der Verbreitung von In-vitro-Produkten und pflanzenbasierten Konsumgütern die Zustimmung eines Teils der Bewegungen, die sich für Tiere engagieren, zur bürgerlichen Gesellschaft organisiert, die Tierrechtsbewegung entpolitisiert und Protest in konforme Bahnen kanalisiert wird. In diesem Zusammenhang wird verständlich, warum die IVF-Propaganda dem bürgerlichen Technik- und Fortschrittsoptimismus neues Leben einhaucht. Wer an alternative Proteinquellen als Lösung für die Probleme der Fleischindustrie glaubt, muss die sozialen Ausbeutungs- und Herrschaftsbeziehungen nicht (mehr) hinterfragen.

Zumindest sieht das eine internationale Gruppe von Wissenschaftlern und Tierrechtsaktivisten um Zipporah Weisberg, John Sanbonmatsu und Vasile Stanescu so. Sie kritisieren, dass der »Schwindel vom sauberen Fleisch« von »den wesentlichen Problemen ablenkt« und die Fleischindustrie langfristig global stärken würde. Dem ist eigentlich nur hinzuzufügen, dass sich mit den Produktivkräften, die eine vegane und ökologische Produktion eventuell erlaubten, ein altes Problem auf einer neuen Ebene offenbart: das des privaten Eigentums an ihnen. Denn nachhaltig und unter Berücksichtigung der Interessen von Menschen und Tieren könnte nur produziert werden, wenn auch demokratisch und sozial über die Nutzung der Produktivkräfte entschieden würde. Es bedarf also anderer Eigentums- und Produktionsverhältnisse.

Christian Stache

Ein Artikel aus unserer Zeitung “Das Fleischkapital”.