Tiefste Menschlichkeit

Zum Motiv der Tierrettung in Wladimir Majakowskis »Ode an die Revolution«

Wladimir Majakowski (1893–1930) gilt bis heute als bedeutendster Dichter der Sowjetunion. Sein 1918 veröffentlichtes Poem »Ode an die Revolution« atmet, vom Zeitgeist und den damaligen historischen Ereignissen beseelt, noch das authentische Pathos der Oktoberrevolution. Der Dichter zelebriert sie »wie ein Feiertagsgetränk«. Er ist sich des Ausgangs der »doppelgestaltigen« Umwälzung zwar noch nicht gewiss, weiß nicht, ob sie als »stattliches Bauwerk« aufstehen oder als »Ruinenhauf« enden werde. Und doch preist er »das einfach menschliche Werk«, mithin seine Träger, begrüßt den unerbittlichen Kampf gegen die Feinde der Revolution, etwa den »Narren in Christo«, den um »Schonung bettelnden Heils-Demiurgen« und die Konterrevolutionäre unter den Militärs wie die »kopfüber über Bord von der Brücke zu Helsingfors« gestoßenen »grauhaarigen Admiräle«. Er weiß sehr wohl um reaktionäre ideologische Bewusstseinslagen, schwenkt ihnen aber das Fanal der eigenen Revolutionsemphase entgegen: »Dich verdammt der Spießerschrei:/ ›Dreimal sei vermaledeit!‹/ Ich übertäub ihn/ Mit dem Poetenwort:/ ›Viermal sei gepriesen und gesegnet!‹.«

Und im chaotischen Menschengewühl der tobenden Revolutionswirren, selbst noch beim grandiosen Bild des dem Untergang geweihten Kreuzers findet sich der eingeschobene Vers: »Aufs sinkende Schlachtschiff/ Schickst du Matrosen/ Dorthin/ Wo vergessen/ Ein Katerchen miaut.« Und man mag sich fragen, was es mit diesem aus dem Gesamtduktus des Poems aus dem Rahmen fallenden Motiv eines miauenden Katerchens auf sich habe. Majakowski thematisiert doch die Erhabenheit des Klassenkampfes, die Gefahren der Konterrevolution, listet mithin die Reaktionen von Kirche und zaristischen Militärs auf, zeigt die Opfer der Empörung, die »gestrigen Wunden«, die »geöffneten Venen« – was soll da das Bild eines einzelnen kleinen, einsamen Tieres?

Mehrere Antworten bieten sich auf diese Frage an. Wäre Majakowski ein romantischer Dichter, könnte der Verdacht aufkommen, es ginge ihm um Rührseliges. Schlechte Romantik und die noch üblere Kitschindustrie Hollywoodscher Couleur verstehen sich meisterhaft darauf, die gängige Einsicht, dass Kinder und Tiere »die Show stehlen«, aufs Effektivste manipulativ einzusetzen. Ein »miauendes Katerchen« mag das, gezielt eingesetzt, in der Tat auch bei einer Revolution. Nicht selten geschieht dies in ideologischer Absicht, unter anderem um die Essenz des revolutionären Aktes zu desavouieren. »Wo gehobelt wird, fallen Späne«, heißt es bekanntlich zum einen in apologetischer Absicht, zum anderen lässt sich aber auch nicht in Abrede stellen, dass die Revolution »ihre Kinder frisst«, was im massiven Terrorfall dunkle Schatten auf Gesinnung und Moral der Revolution zu werfen vermag (zuweilen wird auch dieser Einwand in bewusst manipulativer ideologischer Absicht verwendet).

Ein vom Emotiven absehender, eher zum bilanzierenden Tatsachenbefund geneigter Zugang findet sich im Begriff des Kollateralschadens, einer dem Hobel-Späne-Paradigma verschwisterten Kategorie. Beim Kollateralschaden wird stets davon ausgegangen, dass Unbeteiligte beziehungsweise Unschuldige beim revolutionären Gewaltakt unvermeidbar in Mitleidenschaft gezogen werden. Wenn man aber bei Kriegen, die ja als Männersache galten, noch den kollateralen Tod von Frauen und Kindern zu beklagen pflegte, so war man relativ unbekümmert über den Tod von Tieren. Auf dem Schlachtfeld getötete Pferde gehörten zum Kalkül. Es sollte lange Jahrzehnte dauern, ehe Filmemacher sich genötigt sahen zu versichern, dass in den Dreharbeiten für ihre Werke eingesetzte Tiere keinen Schaden erlitten haben; davor wurde es für selbstverständlich erachtet, dass Tiere bei Kinoproduktionen sich (»für die Kunst«) verletzen oder gar sterben können. Eine suggestive Verbindung des Kollateralen mit dem Emotiven findet sich bei Sergej Eisenstein. Unvergesslich die Szene in seinem Film »Oktober«, in welcher der Kadaver eines gestürzten Pferdes an einer sich erhebenden Brückenhälfte hängt. Selten ist die an Tieren begangene Barbarei menschlicher Zivilisation so eindringlich cineastisch vorgeführt worden.

Aber es gibt noch eine ganz andere mögliche Antwort auf die Frage, was das Motiv des miauenden Katers auf dem Schlachtschiff in Majakowskis Poem zu bedeuten hat. Die emanzipatorische Emphase, die das Gedicht des russischen Dichters durchweht, mag sich nämlich auf mehr als nur den revolutionären Kampf des Menschen für den Menschen erstrecken; sie mag sich auch auf die Tiere beziehen. Schon bei Marx ist ein durch die radikale Umwälzung der Gesellschaft gezeitigtes Ende der Naturunterjochung mit angedacht. Marx nimmt allerdings keinen vornehmlichen Bezug auf die Tiere, sondern verharrt im dialektischen, freilich abstrakt verhandelten Gegensatz von Mensch beziehungsweise Gesellschaft und Natur. Er behandelt diesen Gegensatz zudem anhand des Stands der Produktivkräfte seiner Zeit, postuliert mithin die zunehmende Aneignung der Natur durch den Menschen im Hinblick auf die Entwicklung der Produktivkräfte zwecks Überwindung des fundamentalen Mangels.

Aber immerhin legt Marx das seinem Denken essentiell inhärierende Paradigma einer künftigen, der Naturbeherrschung folgenden Versöhnung von Mensch und Natur dar. Bei Majakowskis Kater-Motiv muss man indes unweigerlich an eine andere große Revolutionärin denken, deren Verhältnis zu Tieren nachgerade legendär geworden ist: Rosa Luxemburg. Sie hat der wohl persönlich intimsten, zugleich aber auch das Allgemeine der Unterdrückung der Tiere mitreflektierenden Beziehung zu ihnen vielfach einen besonderen Ausdruck verliehen. Rosa Luxemburg liebte Tiere. Sie liebte sie innig, konnte sich in rührendster Weise an ihnen ergötzen, machte sich Gedanken um ihr grausames Schicksal, kümmerte sich in großer Sorge um sie, wo immer sie konnte. Briefe an ihre Sekretärin Mathilde Jacob aus dem Frauengefängnis beendete sie mit emotionalen Grußworten an die Gehilfin und an ihre Katze: »Tausend Küsse Ihnen und Mimi« oder »Ich umarme Sie und Mimi in schrecklicher Sehnsucht«.

Aber nicht nur der eigenen Katze galt ihre Sorge, sie galt den Tieren allgemein. Ihr schier endloses Mitgefühl ließ sie dem sterbenden »Flieglein« nicht weniger zuteilwerden als Vögeln und Rindern. Literarische Weltberühmtheit erlangte ihr zutiefst bewegender Büffel-Brief. Bei ihr lässt sich Revolutionsemphase und innigste Emotion angesichts des grausamen Tierschicksals nicht auseinanderhalten. Noch in der blutigen Straßenschlacht, im Gefängnis bangend, wusste Rosa Luxemburg, wahrhafte Versöhnung von Mensch und Natur, von Mensch und Tier visionierend, zu sagen: »Rücksichtsloseste revolutionäre Tatkraft und weitherzigste Menschlichkeit, dies allein ist der wahre Odem des Sozialismus. Eine Welt muss umgestürzt werden, aber jede Träne, die geflossen ist, obwohl sie abgewischt werden konnte, ist eine Anklage; und ein zu wichtigem Tun eilender Mensch, der aus roher Unachtsamkeit einen Wurm zertritt, begeht ein Verbrechen.«

Es will scheinen, als liege dieser Konnex von sozialistischem Revolutionskampf, Emanzipationsemphase und authentischer Sorge um die Tierwelt auch dem Kater-Motiv in Majakowskis Poem zugrunde. Denn der Dichter spricht, die Revolution anredend, letztlich von einer realen Mission: »Aufs sinkende Schlachtschiff/ Schickst du Matrosen/ Dorthin/ Wo vergessen/ Ein Katerchen miaut.« Und als gelte es auch im Gedicht, die Mission erfolgreich zu vollenden, folgt in der nächsten Zeile »Da! …« Ein Ausdruck zielstrebigen Suchens. Das zurückgelassene Tier ward gefunden, vermutlich auch gerettet. Dieses »Da!« tilgt jeglichen Verdacht von Kitsch und manipulativer Sentimentalität, es handelt sich um keine Abstraktion, keine Begriffsspielerei – ein Kater wurde im Schlachtgetümmel vergessen, das hilflose Geschöpf darf nicht der menschengemachten Gewalt überlassen werden. Dies hat Majakowskis miauendes Katerchen mit Rosa Luxemburgs zertretenem Wurm gemein – in diesen Motiven spiegelt sich tiefste revolutionäre Menschlichkeit.

Moshe Zuckermann

Zum Gedicht »Ode an die Revolution«

Ein Artikel aus unserer Zeitung “Das Fleischkapital”.