Thesen über Wissenschaft, Materialismus und die Befreiung von Natur und Tieren
Jenseits der Krisenrhetorik
- Wir leben in Zeiten der Krise – und die Krise ist alltäglich geworden. Die Krise ist ökonomisch. Die Krise ist ökologisch. Die Pandemie war eine Krise, so wie der Krieg in der Ukraine oder in Palästina eine Krise ist. Die Krise ist überall, weil die Krise die Norm ist. Sie ist zur Normalität geworden und dem Prozess der Kapitalakkumulation inhärent. Die kapitalistische Produktionsweise bringt die Krise hervor. Wir waren uns darüber immer bewusst und trotzdem hat sie uns überrascht. Die Linke hat sich seit dem Ende des Kalten Krieges, als der internationale Terrorismus zum neuen globalen Hauptfeind des Westens erkoren wurde, damit schwergetan, klare innen- und außenpolitische Positionen zu entwickeln: zum Beispiel zum Klimanotstand, zum Aufstieg des Rechtspopulismus, zu den Souveränitätsbewegungen im Fahrwasser der Subprimekrise 2008, zur Covid-Pandemie, zum Ukrainekrieg und auch gegenwärtig zur Krise im Nahen Osten. Die Krisen haben uns scheinbar unvorbereitet erwischt, so dass wir uns gezwungen sahen, zwischen zwei komplementären Übeln zu wählen: zwischen der interessengeleiteten Vernunft liberaler Institutionen und der Unvernunft faschistischer Kräfte und Bewegungen. Es ist offenkundig, dass es der Linken nicht gelungen ist, strategisch auf die permanente Krise zu reagieren. Sie hatte Schwierigkeiten, einen von den beiden falschen Alternativen unabhängigen Standpunkt zu beziehen, der nicht notwendigerweise äquidistant zu diesen hätte sein müssen. Da die vorherrschende, liberale Form der Vernunft mitverantwortlich für die Krise ist und die unter den Massen verbreiteten Alternativen zunehmend reaktionär oder wahnhaft sind, müssen wir uns fragen, an welche Vernunft der Sozialismus (der einst »wissenschaftlich« zu sein beanspruchte) noch appellieren kann.
- Es müssen grundsätzlich zwei Fehler vermieden werden: Einerseits darf man nicht in jedes Ereignis einen Bruch mit der vorherrschenden liberalen Ordnung hineinlesen oder darauf vertrauen, dass die Anpassung an die Neuzusammensetzung der Klassen innerhalb der kapitalistischen Entwicklung (trotz des Auftretens kleinbürgerlicher oder offen faschistischer Elemente) uns aus der Sackgasse herauskatapultieren, in der wir stecken. Solche hyperdynamischen Lesarten der aktuellen historischen Phase und damit verbundene Hoffnungen sind unberechtigt. Andererseits dürfen wir auch nicht zu stark von der realgeschichtlichen Konstellation abstrahieren und dadurch Hinweise auf Verschiebungen zwischen den Klassenkräften übersehen. Eine solche statische Deutung der Historie führte dazu, dass wir in den etablierten theoretischen und organisatorischen Formen vergangener Klassenkämpfe verharrten, obwohl sie der heutigen Situation nicht mehr entsprechen.
- Beide Fehler gehen auf die objektive Schwierigkeit der Arbeiterklasse zurück, lokal und global ihre Einheit wiederherzustellen, um dem aggressiven wie multipolaren Handeln der Bourgeoisie Paroli zu bieten. Damit ist nicht gesagt, dass der Klassenkampf still gestellt worden sei – das Gegenteil ist der Fall. Die Kämpfe zur Erhöhung des Mindestlohns oder um Reformen der Logistik und bei den Lieferdiensten (ein paradigmatischer Fall einer Synthese entwickelter Technologie und »archaischer« Arbeitsformen) im Westen, die Konflikte in China, Indien, Südamerika und insgesamt im Globalen Süden ergeben ein Gesamtbild wachsender Instabilität. Die historische Niederlage der Arbeiterklasse und die Zerschlagung der Gewerkschaften in den letzten Jahrzehnten im Westen haben sich negativ auf die internationalen Klassenbeziehungen ausgewirkt. Die Ausweitung imperialistischer Politik konnte nicht verhindert werden. Dazu kommt, dass die mediale Berichterstattung gefährlich »einvernehmlich« ausfällt. Das Mainstreaming der Medien und der »embedded journalism« verringern zunehmend den Raum für Opposition.
- In einer marxistischen Analyse muss zunächst zwischen Erscheinungen und Oberflächenphänomenen der Krise (dem Empirisch-Faktischen, Zufälligen) und ihrem systemischen Wesen differenziert werden. Das Wesen der Krise entspringt der Transformation der Produktionsweise, in der wir leben. Diese Transformationen erschüttern unsere Leben, verändern uns erst langsam und dann abrupt, bis sie jede Stabilität unterminieren: »Alles Ständische und Stehende verdampft.«[1] Aber gleichzeitig wandelt sich alles, damit eines sich nie ändert: Die Profite müssen für jene stimmen, die uns beim Tanz auf dem Vulkan führen.
- Die kapitalistische Produktionsweise bringt die Krise hervor, weil ihr Marx zufolge mehrere Widersprüche innewohnen, die im Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit angelegt sind. Der Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit ist mit dem Widerspruch zwischen Kapital und Natur verbunden. Beide Widersprüche sind nicht identisch, bedingen sich aber wechselseitig. Der Gesamtproduktionsprozess des Kapitals beinhaltet einen Prozess ökonomischer Rationalisierung, das heißt die systematische Steigerung von Produktivität und Ausbeutung von Menschen und natürlichen Ressourcen. Unter der Herrschaft des Kapitals verlieren Individuen, Gesellschaften und Spezies, die nicht als Arbeitskräfte oder Rohstoffe für die Produktion von Profit geboren wurden, ihre Autonomie und Unabhängigkeit. Die dem Kapital innewohnende politische Macht zwingt sie in seine Schemata, passt sie seinen eigenen Zielen an.
- Aus demselben Grund geht der Akkumulationsprozess des Kapitals mit konstantem Fortschritt im Sinne einer objektiven technologischen und wissenschaftlichen Entwicklung einher. Dieser wird allerdings durch den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit entstellt. Unter den gegenwärtigen Bedingungen trägt der Prozess der Produktivkraftentwicklung daher nicht dazu bei, die Menschheit von den Limitierungen der Traditionen und Natur zu emanzipieren. Stattdessen ist die Produktivkraftentwicklung ein Instrument zur Versklavung der Arbeiterklasse und nicht-menschlicher Spezies.
- Die Dialektik, wie sie dem Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit inhärent ist und von Marx dargelegt worden ist, ist von zentraler Bedeutung für das Verständnis der aktuellen Konstellation. Die Klimakrise zeigt, dass eine unendliche kapitalistische Entwicklung unmöglich ist. Denn sie folgt ihrer eigenen, destruktiven Rationalität (der Zerstörung und der Restrukturierung der Produktionsmittel auf neuer Stufenleiter). Diese produziert, angetrieben allein vom Profitmechanismus, ökologische Desaster, je mehr die Macht der kapitalistischen Gesellschaft als Ganzer zunimmt. »Green Washing«, die Fixierung auf individuellen Konsum oder Degrowth sind unter diesen Umständen ideologische Schranken, die die liberale und systemkritische Linke daran hindern, die Verankerung der ökologischen Krise in der Produktionsweise zu erkennen. In ähnlicher Weise verstellen die Glorifizierung und die Dämonisierung Künstlicher Intelligenz, dass wir mit der technischen Reproduzierbarkeit der intellektuellen Arbeit in Form von Mechanisierung und Automatisierung konfrontiert sind, die die kapitalistische Entwicklung schon immer vorangetrieben haben. Das Nachdenken über die Phantasmagorien, die diese Prozesse begleiten, und über die philosophischen Fragen, was noch »wirklich menschlich«, was »echte Kreativität« sei, sogar die Reflexion über die wichtigere Angelegenheit der »intellektuellen« Eigentumsrechte tendiert dazu, uns von den wesentlichen Dingen abzulenken: nämlich von der anhaltenden Aneignung des Mehrwerts, von der Ausdehnung der Taylorisierung in die sogenannte Konsumtionssphäre und »Freizeit«, die sich in wachsenden Maße auch in Standorte der Produktion verwandeln. Wir sollten schließlich auch nicht vergessen, dass der »digitale« und »immaterielle« Kampf weiterhin an ein physisches Netzwerk von Medien und Energie gekoppelt ist, das Teil der scharfen Auseinandersetzungen um Ressourcen und dementsprechend auch Gegenstand der bereits erwähnten geopolitischen Instabilität ist. Die drohende intellektuelle Massenarbeitslosigkeit wird wieder eine Reihe von Theorien und Ideologien (»Überwachungskapitalismus«, »kognitiver Kapitalismus« etc.) mit sich bringen, die nicht dazu beitragen, den Klassencharakter der gegenwärtigen Konflikte wirklich verständlich zu machen.
- Wir müssen uns Marx’ und Engels’ Sprache der Widersprüche wieder aneignen. Die Jahre des postmodernen Antihegelianismus – als versucht wurde, Sprache zu »dekonstruieren«, »andere« Sichtweisen und »verschiedene« Interpretationen einzunehmen usw. – haben die Arbeiterklasse daran gehindert einzusehen, dass sich der politische Kampf um ihre Emanzipation in der Produktion abspielt. Dort gibt es keine Kompromisslösungen. Dort ist der Antagonismus schonungslos und total: Entweder wird die Arbeit von der Arbeiterklasse selbst bestimmt, dann entscheidet sie auch über den Zweck der Arbeit und die Produktionsweise. Oder die Arbeit bleibt fremdbestimmt und ihre Ergebnisse sind Profite für Wenige und Elend sowie politische Machtlosigkeit für die Vielen. Diesem Widerspruch kann man nicht aus dem Weg gehen. Er kann nur durch den politischen Kampf gelöst werden, in dem das Privateigentum an den Produktionsmitteln zersetzt wird.
- Es handelt sich um einen objektiven Widerspruch (nicht nur um einen »Gegensatz« oder ein allgemeines Aufeinanderprallen von Kräften), weil beide Parteien unterschiedlichen Rationalitäten folgen, verschiedenen Ideen der Gesellschaft und des gesellschaftlichen Naturverhältnisses. Die Rationalitäten der sozialen Projekte stehen im Konflikt miteinander und eine Vermittlung ist unmöglich: Wenn wir nicht frei sind, unseren Arbeitstag zu organisieren und die Früchte der Erde in einer Umwelt ohne Zerstörung und Ausbeutung zu genießen, sind wir automatisch Knechte, wir werden ärmer und ärmer und führen in einem apokalyptischen Endzeitszenario Krieg gegeneinander, das an Walter Benjamins Engel der Geschichte erinnert. Fortschritt ist nichts als ein Trümmerhaufen, der sich vor uns auftürmt.[2]
- Wenn das politische Problem der antagonistischen Klassen und ihrer entsprechenden Rationalitäten in Vergessenheit gerät, werden alle anderen Probleme verzerrt wahrgenommen. Denn der Kapitalismus nimmt gegenwärtig Einfluss auf alle sozialen, familiären, psychologischen Beziehungen, auf Kultur und Traditionen. Nichts entgeht seiner Herrschaft, alles wird seinem Bewegungsgesetz entsprechend transformiert. Wenn wir vergessen, dass das politische Problem in den Produktionsverhältnissen – in der Fremd- oder Selbstbestimmung der Arbeiterklasse – wurzelt, neigen wir dazu, die Ursachen anderswo zu suchen: zum Beispiel in den »Produktivkräften«, deren Entwicklung der Akkumulation von Kapital wie ein Schatten folgt. Aber die Technik und ihre Entwicklung sind eine Wirkung, keine Ursache. Man könnte argumentieren, dass die Technologien ein Problem sind, nur weil die Folgen ihrer Nutzung dem »Profitmotiv« entspringen. Aber wenn wir nicht wirklich verstehen, was sich hinter dem Profitmotiv verbirgt, woher es kommt, könnten wir es auf die Gier Einzelner reduzieren. Dabei geht es aus wissenschaftlich feststellbaren Gesetzen hervor, aus dem Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit und den Metamorphosen der Wertform.
Die Wiederentdeckung des »dialektischen« Materialismus und des »wissenschaftlichen« Sozialismus
- Der Wiederaufbau von Klassenmacht von unten auf globaler und nationaler Ebene wird durch die gegenwärtigen Kriege sowie durch die ökologische und technologische Krise zunehmend erschwert. Eine breite Bewegung gegen Krieg und Klimakrise, die auch aktiv gegen den Missbrauch der Künstlichen Intelligenz für den privaten Profit werden sollte, könnte ein erster Schritt aus der »Defensive« sein, in der sich der Klassenkampf derzeit befindet. Die kritische Theorie muss sich zudem Geltung verschaffen, indem sie einen Bruch zwischen reaktionären Positionen und solchen markiert, die den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit ins Zentrum stellen. Die Unfähigkeit, diesen Bruch zu markieren, ist auch ein Grund für den politischen Rechtsruck in Richtung irrationaler, populistischer und verschwörungstheoretischer Positionen. Um diesen etwas entgegenzusetzen, muss der antispeziesistische Ökosozialismus zweierlei tun: Er muss das Projekt einer technokratischen Rationalität des Kapitals bekämpfen, ohne gegenüber dem Abdriften in Technikfeindlichkeit, idyllische Utopien und in romantische Formen der Opposition nachzugeben, die gefährliche Schnittmengen mit der reaktionären Rechten aufweisen. Es mag dreißig Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion archaisch und veraltet erscheinen, Begriffe wie »wissenschaftlicher Sozialismus« oder »dialektischer Materialismus« wieder hervorzuholen. Gleichzeitig gibt es keinen Weg daran vorbei, an verloren gegangene Bestände strategisch wieder anzuknüpfen. Beide Begriffe verkörpern ein Verständnis von Sozialismus, in dem Wissenschaft und Materialismus essenziell sind. Es geht um eine andere Art des Erkennens und der Gestaltung der Welt, in denen die Solidarität zwischen den Menschen auch eine Versöhnung mit ihrer Zugehörigkeit zur Natur einschließt (ohne in Mystizismus, faschistische oder New-Age-Regressionen zu verfallen).
- Mit dem Konzept des »metabolischen Bruchs« zeigt der US-Soziologe John Bellamy Foster, dass Marx auf ein nicht-destruktives Verhältnis zwischen menschlicher Gesellschaft und Natur orientiert hat. Der späte Engels erkannte bereits an, dass sich die Natur für jeden menschlichen Sieg über sie an uns »rächt«[3], um die Konsequenzen eines spiritualistischen und patriarchalen Sozialismus-Verständnisses zu kritisieren, das es abzulegen gilt. Die Natur nimmt an uns Rache, weil wir sie von außen als Herren mit einer idealistischen und verächtlichen Haltung zu beherrschen trachten. Der Materialismus bietet uns eine demütigere und einheitliche Sicht auf das Leben an. Es lassen sich auch pantheistische und vitalistische Spuren, sogar Rückstände der romantischen Naturphilosophie in diesem Materialismus finden. Aber der Grund dafür ist nachvollziehbar. Es war notwendig, jedwede mechanistische Interpretation der Natur und der Gesellschaft, jegliche Elemente von Weltanschauungen zu vermeiden, die dem Projekt einer Emanzipation im Weg standen. In einer Welt, die scheinbar nur von physikalischen, chemischen und biologischen Gesetzen regiert wird, gäbe es keinen Platz für ein selbstbewusstes Subjekt, das sich selbst seine Ziele setzt. Jede Bewegung in der Natur müsste von außen induziert werden. In einer solchen naturalistisch-deterministischen Welt ergäbe es auch keinen Sinn, moralisch oder politisch danach zu fragen, was wir tun »sollten«, weil alle Handlungen von blinden Naturgesetzen bestimmt wären. Wir wären dann Automaten, die auf Stimuli reagierten. Eine solche Sichtweise entspricht genau der Konzeption des Arbeiters als Automaten, dem Anhängsel der Maschine, dem Arbeiter als Roboter ohne eigene Handlungsfähigkeit (»agency of its own«) – man wäre wieder zur ursprünglichen Bedeutung des Worts »Roboter« zurückgekehrt, das vom Tschechischen »robota« abstammt und »Zwangsarbeit« heißt.
- Der Hegemonie der liberalen Linken kann man nur begegnen, indem man ihren Idealismus angreift und ihre Feindseligkeit gegenüber der Arbeiterklasse offenlegt. Als Engels und Lenin von der Natur als »sich bewegende Materie«[4] sprachen, war damit auch die menschliche Gesellschaft als eine komplexe Struktur gemeint, die zwar von inneren Konflikten angetrieben wird, aber zugleich zur politischen Selbstbestimmung fähig ist. Die Selbstbewegung der Materie bedeutet hier, dass sich die Arbeiterklasse – durch die Selbsterkenntnis als »Klasse«, ihre Vereinigung und die Zerstörung des Käfigs, in dem sie sitzt – als Klasse materiell konstituieren, zum Subjekt ihres Handelns werden und durch ihre Selbstbefreiung die gesamte Gesellschaft vom Joch des Kapitals befreien kann. Das paradoxe, dialektische, wenn auch bisher nicht verwirklichte Ziel der Arbeiterklasse ist es, sich als Klasse zu konstituieren, um sich als Klasse abzuschaffen. Das ist auch der Grund, warum liberale Identitätspolitik die Dynamik der Klasse nicht verstehen kann: Die Klasse ist keine Identität, sondern der Prozess ihrer Selbstabschaffung.
- Die Wissenschaft ist essenziell, weil sie uns erlaubt, die destruktiven Folgen des gegenwärtigen Wirtschaftssystems zu verstehen und die Maßnahmen zu entwickeln, die wir erreichen müssen, um die Katastrophe zu verhindern. Sie kann uns außerdem dabei helfen, die politischen Ziele zu formulieren, um den gegenwärtigen Zustand aufzuheben. Solange die Massen das Objekt der politischen Entscheidungen sind, kann der Zweck der Umweltbewegung nur reformistisch oder bloßes Greenwashing sein, das die Interessen und die Macht der herrschenden Klasse über die Arbeit nicht unterminiert. Der »Zweck« der Praxis wird immer von einem politischen Subjekt gesetzt, das selbstbestimmt handelt und über die Richtung entscheidet, in die es gehen will. Wie das Subjekt seine Selbstbestimmung ausübt, welche Beschränkungen und Zwänge es akzeptiert und welche notwendig überwunden werden müssen, kann nicht von der heutigen Wissenschaft vorweggenommen werden. Nur die politische Wissenschaft oder die Politik als Wissenschaft kann diese Antworten geben. Wissenschaft tendiert als intellektuelle Arbeit im Kapitalismus dazu, wie Adorno und Horkheimer in der »Dialektik der Aufklärung« schreiben, sich als Produktivkraft von der Gesellschaft abzulösen und unabhängig von der demokratischen Diskussion ihrer Zwecke zu werden. Faschistische Irrationalismen werden von diesem Abnabelungsprozess der Kultur inspiriert. Es ist deshalb unerlässlich, zwischen der Kritik der Subsumption der Wissenschaft unter das Kapital und der irrationalen Kritik der Wissenschaft als solcher klar und deutlich zu unterscheiden.
- Die Wissenschaft ist entscheidend für ein materialistisches Gesellschafts- und Naturverständnis. Aber sie kann nicht die bewusste politische Organisation des Kampfes für die Befreiung der Menschheit ersetzen. Unsere Selbstbestimmung als »Menschheit« bezeichnet die Emanzipation von den Grenzen, die uns sowohl die Tradition als auch das Kapital vererbt haben. Wie werden wir zur »Menschheit«? Wie können wir zu einer horizontalen globalen Gesellschaft werden, die auf Solidarität statt auf Konflikt gründet? Dies sind keine ausschließlich technisch-wissenschaftlichen Fragen. Die Wissenschaft wird vom politischen Kampf lernen, wie weit das Potential der Menschheit reicht. Die Antwort wird sich nicht in unserer Natur, Kultur, Biologie oder Tradition finden lassen, sondern in unseren Beziehungen, in denen wir unseren Austausch kreativ produzieren.
- Die Wissenschaft wird aber auch gebraucht, um die Kontinuitäten zwischen der menschlichen und anderen Spezies auf dem Planeten neu zu denken und zu gestalten. In diesem Sinne ist sie ein Eckpfeiler eines materialistischen und revolutionären Verständnisses des Lebens. Heute werden unsere Ansichten von den gegenwärtigen Existenzbedingungen begrenzt. Die Wissenschaft kann nicht so weit gehen, dass sie politisch mit der aktuellen Sichtweise auf die nichtmenschliche Natur bricht. Die Verhaltensforschung kämpft immer noch damit, sich vom mechanistischen Paradigma zu lösen, sich von einem verdinglichten Blick auf die Tiere freizumachen. Die Biologie in ihrer heutigen Form ist zwar notwendig, um dem Anthropomorphismus und allen anderen mystischen und naiven Illusionen einer »Einheit« mit der Natur entgegenzuwirken. Aber auf der anderen Seite dient sie auch den Interessen des Kapitals und verstellt die Einrichtung einer anderen Beziehung zwischen Menschen und nicht-menschlichen Wesen. Die beiden Extreme – die biopolitische Technikfeindlichkeit und die unkritische Begeisterung für die Technologie des Posthumanismus – sollten vermieden werden.
- Wir müssen unsere politischen Ziele formulieren, indem wir die menschliche und nicht-menschliche Naturen als Relationen denken. Relationen, und das ist entscheidend, dürfen aber nicht subjektivistisch verstanden werden, als individuelles Verhalten oder individuelle Eigenschaften. Ein materialistischer Sozialismus setzt nicht darauf, kleine ökologische Communities aufzubauen oder »revolutionäre« Lebensstile zu verbreiten. Das ist keine Absage an vegane oder andere ökologische Konsumformen. Diese sollten als Antizipationen einer möglichen Zukunft, als Kräfte und Energien gegen den Konformismus und die Akzeptanz des Status quo gefördert werden. In Südamerika fungiert zum Beispiel der »veganismo popular« als Gegengewicht zum bürgerlich-konsumistischen Veganismus. Dennoch verwandeln sich diese Herangehensweisen in Fallen und idealistische Illusionen, wenn sie nicht mit der Überzeugung betrieben werden, dass nur eine Umkehr der Produktionsverhältnisse eine neue Lebensweise hervorbringen kann. Eine neue Beziehung zur Natur wird kollektiv und sozial hergestellt oder gar nicht. Eine solche politische Revolution setzt eine Neuorientierung der produktiven Basis voraus, die kollektive Eigentumsformen ermöglicht. Die Verhältnisse zwischen den Menschen und zwischen den Menschen und Tieren sind die Resultate der Dialektik zwischen der Praxis sozialer Klassen und der verdinglichten Tiefenstruktur der Gesellschaft. Handeln im politischen Sinne meint nicht nur, die Grenzen des individuellen Handelns aufzuheben – gemäß der liberalen »negativen Freiheit« als Freiheit von den Zwängen, die der Staat dem Individuum auferlegt. Politische Praxis bedeutet, neue Strukturen zu schaffen, in denen das Handeln des Individuums entsprechend aller seiner Potentiale verstärkt wird. Diese Freiheit ist demokratisch und eine sozialistische »positive Freiheit« als Freiheit von den Zwängen ökonomischer Ausbeutung.
- Der Materialismus erschöpft sich, wie Marx in seinen »Thesen über Feuerbach« schreibt, nicht darin, das Sein bloß anzuschauen.[5] Der Materialismus bezeichnet die praktische Tätigkeit der Interaktion und die Veränderung der Wirklichkeit. Das Bewusstsein der Menschheit ist nicht nur durch einen patriarchalen Spiritualismus bestimmt, sondern auch durch einen begrenzten Blick auf die Natur. Wir können nicht frei mit nicht-menschlichen Tieren in Beziehung treten, weil wir durch das praktische Interesse an ihrer Kontrolle, Unterdrückung und Ausbeutung konditioniert sind. Eine materialistische Anschauung des Lebens wiederzuentdecken heißt letztlich, die Grenzen zwischen Menschen und Nicht-Menschen dialektisch zu denken und zu überschreiten.
Das Absterben des Mensch-Seins und des Staates durch die Selbstaufhebung der Klasse
- Wir sind Tiere und nur, wenn wir diese Tatsache anerkennen, können wir die Kontinuität des Seins wiederentdecken und den Riss im Stoffwechsel mit der Natur heilen. Wir sind weder Herrscher noch Außerirdische. Unser Tier-Sein kommt zuallererst in der Art und Weise zum Ausdruck, wie wir unsere Gesellschaft organisieren und sie mittels Vernunft und Wissenschaft steuern – in einer Gemeinschaft, die auf Gleichheit und Solidarität basiert. Der Grad, zu dem wir in der Lage sind, dieses Zusammen-Sein zu realisieren, wird vom Niveau der Universalität bestimmt, das wir erreichen. Diese Universalität erfasst und überwindet alle Formen der Ausbeutung und Herrschaft, die unsere Gesellschaft aus ihrer prämodernen und kapitalistischen Vergangenheit geerbt hat.
- Es ist offenkundig, dass die Grenze der menschlichen Universalität in unserer Beziehung zur nicht-menschlichen Natur erreicht wird. Inwieweit können wir die nicht-menschliche Natur in unserem kollektiven Projekt der Emanzipation von der Ausbeutung willkommen heißen? Wie weit kann das menschliche Tier zu einem universellen Tier werden? Ein Tier, das immer mehr kann, das potentiell alles kann, aber das nicht alles macht – das auf Herrschaft, Zerstörung und Manipulation verzichtet. Ein Tier, das das Anders-Sein in sein Emanzipationsprojekt aufnimmt, es koexistieren und zusammen mit der eigenen Freiheit gedeihen lässt. Universalität beziehungsweise Allgemeinheit meint also nicht die Absorption des Partikularen, sondern dessen Erlösung.
- Die marxsche Kritik des bürgerlichen Universalismus darf nicht dazu führen, die moderne historische Tendenz zur Demokratisierung der Gesellschaft zu leugnen. Allerdings muss die Demokratie die ihr adäquate materielle Basis erhalten. Es gibt keinen Widerspruch zwischen Bürger- und sozialen Rechten: Alle unterdrückten Subjektivitäten können einen adäquaten Raum zur Selbstverwirklichung nur in einer Gesellschaft finden, die sich ausgehend von der Produktionssphäre selbst organisiert. Ohne diesen materiellen Universalismus (ohne eine Produktion, die den gesellschaftlichen Interessen verpflichtet ist) gibt es keine Befreiung. Das primäre Ziel der Arbeiterselbstbestimmung ist die Entfernung aller Einschränkungen der Autonomie durch das Kapital. Diese Einschränkungen sind auch zugleich Hindernisse für die Konstitution der Menschheit als freies Subjekt der Selbstbestimmung. In diesem Sinne sind die Kämpfe von der Logistik bis zum Kampf gegen die übermäßige Macht der High-Tech-Industrien keine reaktionären Kämpfe für die Rückkehr zu einer früheren Produktionsphase, sondern Kämpfe für die Aneignung der modernsten Form, die Menschheit zu verbinden und die Ergebnisse kollektiver Arbeit zu teilen. Es ist notwendig, die repressive Vergesellschaftung in eine emanzipatorische zu verwandeln. Der Widerstand traditioneller Gemeinschaften gegen das Finanzkapital oder von Kräften, die von der aktuellen Entwicklungsphase des Kapitalismus überwunden worden sind, wird bestehen bleiben (man schaue sich nur einmal die Bauernproteste in Europa an). In diesen Fällen müssen wir Engels’ Rat folgen.[6] Wir müssen einen unermüdlichen Dialog führen, um diejenigen, die konservativ an der »guten alten Zeit« festhalten, davon zu überzeugen, dass nur Zusammenarbeit und produktive Zentralisierung uns endgültig aus der Krise führen können. Gleichwohl ist klar, dass die aktuellen Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen und die politische Hegemonie der Rechten ein solches Vorgehen nicht begünstigen.
- Engels schreibt, dass die Menschheit sich als »Menschheit« zum ersten Mal im Sozialismus konstituiert.[7] Sie wird mit einem großen ethisch-politischen Problem konfrontiert sein: Sie muss sicherstellen, dass unsere Beziehung zum Anderen in all ihren Formen so gleich, solidarisch und respektvoll wie nur möglich gestaltet wird. Erst wenn die »Menschheit« durch eine schließlich freie Wissenschaft und Praxis sich verwirklicht, wird sie entdecken, wie porös und labil die Grenzen des Mensch-Seins sind. Parallel zum Absterben des Staates und der Selbstaufhebung der Klasse wird auch die Menschheit als souveränes Subjekt und Tyrann des Lebens absterben.
Marco Maurizi
Ein Artikel aus dem Zirkular “Hammel & Sittich”, Ausgabe 6, Januar 2025