Wollte man sämtliche Städte Amerikas in einen Sack schütten und die Häuser wie Lottospielmarken durcheinanderbeuteln, so wären hernach sogar die Bürgermeister außerstande, das vormals Ihre herauszuklauben.
Es gibt aber die Stadt Chicago, und diese eine Stadt unterscheidet sich von allen anderen – nicht durch ihre Gebäude, nicht durch die Leute, sondern durch eine ganz besondere, nur Chicago eigene Ausrichtung der Energien.
In New York ist vieles bloße Dekoration; äußere Aufmachung.
Der Weiße Weg – nicht als Aufmachung; Coney-Island – Aufmachung; selbst das siebenundfünfzig Stock hohe Woolworth Building – bloße Augenauswischerei für Provinzler und Ausländer.
In Chicago hingegen wird einem nichts vorgemacht.
Die Schaustücke von Wolkenkratzervierteln sind hier spärlicher und stehen abgedrängt an das Ufer der Fabrikkolosse.
Chicago schämt sich nicht seiner Fabriken und schiebt sie nicht in die Vororte ab. Ohne Brot hältst du nicht durch! Und so demonstriert McCormick seine Landmaschinenfabriken sichtbarer und stolzer als Paris seine Kathedrale von Notre-Dame.
Ohne Fleisch hältst du nicht durch; hier gibt’s kein Kokettieren mit dem Vegetariertum! Und so liegt mitten im Zentrum das blutige Herz der Stadt: die Schlachthöfe.
Diese Schlachthöfe von Chicago boten mir eines der abstoßendsten Schauspiele meines Lebens. Man rollt im Ford-Wagen über eine sehr lange Holzbrücke; darunter sieht man Tausend von Hürden gedrängt voll mit Rindern, Ochsen, Kälbern, Schafen und Schweinen, die in Massen von überallher zusammengeströmt sind. Dazu hört man wildes Quieken, Blöken und Brüllen, unwiederholbar bis zum Weltuntergang, wo Felsgebirge in Bewegung geraten und Menschen wie Tiere zermalmen werden. Selbst durch zugepreßte Nasenlöcher dringt säuerlicher Gestank von Ochsenurin und Exkrementen des Viehs, dessen Millionenmasse sich in ein Dutzend Arten aufgegliedert.
Die wirkliche oder eingebildete Ausdünstung einer ganzen Meeresspringflut von Blut steigt einem schwindelerregend zu Kopfe.
Fliegen von unterschiedlichstem Kaliber schwirren aus Schmutzpfützen auf uns setzen sich aufs Auge einer Kuh nieder oder auf das unsre.
Lange Brettergänge entführen die widerstrebende Herde.
Wenn die Schafböcke störrisch sind, übernimmt ein dressierter Ziegenbock die Führung.
Dieses Korridorsystem endet dort, wo die Messer der Saustecher und Ochsenschlächter beginnen.
Eine hakenbestückte Maschine hebt die kreisenden Schweine am zappelnden Bein hoch und schleudert sie aufs Fließband, wo sie, mit den Beinen nach oben, an dem Irländer oder Neger vorbeigleiten, der ihnen sein Messer in die Kehle stößt. Jeder dieser Männer müsse täglich einige Tausend Schweine abstechen, erklärt rühmend der Schlachthauscicerone.
Hier noch ein Gequieke und Geröchel – und am andern Ende der Fabrik plombiert man schon die Schinkenklötze, und in der Sonne blinken hell die Konservendosen, die als »Ausstoß« aus der Maschine hageln, um in den Kühlwagen verladen zu werden, der sie zum Güterexpreß und zum Transportdampfer befördert; rasch geht die Reise des Schinkens zu den Wurstereien und Garküchen der ganzen Welt.
Eine volle Viertelstunde fahren wir auf dem Betriebssteg einer einzigen Firma.
Aber von allen Seiten blicken uns die Firmenschilder von Dutzenden anderen Firmen entgegen:
Wilson!
Star!
Swift!
Hammond!
Armour!
Übrigens sind all diese Firmen, wiewohl das dem Gesetz widerspricht, in einem Trust vereint, und führend in diesem Trust ist »Armour«, nach dessen Umfang man die Kapazität des ganzen Konzernunternehmens ermessen kann.
»Armour« beschäftigt mehr als 100.000 Arbeiter; die Zahl der Angestellten wird auf zehn- bis fünfzehntausend geschätzt.
Der Gesamtwert der Investitionen dieser Gesellschaft beträgt 400 Millionen Dollar. Etwa 80.000 Aktienbesitzer sind an diesem Unternehmen beteiligt, sie hangen und bangen um das Wohlergehen der Firma und tanzen untertänig um deren Leitungsbosse herum.
Die Hälfte der Aktionäre sind Arbeiter – wohlgemerkt, nicht fünfzig Prozent der Aktien, sondern der Aktionäre sind gemeint. Aktien werden den Arbeitern auf Raten verkauft: Lohnabzug ein Dollar die Woche. Und dieser Besitzanteil bewirkt, daß die rückständigen Schlachhofarbeiter gegenwärtig einigermaßen firmentreu bleiben.
»Armour« ist stolz auf seine Leistungen.
Sechzig Prozent der amerikanischen Fleischproduktion und zehn Prozent der Weltproduktion werden allein von »Armour« geliefert. Die ganze Welt ißt »Armour«-Konserven.
Jedermann auf Erden kann sich durch sie einen Magenkatarrh anessen.
Während des Weltkrieges lieferte »Armour« seine Konserven bis in die vordersten Frontlinien, nur daß die Etiketten ausgewechselt und ein wenig vordatiert waren. Auf der Jagd nach Profitzuwachs raffte »Armour« vierjährige Eiervorräte zusammen und Fleischkonserven, die bereits das kriegsdienstpflichtige Alter von zwanzig Jahren aufwiesen!
Naive Menschen, die sich für die Hauptstadt der Vereinigten Staaten interessieren, reisen nach Washington. Leute, die mehr Erfahrung haben, besuchen lieber ein gewisses enges Gäßchen in New York: die Wallstreet, die Straße der Großbanken, die eigentliche Gebieterin im Lande.
Das ist richtiger und wohlfeiler als die Reise nach Washington. Hier – und nicht beim Präsidenten Coolidge, sollte das Ausland seine Gesandten ansiedeln. Unter der Wallstreet verläuft der Stollen der Untergrundbahn. Wollte man diesen Minengang eines Tages mit Dynamit laden und das ganze Gäßchen in drei Teufels Namen in die Luft sprengen – was würde da nicht alles hochgehen: die Kapitaleinlagenbücher, Namen und Seriennummern zahlloser Aktien, nicht zu vergessen die Ziffernkolonnen der Auslandsschulden.
Die Wallstreet ist erste Residenz am Platz, Residenz des amerikanischen Dollars. Chicago ist zweite Residenz, Residenz der Industrie. Darum ist’s gar nicht irrig, Chicago über Washington zu stellen. Die Schweinefleischfirma »Wilson« beeinflußt das Leben Amerikas keineswegs weniger als ihr Namensvetter Woodrow Wilson.
Die Existenz der großen Schlachthöfe hinterläßt ihre Spuren. Wer dort gearbeitet hat, wird entweder zum Vegetarier oder zum kaltblütigen Mörder, nachdem er sich an den amerikanischen Kriminalfilmen satt gesehen hat. Nicht von ungefähr ist Chicago die Stadt der Sensationsblutverbrechen und der Hochsitz der legendären Gangsterhäuptlinge.
Nicht von ungefähr stirbt in diesem Klima jeder vierte Säugling, ehe er das erste Lebensjahr erreicht hat.
Begreiflich, daß es gerade hier, bei der Anballung und Verelendung der Werktätigen, zu den heftigsten Widerstandsaktionen von ganz Amerika kommt.
Hier leben die Hauptkader der Arbeiterpartei Amerikas.
Hier ist der Sitz ihres Zentralkomitees.
Hier scheint ihr Zentralorgan, der »Daily Worker«.
Hierher richtet die Partei ihre Appelle, wenn es gilt, aus dem Reservoir von Hungerlöhnen notwendige Tausenddollarfonds zusammenzukratzen.
Aus Chicago dröhnt die Stimme der Partei, wenn es dem Außenminister Kellogg nahezulegen gilt, daß er zu Unrecht das Einwanderungsrecht der Vereinigten Staaten nur auf Diener des Dollars beschränke; daß Amerika nicht Privatdomäne eines Herrn Kellogg sei und daß früher oder später dem Kommunistischen Saklatvala wie anderen Abgesandten der internationalen Arbeiterklasse die Einreise bewilligt werden müsse.
Nicht erst heut und nicht erst gestern haben die Proleten von Chicago den revolutionären Weg betreten.
Majakowski, Wladimir. 1980[1925–26]. Meine Entdeckung Amerikas.
In: Wladimir Majakowski. Werke. Band IV.1.
Frankfurt: Suhrkamp. 182–185.