Gegen Stierkampf und Schlachthöfe

Zur speziesübergreifenden Solidarität und Kritik des Fleischkapitals bei Wladimir Majakowski

Am 23. Oktober 1924 schreibt der amtierende Volkskommissar für Bildung und Aufklärung der Sowjetunion, Anatoli Lunatscharski, einen Brief an den Rat für Volkswirtschaft. Sein Anliegen erscheint auf den ersten Blick unpolitischer Natur: Er bittet die zuständige Behörde darum, dass der Künstler Wladimir Majakowski trotz des verbreiteten Mangels an Wohnraum seine Bleibe behalten dürfe, auch wenn dieser sie für einen längeren Zeitraum nicht benötigen wird. Lunatscharskis Begründung: »Der Poet Majakowski geht als Korrespondent und zu Forschungszwecken ins Ausland.«[1]

Reisekader im Auftrag avantgardistisch-revolutionärer Kunst

Lunatscharskis Auftragsbeschreibung ist nicht ganz falsch. Ganz richtig ist sie aber auch nicht. Auf seinen bisherigen Trips in Richtung Westen hat Majakowski durchaus das Feld der europäischen Kunst erkundet und im Anschluss daran zu Hause darüber berichtet. Aber dabei ist es nicht geblieben. Der futuristisch-kommunistische Dichter ist auch als eine Art Emissär der sowjetischen Kunst und Kulturpolitik unterwegs.

Er knüpft Kontakte, kümmert sich um Übersetzungen und den Vertrieb seiner Werke, tritt öffentlich auf, rezitiert seine Gedichte und diskutiert vor Publikum aktuelle Probleme ästhetischer Theorie. In seiner Autobiografie »Ich selber«, die zugleich auch ein politisches Statement und Kunstwerk ist, stellt er seine Tätigkeiten auf Reisen salopp und etwas selbstironisch in die Tradition »der Troubadours und fahrenden Sänger«[2]. Präziser wäre es wohl zu sagen: Majakowski agitiert für seine Kunstauffassungen und den Aufbau des Sozialismus – und die Presse berichtet darüber. Zurück in Moskau verarbeitet er überdies seine Erfahrungen und Beobachtungen in Versen, deren Inhalt im kapitalistischen Westen auf geteiltes Echo stoßen.

In seinem kurzen Gedicht »Zweierlei Berlin« von 1924 stellt er etwa dem Deutschen, der schon kurz nach dem Ende des Ersten Weltkriegs wieder »nackenstark«[3] am Kurfürstendamm herumstiefele, das »Arbeiterreich/Berlin-Nord«[4] gegenüber. Letzteres, so prognostiziert Majakowski noch voller Zuversicht nach dem gescheiterten Hamburger Aufstand vom 23. Oktober 1923, sei auch der Ausgangspunkt für »ein besseres/drittes,/ein Rotes Berlin!«[5] der Zukunft.

1924 erscheint zudem Majakowskis Poem »150 Millionen« zu Ehren des revolutionären russischen Proletariats erstmals in deutscher Übersetzung – im Malik-Verlag. Zum Programm des Verlags gehört nicht nur Literatur aus der Sowjetunion. Er publiziert vor allem avantgardistische Kunst aus Deutschland, neben jeder Menge Literatur auch George Grosz’ Mappen satirischer Zeichnungen. Ihre Kritik an Reichswehr, Kirche und Imperialismus rufen in der Weimarer Republik wiederholt Zensur und Justiz auf den Plan. Der Gründer des Verlags, Wieland Herzfeld, tritt direkt nach ihrer Gründung am 30. Dezember 1918 ebenso wie Grosz der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) für kurze Zeit bei. Beide gehören außerdem dem Berliner Club Dada an. Es sind diese politischen und Künstlerkreise, in die Majakowski bei seinen Auslandsaufenthalten hineinwirkt.

Das tut er durchaus mit Erfolg. Der 1893 geborene Poet ist bereits Anfang der 1920er-Jahre auf dem Weg, daheim ein Popstar zu werden. Auch international avanciert er langsam zu einem der bekanntesten Vertreter der sowjetischen Avantgardekunst. Dementsprechend sind seine wiederholten Expeditionen, unter anderem nach Paris und Berlin, für die kulturpolitische Strahlkraft der Sowjetunion ebenfalls von Bedeutung.

Diese soll auch über Westeuropa hinaus reichen. Es ist also durchaus im Interesse des Volkskommissars Lunatscharski, Majakowski dabei zu unterstützen, dessen lang gehegtes Vorhaben einer Reise in die USA zu realisieren – und sei es nur durch einen Brief. Trotz ihrer wiederkehrenden Differenzen, etwa über den Umgang mit den Artefakten der klassischen Kunst oder über die Vereinbarkeit von Kunst und ihrer Anwendung bei der Produktion von Alltagsdingen, weiß Lunatscharski um Majakowskis aufrichtige politische Haltung und dessen künstlerische Fähigkeiten. Ihre Zusammenarbeit für den Aufbau des kulturellen Lebens der neuen Gesellschaft reicht bereits bis zur unmittelbaren Revolutionszeit zurück.

Zwischen Brooklyn Bridge und Wolkenkratzern

Majakowskis erster Versuch, den Atlantik zu überqueren, scheitert noch Ende 1924. Es gelingt ihm nicht, ein Einreisevisum für die USA zu bekommen. Im Juni des Folgejahres gelingt aber dann die Überfahrt. Mit sehr kurzen Zwischenstopps auf den Azoren und auf Kuba erreicht er am 8. Juli 1925 Veracruz an der Ostküste Mexikos. Von dort fährt er über Mexiko-Stadt nach Laredo, wo er am 27. Juli die Grenze übertritt. Wenige Tage später trifft er in New York ein. In den folgenden drei Monaten bereist er mehrere Großstädte zwischen der Ostküste und Chicago. Er trägt bei öffentlichen Veranstaltungen Auszüge aus seinen Arbeiten vor, gibt Interviews und vergnügt sich. Aus einer kurzen Beziehung geht eine Tochter hervor, die Majakowski nur wenige Male in seinem Leben sieht. Am 28. Oktober 1925 besteigt er einen Dampfer zurück nach Frankreich.

Die beiden großen Kunstprodukte jener Reise sind Majakowskis amerikanischer Gedichtzyklus und der Reisebericht »Meine Entdeckung Amerikas«[6] – seine erste längere Prosaarbeit. Einige der Gedichte werden bereits während seiner Abwesenheit in der Sowjetunion publiziert, andere erst nach seiner Rückkehr. Seine Erzählung erscheint 1926, also im Folgejahr. Sie fußt weitgehend nicht auf schriftlichen Originalquellen – Majakowski spricht und liest kein Englisch. Sie ist vielmehr eine Collage aus Gesprächen, Beobachtungen, Informationen aus zweiter Hand und Interpretationen. Man sollte sie also nicht als faktentreue Reportage lesen.

Der zentrale Gegenstand der Gedichtreihe und des Reiseberichts sind die Verhältnisse in den USA. Majakowski spart nicht mit Kritik an der Gesellschaft des aufstrebenden Hegemons unter den kapitalistischen Staaten jener Zeit. Paradigmatisch dafür ist sein Gedicht »Wolkenkratzer im Längsschnitt«[7]. Darin nutzt er das Bild eines Hochhauses, in dessen Stockwerken sich unterschiedliche Szenen des US-Alltagslebens abspielen, um diese anzuprangern und mit der frühen Sowjetgesellschaft als besserer Alternative zu kontrastieren. Bemerkenswert ist, dass er dabei auch die in jener Zeit weltweit führenden US-Fleischunternehmen stellvertretend für das US-Kapital kritisiert und ein Gespür für die Tiere zeigt. Im Restaurant des Wolkenkratzers ernähren sich, wenn der Gastbetrieb vorüber ist, die schwarzen Kellner von den Überresten auf den Tellern der reichen Menschen, die die Lokalität besuchen. Maus und Ratte müssen sich mit dem zufrieden geben, was die Bediensteten zurücklassen.

In der Rezeption der Amerikareise steht über alle politischen Grenzen hinweg Majakowskis Technikbegeisterung und seine Enttäuschung über die Form ihrer Nutzung im Mittelpunkt. Als Futurist setzt er große Hoffnungen in die Entwicklung der Produktivkräfte. Diese sind damals zweifellos in den USA am weitesten fortgeschritten. Sein Gedicht »Brooklyn-Brücke«[8], eine Lobpreisung des gleichnamigen Bauwerks in New York City, gilt als Inbegriff seiner Technikgläubigkeit. Aller Faszination zum Trotz zieht der Künstler aus seinem US-Aufenthalt dennoch einen für die dominierenden Majakowski-Interpretationen unerwarteten Schluss: Man könne die Technik »nicht glorifizieren«, sondern müsse »sie im Namen der humanitären Interessen meistern«[9]. Im futuristischen Universum jener Zeit keine unbedeutende Differenzierung.

Wider die Überausbeutung und Integration in den Amerikas

Die Gedichte und der Reisebericht des amerikanischen Zyklus drehen sich allerdings nicht nur um Majakowskis Einschätzung der Technologien und industriellen Erzeugnisse. Das Gedicht »Atlantischer Ozean« ist eine Ode an das Meer zwischen Europa und Amerika, an den »älteren Bruder/meiner Revolution«[10]. Es ist geradezu das Gegengewicht zur Technophilie und straft eine vereinseitigende Interpretation Lügen, nach der Majakowskis Kunst naturfeindlich sei. In »Black and white«[11] und in »Ich bin Zeuge«[12] thematisiert der Dichter die beklagenswerte Lage und die Unterdrückung der Schwarzen im prärevolutionären Kuba und der Indigenen in den USA. Beiden legt er nahe, sich den Kommunisten zuzuwenden und mit ihnen als Klasse zu kämpfen. Ähnliche Beobachtungen über die Überausbeutung ethnisierter Gruppen in den USA, wie z.B. der irischen Einwanderer, finden sich auch in Majakowskis Reisebericht.

Bemerkenswert sind zudem seine Anmerkungen zur Integration von Teilen der Arbeiterschaft in den Vereinigten Staaten, die zumindest rudimentär an Antonio Gramscis Einlassungen zum Amerikanismus, sprich an dessen Beobachtungen zur Entwicklung des kapitalistischen Akkumulations- und Gesellschaftsmodells nordamerikanischer Prägung im frühen 20. Jahrhundert erinnern. Majakowski erwähnt unter anderem »die klug bewerkstelligte Spaltung der Arbeiterklasse« in »bevorrechtete« und »gewöhnliche (…) Proleten, denen nach einer wohlorganisierten Tagesleistung nicht die Kraft übrigbleibt, die fürs Denken notwendig ist«, den »relativen Wohlstand des Werktätigen« und »die illusionäre Hoffnung auf künftigen Reichtum«[13]. Entsprechend ist der sowjetische Dichter sich der Sache der Revolution in den USA keineswegs sicher. Vielmehr rät er seinen Lesern: »Ich will mit meinen Aufzeichnungen im Vorgefühl der einst kommenden Auseinandersetzung allen dringend nahelegen, die schwachen und starken Seiten Amerikas einem gründlichen Studium zu unterziehen.«[14] Ein feinsinniger und retrospektiv kaum zu unterschätzender Hinweis für einen Künstler, dem – nicht gänzlich zu Unrecht – zeitlebens und posthum eine Neigung zum Hyperbolischen, das heißt zur bewussten Übertreibung nachgesagt worden ist.

Die amerikanischen Arbeiten beinhalten noch ein weiteres Element, das zumindest bisher in der westlichen Rezeption nahezu Anathema ist: Majakowskis Kritik am Umgang mit Tieren. Einer der sehr wenigen Hinweise findet sich in einer Publikation des österreichischen Autors und Literaturwissenschaftlers Hugo Huppert. Huppert lernt Majakowski Ende der 1920er-Jahre persönlich kennen. Später avanciert er zu dessen Übersetzer. Für die Übertragung ins Deutsche muss er die Arbeiten auch nachdichten. Huppert ist außerdem eine, vielleicht sogar die zentrale Figur im realsozialistischen Diskurs zum Werk und zur Person Majakowskis im deutschen Sprachraum. In seiner Kurzbiografie des Poeten aus dem Jahr 1965 für den seit 1945 in Westdeutschland angesiedelten Rowohlt Verlag berichtet Huppert nicht nur von »Majakowskis Tierliebe«[15]. Er erwähnt auch, dass der Künstler während seines Aufenthalts in Mexiko »entschieden für die Stiere Partei ergreift«[16].

»Rache für die hingemordeten Stierkameraden«

Hinter dieser Andeutung verbirgt sich eine von zwei Passagen aus »Die Entdeckung Amerikas«, Majakowskis 1926 publiziertem Reisebericht, in denen er Szenen der Tierausbeutung mit Abscheu beschreibt. Die erste, kürzere, auf die sich Huppert bezieht, spielt in einer Stierkampfarena in Mexiko, die Majakowski bei seiner Stippvisite besucht. Die zweite trägt sich im damaligen Zentrum der internationalen Fleischindustrie zu: in den Union Stock Yards von Chicago. Beiden ist gemeinsam, dass Majakowski die Tierausbeutung in einer Art Gesellschaftsbild des jeweiligen Landes verortet und ihre Kritik Teil einer weitergehenden sozialistischen Kultur- und Gesellschaftskritik ist.

Den Stierkampf in Mexiko skizziert er als ein rückwärtsgewandtes Unterhaltungsspektakel für das ganze Volk, ähnlich der heutigen Kulturindustrie des Sports. Die Klassenteilung ist zwar vor und in der Arena nicht zu übersehen: »Die Aristokratie sichert sich die teuren Plätze auf der Schattenseite, der Plebs sitzt in der prallen Sonne, wo es billiger ist.«[17] Aber kaum beginnt das Schauspiel, »fängt die Zuschauerrunde an, in Tollheit zu verfallen, alles mögliche runterzuschmeißen: (…) Huldigungsgaben für ihre Lieblinge«[18]. Oben und unten, Sorgen und Nöte scheinen vergessen.

»Beim Auftritt der Banderillos, die das Tier mit ihren Wurfpfeilen wild machen, und hernach, wenn der Stier blutüberströmt und wutentbrannt den Gäulen seine Hörner in den Bauch rammt und diese Gäule der Pikadore eine Weile mit hervorgequollenem Gedärm umhergaloppieren,« beobachtet Majakowski angewidert das Geschehen, »erreicht die wilde Verzückung des Publikums ihren Siedepunkt.«[19] In der vollendeten Beherrschung der Tiere zelebrieren die Menschen eine sie einigende unbarmherzige Überlegenheit, ein Ausdruck ebenso für die Verleugnung ihres Tier-Seins wie für ihre Unvernunft.

Majakowski verweigert sich der Eingemeindung in das falsche menschliche Kollektiv. Für ihn verlaufen die Grenzen nicht zwischen Mensch und Tier, sondern zwischen Unterdrückern und Unterdrückten. Wo er steht, daran lässt er keinen Zweifel. Die Speziesgrenze zugleich ignorierend und überschreitend stellt er sich an die Seite der Subalternen. Als eines der malträtierten Tiere einen Zuschauer in der ersten Reihe attackiert, der sich von der Tribüne in den Kampf eingemischt hat, gesteht er: »Ich empfand ein wahres Vergnügen, als der Stier seine Hörner dem Mann zwischen die Rippen stieß.«[20]

Majakowski schreckt nicht davor zurück, in diesem Angriff sogar eine rudimentäre Form gerichteten Handelns des Tiers auszumachen. Seine Wortwahl – hier und in der Folge – deutet zudem darauf hin, dass er das Töten des Tiers politisch-moralisch verurteilt. Schließlich evoziert sie auch eine Analogie zwischen Mensch und Stier. Für ihn handelt es sich um »Rache für die hingemordeten Stierkameraden«[21].

Dass »niemand« im Stadion dem verletzten Mann »Beachtung«[22] schenkt, erscheint Majakowski wiederum nur als konsequent. Der Zwischenfall gewährt ihm keine Atempause. Seine Anteilnahme am Leiden des Stiers lässt ihn »nicht mitansehen, wie dem Obermordgesellen der Degen gereicht wurde, damit er ihn dem Tier ins Herz stoße. Nur aus dem wahnwitzigen Gebrüll der Menge entnahm ich, daß nun alles vollbracht sei.«[23] Was bleibt ist die Weiterverarbeitung des geschundenen Leibs, um daraus noch Profit zu schlagen: »Unten warteten schon die Schinderknechte mit ihren blanken Messern auf Stierfell und den Fleischkoloß.«[24]

Während sich die leichenfleddernde Nachhut über die erlegte Beute hermacht, wiederholt Majakowski seine Positionierung an der Seite der geknechteten Kreatur in für seine Schreibkunst typischer Zuspitzung. »Ich bedauerte nur eines: Daß zwischen den Hörnern kein Maschinengewehr montiert werden konnte und die Stiere nicht gelernt hatten, die Angreifer mit MG-Garben zu empfangen.«[25] Einwände eines falschen Humanismus gegen sein hyperbolisches Fazit antizipiert er. Er begegnet ihnen vorab mit einer Gegenfrage: »Weshalb sollte man mit solch einer Menschheit Mitleid haben?«[26]

»Unwiederholbar bis zum Weltuntergang« – Chicagos Schlachthöfe

Die mexikanische Entertainmentinszenierung ruft in Majakowski Empathie und Solidarität mit den animalischen Verdammten der Erde hervor. Auch an anderen Stellen seines Werks sind solche Bekundungen deutlich vernehmbar, etwa im Gedicht »Gute Behandlung der Pferde«[27]. Ähnliches gilt für die Anerkennung der Tiere als Gefährten und ihrer Handlungsfähigkeit. Beides geht in »Die Entdeckung Amerikas« mit teils drastischen Schilderungen einher. Die Darstellung eines Besuchs in den Chicagoer Schlachthöfen fällt hingegen sachlicher aus – was aber an der Drastik des Dargestellten nichts ändert. Die Form ist rücksichtslos nüchtern wie der Inhalt. Die Verwandtschaft mit Upton Sinclairs Darstellung in »Der Dschungel«[28] drängt sich auf.

Für Majakowski ist das Fleischkapital ein Prisma, durch das er die kapitalistische Gesellschaft US-amerikanischer Prägung kritisiert. Er mokiert sich etwa über die Herrschaft eines Oligopols aus vier großen Unternehmen in den Chicagoer Stock Yards, die sich, »wiewohl das dem Gesetz widerspricht, in einem Trust vereint«[29] hätten. Diese dominierten nicht nur die weltweite Fleischproduktion und -distribution. Sie hätten auch »während des Weltkrieges (…) Konserven bis in die vordersten Frontlinien«[30] geliefert, um damit Geld zu verdienen.

Majakowski thematisiert ferner die Ausbeutungsbeziehungen in den Betrieben und wie diese aufrechterhalten werden. Zum einen berichtet er über die schrecklichen Arbeitsverhältnisse, denen insbesondere Schwarze und irische Einwanderer ausgesetzt seien. Zum anderen erläutert er, dass vor allem die »rückständigen Schlachthofarbeiter«[31] mit Zwangsbeteiligungen an den Firmen in Form von Aktien, die man ihnen anstelle des Lohns aushändige, an die Unternehmen gebunden würden. Dass »jedermann auf Erden«[32] sich durch den Konsum des produzierten Fleischs »einen Magenkatarrh anessen«[33] kann, gerät in diesem Gesamtbild fast schon zur Randnotiz.

»Das blutige Herz der Stadt«[34] habe Majakowski zufolge Chicago zur »zweiten Residenz« der USA, zur »Residenz der Industrie«[35] gemacht. Sie bilde zusammen mit der »Residenz des amerikanischen Dollars«, der »Wallstreet«[36], das eigentliche Machtzentrum des Landes. Nur »naive Menschen, die sich für die Hauptstadt der Vereinigten Staaten interessieren«, reisten »nach Washington«[37]. »Die Schweinefleischfirma ›Wilson‹«, so der sowjetische Poet, beeinflusse »das Leben Amerikas keineswegs weniger als ihr Namensvetter Woodrow Wilson«[38] – der von 1913 bis 1921 amtierende 28. US-Präsident.

In sein Bild der bürgerlichen US-Gesellschaft gehört schließlich auch das Innenleben der Schlachthöfe, die Tortur und das Sterben der Tiere. Die Schlachthöfe Chicagos »boten mir eines der abstoßendsten Schauspiele meines Lebens«[39], wie er in der Folge ausführlich und erschütternd plastisch beschreibt. Das »wilde Quieken, Blöken und Brüllen«, das man in den Union Stock Yards vernehmen könne, sei »unwiederholbar bis zum Weltuntergang, wo Felsgebirge in Bewegung geraten und Menschen wie Tiere zermalmen werden«[40]. Angesichts des Horrors bleiben für den sowjetischen Künstler nur zwei Optionen: »Wer dort gearbeitet hat, wird entweder zum Vegetarier oder zum kaltblütigen Mörder.«[41]

Historische Mission unerfüllt

Zurück in der Sowjetunion schließt der Künstler nicht nur die Arbeit an Lyrik und Prosa seines amerikanischen Zyklus ab. Wenige Stunden nach seiner Rückkehr nach Moskau Ende November 1925 gibt er bereits der Leningrader Abendzeitung ein Interview. Darin bezeichnet er seinen Amerika-Aufenthalt aufgrund eines »Hörerkreises von anderthalbtausend Leuten im Verlaufe einiger Wochen« als »Erfolg«[42]. Und er fügt ohne Umschweife hinzu: »Ich denke, meine Vorträge hatten außer der literarischen auch eine Bedeutung aus Sicht der Revolution«[43] – so wie er und sein Förderer Volkskommissar Lunatscharski es vor seiner Abreise beabsichtigt haben.

Noch im Dezember tritt Majakowski bei zwei Veranstaltungen im überfüllten Großen Saal des Polytechnischen Museums der sowjetischen Hauptstadt auf. Auf dem Plakat für die Performances mit dem Titel »I. Vortrag Meine Entdeckung Amerikas«[44] und »II. Rezitation von Versen über Mexiko und die Vereinten Staaten« werden auch Themen der Abende angekündigt. Darunter: »Stierkampf« und »Schlachthäuser«[45].

Majakowskis Ausführungen sind fast 100 Jahre alt. An Aktualität haben sie wenig eingebüßt. Zwar gibt es erfreulicherweise Staaten, in denen der Stierkampf mittlerweile verboten ist – zuletzt hat Kolumbien ein Ende dieser Art Sportunkultur für das Jahr 2027 angekündigt.[46] In anderen erfreut er sich aber weiter großer Beliebtheit unter Herrschenden und Subalternen. Die EU subventioniert ihn zum Beispiel über Zuweisungen im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik.[47]

Die kapitalistische Fleischindustrie wiederum hat zwar immer noch ein Standbein in den USA – Chicago spielt aber national und global als Standort nur noch eine untergeordnete Rolle. Das von Majakowski beschriebene Ausbeutungs- und Herrschaftssystem hat sich derweil internationalisiert und das Fleischkapital multinationalisiert. Es findet sich jetzt neben den USA unter anderem auch in Brasilien, Westeuropa und mittlerweile auch in China. Die Vereinigten Staaten sind bedauerlicherweise nicht der »letzte bewaffnete Verteidiger der hoffnungslosen Sache des Bürgertums«[48], wie Majakowski am Ende von »Meine Entdeckung Amerikas« prognostiziert. Die bürgerliche Ausbeutung von Lohnarbeitern, Natur und Tieren prosperiert nahezu auf dem ganzen Erdball.

Raul Lucarelli

Wladimir Majakowski: In den Schlachthöfen Chicagos
Wladimir Majakowski: In einer mexikanischen Stierkampfarena

Ein Artikel aus dem Zirkular “Hammel & Sittich”, Ausgabe 6, Januar 2025