Zum Motiv der Tierausbeutung in Max Horkheimers Aphorismus und Wladimir Majakowskis Gedicht
In der linken deutschsprachigen Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung hat einer der Beiträge zum Sammelband »Dämmerung – Notizen in Deutschland«, der 1934 erstmals in Zürich publiziert wurde, eine Art Kultstatus erreicht. Es handelt sich um den Eintrag »Der Wolkenkratzer«[1]. Dessen Autor, der zum Zeitpunkt der Veröffentlichung gegenüber der Öffentlichkeit nur mit dem Pseudonym »Heinrich Regius« in Erscheinung trat, war niemand geringeres als der junge Max Horkheimer, Mitbegründer der Kritischen Theorie und langjähriger Leiter des Frankfurter Instituts für Sozialforschung.
Wahrscheinlich entdeckten die Pioniere der Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung in den frühen 1990er-Jahren den kurzen Text auf der Suche nach einem adäquaten theoretischen Ausdruck der eigenen Positionen für sich und ihr Anliegen. Gesichert ist, dass im Reader »Leiden beredt werden zu lassen, ist Bedingung aller Wahrheit«, der 1999 von der Tierrechts-Aktion Nord (TAN) herausgegeben wurde, darauf Bezug genommen wird. Günther Rogausch, Initiator der Veganen Offensive Ruhrgebiet (VOR) und langjähriger Tierbefreiungsaktivist, und Carsten Haker verweisen in ihren Beiträgen auf Horkheimers Notiz.[2]
Deren Popularität unter linken Tierrechtlern und Tierbefreiern gründet nicht in erster Linie auf den zwei Hauptkritiken des knappen Texts. Zunächst beschreibt Horkheimer die westlich-bürgerliche als Klassengesellschaft, in der die herrschenden Klassen in den Obergeschossen des »Gesellschaftsbaus« von der Ausbeutung der Klassen aus den unteren Etagen leben. Um diese Aussage zu veranschaulichen, nutzt er das Bild des Wolkenkratzers. In den Stockwerken ganz oben residierten »die leitenden, aber sich untereinander bekämpfenden Trustmagnaten (…), darunter die kleineren Magnaten, die Großgrundherren und der ganze Stab der wichtigen Mitarbeiter«. Etwas weiter unten im Gebäude verortet er »die Massen der freien Berufe und kleineren Angestellten, der politischen Handlanger, der Militärs und Professoren«. Im Erdgeschoss befindet sich dann »das Proletariat, von den höchst bezahlten gelernten Arbeiterschichten über die ungelernten bis zu den dauernd Erwerbslosen, Armen, Alten und Kranken« und so weiter. Trotz aller Kürze ist Horkheimers Beschreibung des Klassengeflechts feingliedrig, schließt Zwischenklassen mit ein und beschränkt sich auch nicht nur auf die ökonomischen Gruppen der Gesellschaft.
Horkheimers zweite Kritik im Aphorismus richtet sich gegen eine besondere Gruppe von Bewohnern des Wolkenkratzers und deren Tätigkeit. »Die Philosophen«, so heißt es im Text, lebten in den »höchsten Etagen«[3]. Dort sei ihnen gestattet, »ein System der Werte« aufzustellen und »›vom Menschen überhaupt‹ als von den Menschen im besonderen«, »vom Sein schlechthin als von ihrem eigenen Sein« zu »philosophieren«[4]. Mit anderen Worten: Statt die konkrete bürgerliche Gesellschaft, ihre Funktionsweise und die eigene Rolle in ihr auf den Begriff zu bringen, verschrieben sich die Philosophen der allgemeinen Reflexion über den Menschen.
Dieser Mangel theoretischen Denkens und kritischen Engagements der Intellektuellen hat, so Horkheimer weiter, auch etwas mit ihrer Klassenposition zu tun. Denn »aus den Fenstern der oberen Stockwerke« habe man schließlich »eine schöne Aussicht auf den gestirnten Himmel«[5]. Das »Geschwätz« der Philosophen bleibt auch nicht ohne Wirkung: Als »ein Bestandteil seines Mörtels« halte es das »Haus der gegenwärtigen Menschheit zusammen«[6]. In wenigen konzisen Worten verhandelt der Frankfurter Sozialkritiker hier historisch-materialistisch die Funktion der bürgerlichen Intellektuellen und ihrer Ideologien.
Geste der Anerkennung
Was den Philosophen hoch oben im Wolkenkratzer entgeht und worüber sie nonchalant hinweg philosophieren, ist die Basis der Klassengesellschaft. Deren Beschreibung Horkheimers ist nicht nur klassenanalytisch aufschlussreich. Sie ist auch der Grund, warum Günther Rogausch und Carsten Haker den Aphorismus Ende der 1990er-Jahre zitieren und warum er seit Beginn des neuen Jahrtausends derart angesagt unter linken Tierrechtlern und Tierbefreiern ist.
Denn der organisatorische Kopf der Frankfurter Schule beschränkt sich nicht darauf, zwischen den verschiedenen Fraktionen der Arbeiterklasse sowie zwischen diesen und den Menschen in den »kolonialen Territorien« und »den Kulis der Erde« in den unteren Stockwerken des Wolkenkratzers zu differenzieren, die »millionenweise« in der Peripherie des internationalen Kapitalismus »krepieren«[7]. Für ihn sind auch die Tiere Teil des Sozialgefüges. Ihr Platz ist der »Keller« der bürgerlichen Gesellschaft, »ein Schlachthof«[8]. In diesem könnte man, sofern man denn hinsieht, »das unbeschreibliche, unausdenkliche Leiden der Tiere« vorfinden, ihren »Schweiß«, ihr »Blut« und ihre »Verzweifelung«[9]. Das Fundament des Wolkenkratzers, dem die Philosophen keine Beachtung schenken, ist für Horkheimer nicht nur der Ort des Proletariats und der kolonisierten Völker, sondern darunter auch der »Tierhölle in der menschlichen Gesellschaft«[10].
Im Unterschied nicht nur zur bürgerlichen Soziologie und Philosophie, sondern auch zur kritischen Gesellschaftstheorie seiner Zeit erweitert er mit diesem Bild nahezu beiläufig den Horizont von Theorie und Kritik über die Grenzen der Menschen und ihrer Beziehung zueinander hinaus. Dieser Geste der Anerkennung und der damit verbundenen rücksichtslosen Verurteilung der Tierausbeutung sowie ihrer Einordnung als Teil der kapitalistischen Ausbeutungsverhältnisse verdankt der Aphorismus bis heute seine Beliebtheit unter linken Tierrechtlern und Tierbefreiern in Deutschland, Österreich und der Schweiz.
Was Rogausch, Haker und auch zahlreiche spätere Autoren aus dem Milieu der Human-Animal-Studies in der Rezeption jedoch nicht entwickeln, sind die Implikationen der marxistischen Klassenanalyse des jungen Horkheimers für eine Theorie und Praxis der Tierbefreiung. Tierausbeutung wird bis heute entgegen Horkheimers Bild noch immer maßgeblich als ein Verhältnis zwischen »dem Menschen überhaupt« und den Tieren missverstanden. Dabei handelt es sich im Kern um eine Beziehung zwischen Kapitalisten und Tieren, freilich unter Beteiligung anderer Klassenfraktionen.
Seitdem Ende der 1990er-Jahre auf die genannten Passagen rekurriert wurde, hat sich »Der Wolkenkratzer« nach und nach zu einer allgemeinen Referenz in der theoretischen Arbeit im Vorfeld der deutschsprachigen linken Tierrechtsbewegung entwickelt. Zugleich ist der wachsende Bezug auf den Aphorismus ein Indikator für den wachsenden Einfluss der kritischen Sozialtheorie in der Tradition Horkheimers und Adornos unter den Bewegungsintellektuellen in derselben Periode.
Unter anderem bezieht sich die Soziologin Birgit Mütherich in ihrem Standardwerk »Die Problematik der Mensch-Tier-Beziehung in der Soziologie: Weber, Marx und die Frankfurter Schule«[11] aus dem Jahr 2000 auf Horkheimers Gedankengang. Die Künstlerin Lin May Saeed entwickelte in Zusammenarbeit mit der Soziologin Melanie Bujok auf Basis des Aphorismus eine Installation und stellte sie 2013 in der Jackie Strenz Gallerie aus.[12] Und die Tierrechtsgruppe Zürich hat das Motiv – bildlich zugespitzt – 2014 in ihrer Zeitung »Dem Schlachten ein Ende setzen« in ein Poster überführt.[13]
Gleichklang der Kritik in West und Ost
Horkheimer schrieb die Textfragmente für seinen Sammelband zwischen 1926 und 1931 auf. Sein »Wolkenkratzer« entstand also in der zweiten Hälfte der Weimarer Republik. Im titelgebenden Beitrag des Buchs betont er, dass »die Dämmerung des Kapitalismus« in jener Zeit »nicht die Nacht der Menschheit« einleiten müsse, die ihr »freilich zu drohen scheint«. Die autoritären Präsidialkabinette von Gnaden des reaktionären Reichspräsidenten Paul von Hindenburg und der Aufstieg des Faschismus als Bewegung waren in den letzten Jahren der ersten bürgerlichen Republik in Deutschland bereits unübersehbare Indikatoren für das folgende Unheil. Dennoch, so Horkheimer, könnte die Dämmerung auch »zum Anbruch eines Tages«[14] gemacht werden.
Für den jungen Dichter Wladimir Majakowski war das Morgenrot zur gleichen Zeit nicht nur eine Möglichkeit, sondern seit 1917 schon Realität. Er hieß die sozialistische Oktoberrevolution als »meine Revolution«[15] willkommen und arbeitete von Beginn an am Aufbau des Sozialismus mit – maßgeblich als Poet, Kulturpolitiker und -kritiker, aber auch als Mitarbeiter der sowjetischen Nachrichtenagentur ROSTA, als Filmemacher und als Dramaturg, der unter anderem das erste Theaterstück nach dem Umsturz produzierte (»Mysterium Buffo«).
Eine besondere Rolle fiel ihm auf seinen insgesamt neun Auslandsreisen in den 1920er-Jahren zu. De facto agierte der 1893 im heutigen Georgien geborene Künstler als eine Art Kulturbotschafter der frühen Sowjetunion. Zum Zeitpunkt seiner Reise in die USA 1925, in die er über Kuba und Mexiko gelangte, war er zwar nicht der einzige, aber sicher der bekannteste und populärste Vertreter der sowjetischen Poesie. Zugleich war er die poetische Stimme des Sozialismus im Osten, auch wenn er bis zu seinem Selbstmord 1930 offen Position gegen die regressiven Entwicklungen in den Sowjetrepubliken bezog.
Noch bevor Horkheimer seinen »Wolkenkratzer« zu Papier brachte, hatte der damals 32-jährige sowjetische Futurist Majakowski am 10. September 1925 in New York ein Gedicht erstmals in der Öffentlichkeit vorgetragen, das nicht nur im Titel dem Aphorismus des Sozialphilosophen aus dem Westen frappierend ähnelte. Majakowskis »Wolkenkratzer im Längsschnitt«[16] weist auch eine verwandte Bildsprache auf und ist ebenfalls eine Kritik der westlich-kapitalistischen Klassengesellschaft.
Aber damit noch nicht genug: Wie im Falle Horkheimers verhandelt auch der Poet die Beziehungen zwischen Menschen und Tieren in seinen Versen. Sie sind – ebenso wie beim Frankfurter Philosophen – nicht das zentrale oder gar das einzige Thema des Gedichts. Aber ganz offenbar hat auch er sie als Teil der bürgerlichen Gesellschaft verstanden, die damals in den USA auf dem Weg zur neuen Blüte war, und ihre Position darin auch für kritikwürdig erachtet.
Fleischkapital und die Brosamen der Reichen
Anders als Horkheimer nutzt Majakowski den Wolkenkratzer allerdings nicht als strenge marxistische Allegorie für den Aufbau der Gesellschaft. Es gibt auch keinen Keller, in dem Tiere geschlachtet werden. Vielmehr erschließt der Poet mit dem Blick in die einzelnen Stockwerke paradigmatische Szenen aus dem bürgerlichen Leben. Wie in seinem Gesamtwerk akzentuiert der sowjetische Künstler die Kritik der Lebensweise und Kultur, die der junge Horkheimer in seinem Aphorismus nicht adressiert.
Schonungslos reimt Majakowski über einen trainierten Sportler, der seine Frau verprügelt, über die enttäuschten Hoffnungen einer auf Heirat fixierten, alternden Frau oder über ein durch Schulden gebeuteltes junges Ehepaar, das dennoch von einem Eigenheim träumt. Für ihn sind diese Auszüge aus der bürgerlichen Alltagskultur Verfallserscheinungen einer überkommenen Gesellschaft.
Erst recht geht er, der in der Sowjetunion »Tagesbefehle« an seine Kollegen ausgibt, damit sie neue Formen der Kunst und des Lebens schaffen, die mit den alten aufräumen, hart mit der westlich-kapitalistischen Kunstwelt ins Gericht. In einer Etage seines Wolkenkratzers will ein Maler die Tochter eines Kunsthändlers ehelichen, um Zugang zu deren Vermögen zu bekommen und seine Werke losschlagen zu können. Diese sind – der Verkäuflichkeit wegen – Akte menschlicher Gesäße.
Majakowski leistet mit seinem Gedicht aber nicht nur Kultur-, sondern auch Ökonomiekritik. Sein Modell dafür: das Fleischkapital, dessen Repräsentanten im dreißigsten Stock dem »Wolf of Wallstreet«[17] gleich orgastisch ihre Profite entgegennehmen und verprassen. »Dreißigster:/Aufsichtsrat einer AG/Gewinn-Ausschüttung/in wildem Hasarde/Dem Blutwurst-Trust/brachten Haschee und Gelee/dies Jahr/eine Hundefleisch-Milliarde.«[18]
Dass der Sowjetdichter die Fleischindustrie ins Zentrum seines Verrisses der bürgerlichen Gesellschaft des Westens rückte, ist sicher auch darauf zurückzuführen, dass sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts der führende Teil der Wirtschaft und deshalb ein allgemein anerkanntes Symbol des US-Kapitalismus gewesen ist. Gleichwohl fällt auf, dass sie eine Milliarde auf Basis von »Hundefleisch«[19] erzielt hat. Dieses ist normalerweise kein Bestandteil westlicher Fleischproduktion. Die Verwendung dieser Vokabel kann in Majakowskis Kosmos als Ausdruck besonderer Verachtung interpretiert werden.
Dazu muss man wissen, dass der Dichter Zeit seines Lebens ein großer Hundefreund gewesen ist und seine Hunde tatsächlich als Teil seines inneren Freundes- und Familienkreises behandelt hat. Diese Verbindung zu Hunden im besonderen und Tieren im Allgemeinen war auch nicht nur eine individuelle Schrulle. Sie findet sich auch in seiner Kunst. Im Poem »Gut und schön!« (1927) zählt er einen seiner Hunde gemeinsam mit der großen Liebe seines Lebens, Lili Brik, und deren Mann Ossip, einem lebenslangen Freund und Unterstützer Majakowskis, zum Kreis seiner Lieben.[20]
Und im Langgedicht »Pro eto« (1923, im Deutschen zumeist »Das bewußte Thema«) heißt es dann überdeutlich: »Ja, Tiere lieb ich./Hat ein Wauwau/drüben beim Bäcker seine Bleibe,/ist das kahl/kaum einen Flaum/sah nie Scheueres…/Ich risse mir bereitwillig/die Leber aus dem Leibe,/sie tät mir nicht leid:/ – ›da friß, mein Teueres!‹« [21] Majakowski reißt sich hier bildlich die Leber aus, um einen Straßenhund zu retten. Diese Ethik der Verwandtschaft und des Mitleids zieht sich durch sein Werk und bezieht sich insbesondere auf Hunde.
Wenn er also dem US-Fleischkapital im Gedicht »Wolkenkratzer im Längsschnitt« vorwirft, seine Gewinne mit Hundefleisch zu machen, ist das für ihn keine Kleinigkeit. Es handelt sich um eine im majakowskischen Universum äußerst scharfe Kritik, die sich in dieser Form nicht auf die Praxis anderer Kapitalfraktionen übertragen lässt. Und gerade diese Gruppe Kapitalisten repräsentieren für ihn den Kapitalismus des Westens.
Diese, wenn man so will, tierpolitische Lesart des Gedichts wird durch eine zweite Passage gestützt, mit der gegen dessen Ende die Kritik am Umgang mit Tieren nochmal aufgenommen wird. Konträr zu Horkheimer verfährt Majakowski bei der Beschreibung seines Wolkenkratzers von unten nach oben und endet entsprechend nicht im Keller, sondern auf dem Dach. Dort trägt sich folgende Szene zu: »Das Dach:/nur im Schnee/und ein Schornsteinfeger./Und überm Hofschacht/ein Speisehaus:/hier schluckt/seine dürftigen Brocken/der Neger,/und einen noch dürftigeren/Ratte und Maus.«[22]
In weniger drastischen Worten als bei Horkheimer, aber dennoch vergleichbar, bilden die Schwarzen und die Tiere für Majakowski die an den Rand gedrängten Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft. Sie müssen sich von den Resten ernähren, die die Wohlhabenden im Restaurant des Wolkenkratzers übriggelassen haben. Darin ähneln sich die sozialen Positionen der Schwarzen und der Tiere. Gleichzeitig unterscheiden auch sie sich noch entsprechend der Reihenfolge ihres Zugriffs auf die Überreste.
Bis in die Gegenwart werden »Ratte und Maus« immer noch als metaphorische Platzhalter für Menschen gelesen. Für den Anglistik-Professor Muttaleb repräsentieren sie zum Beispiel »die ärmsten Menschen« (»the poorest people«)[23]. Damit folgt dieser der humanistischen Entfremdungsthese, wie sie von Majakowskis Freund Roman Jakobson und dessen Literaturschule prominent vertreten wird. Demzufolge seien alle Tierfiguren in Majakowskis Werk lediglich Repräsentationen für Menschen und deren Entfremdung von der Welt.
Diese Interpretation trifft zweifellos für einige »Tiere« aus Majakowskis Bestiarium zu, insbesondere wenn sich das Alter Ego des Poeten in seinen Werken in solche verwandelt. Aber eine große Zahl an Versen, Auszüge aus seinen Reiseberichten und sein persönlicher Umgang mit Tieren deuten stark darauf hin, dass dies keineswegs in allen Werken der Fall sein muss. In Hammel & Sittich 4 wurde bereits ein kleiner Überblick gegeben.[24] In den nächsten Ausgaben werden nach und nach die zoopolitisch relevanten Arbeiten Majakowski aufbereitet und vorgestellt.
Neuer Sozialismus zur Befreiung der Tiere
Akzeptiert man die Prämisse, dass Majakowskis Tiere nicht bloß Figuren für Menschen sind, ist offenkundig, dass Horkheimer und Majakowski die Tiere als Opfer der bürgerlichen Gesellschaft begreifen. Allerdings blickt der westliche Marxist, der noch auf dem Boden des Kapitalismus lebt, in die verborgene Stätte der Produktion. Der östliche Marxist, dem es um eine dritte, kulturelle Revolution der Lebensweise nach den sozioökonomischen und politischen Revolutionen geht, rückt hingegen die Zirkulation – etwa die Gewinnausschüttung der Fleischkapitalisten – und die Konsumtion der Tiere ins Licht. Der Künstler Majakowski und der Sozialphilosoph Horkheimer zeigen ferner die Verflechtung der Tierausbeutung mit den verschiedenen Facetten der menschlichen Misere. Schließlich teilen sie die Kritik der Fleischindustrie als Verkörperung der kapitalistischen Ökonomie.
Folgt man also dem Sozialtheoretiker und dem Poeten, ist die bürgerliche Gesellschaft weder ein geeigneter Ort für Menschen noch für Tiere. Die ökonomischen und kulturellen Beziehungen zwischen den Menschen und zwischen den Menschen und den Tieren bedürfen einer revolutionären Umgestaltung.
Trotz seiner politischen Haltung ist der Gesamteindruck, den er im Gedicht »Wolkenkratzer im Längsschnitt« artikuliert, bei jemanden wie Majakowski nicht zwingend zu erwarten. Der Künstler hatte als kommunistischer Futurist hohe Erwartungen an die Entwicklung der Technik und ihre Erleichterungen im kapitalistischen Westen. Ihm war durchaus bewusst, dass die Sowjetunion hier hinterherhinkte. Horkheimer hingegen war diesbezüglich von Beginn an weniger optimistisch.
Gleichwohl setzt Majakowski am Ende seines Textes, nachdem er die Gesellschaft des Westens vermessen hat, seine Hoffnung nicht in die Entwicklung der Produktivkräfte. Er sieht die Zukunft der Gesellschaft nicht im knapp 7.500km entfernten New York, sondern dort, wo sieben Jahre zuvor mit der Oktoberrevolution sozialistische Produktionsverhältnisse durchgesetzt wurden: »Ich schau mich um,/da erfaßt mich der Zorn,/ich fluch/diesen Turm-Labyrinthen./Ich strebte/siebentausend Werst nach vorn –/und gelangte/sieben Jahr nach hinten.«[25]
Die meisten Tierrechtler und Tierbefreier wie Günther Rogausch und Carsten Haker würden dem vermutlich nicht nur auf Basis des Unrechts widersprechen, das Tieren auch im realen Sozialismus widerfahren ist. Aber die geschehene Tierausbeutung ändert nichts daran, dass – wie auch 1925 schon – die Befreiung der Tiere im Sozialismus zumindest eine umsetzbare Option wäre. Deswegen muss man ganz in Majakowskis Sinn den Sozialismus der Zukunft erkämpfen und diesen mit allen sozialen, kulturellen und technischen Möglichkeiten neu aufbauen, die der Arbeiterklasse heute zur Verfügung stehen. In kapitalistischen Gesellschaften hingegen bleiben die Tiere als Produktionsmittel Privateigentum der Klasse, deren Angehörige auf Kosten der Tiere und Arbeiter bis heute die Präsidentensuites und Nobellofts der Wolkenkratzer bewohnen.
Raul Lucarelli
Ein Artikel aus dem Zirkular “Hammel & Sittich”, Ausgabe 5, Juli 2024
Wolkenkratzer im Längsschnitt (1925)
Gedicht von Wladimir Majakowski
Der Wolkenkratzer
Aphorismus von Max Horkheimer