Ein Querschnitt durch den Gesellschaftsbau hätte ungefähr folgendes darzustellen: Obenauf die leitenden, aber sich untereinander bekämpfenden Trustmagnaten der verschiedenen kapitalistischen Mächtegruppen; darunter die kleineren Magnaten, die Großgrundherren und der ganze Stab der wichtigen Mitarbeiter; darunter – in einzelne Schichten aufgeteilt - die Massen der freien Berufe und kleineren Angestellten, der politischen Handlanger, der Militärs und Professoren, der Ingenieure und Bürochefs bis zu den Tippfräuleins; noch darunter die Reste der selbständigen kleinen Existenzen, die Handwerker, Krämer und Bauern e tutti quanti, dann das Proletariat, von den höchst bezahlten gelernten Arbeiterschichten über die ungelernten bis zu den dauernd Erwerbslosen, Armen, Alten und Kranken. Darunter beginnt erst das eigentliche Fundament des Elends, auf dem sich dieser Bau erhebt, denn wir haben bisher nur von den hochkapitalistischen Ländern gesprochen, und ihr ganzes Leben ist ja getragen von dem furchtbaren Ausbeutungsapparat, der in den halb und ganz kolonialen Territorien, also in dem weitaus größten Teil der Erde funktioniert. Weite Gebiete des Balkans sind ein Folterhaus, das Massenelend in Indien, China, Afrika übersteigt alle Begriffe. Unterhalb der Räume, in denen millionenweise die Kulis der Erde krepieren, wäre dann das unbeschreibliche, unausdenkliche Leiden der Tiere, die Tierhölle in der menschlichen Gesellschaft darzustellen, der Schweiß, das Blut, die Verzweiflung der Tiere.
Man spricht gegenwärtig viel von »Wesensschau«. Wer ein einziges Mal das »Wesen« des Wolkenkratzers »erschaut« hat, in dessen höchsten Etagen unsere Philosophen philosophieren dürfen, der wundert sich nicht mehr, daß sie so wenig von dieser ihrer realen Höhe wissen, sondern immer nur über eine eingebildete Höhe reden; er weiß, und sie selbst mögen ahnen, daß es ihnen sonst schwindlig werden könnte. Er wundert sich nicht mehr, daß sie lieber ein System der Werte als eines der Unwerte aufstellen, daß sie lieber »vom Menschen überhaupt« als von den Menschen im besonderen, vom Sein schlechthin als von ihrem eigenen Sein handeln: sie könnten sonst zur Strafe in ein tieferes Stockwerk ziehen müssen. Er wundert sich nicht mehr, daß sie vom »Ewigen« schwatzen, denn ihr Geschwätz hält, als ein Bestandteil seines Mörtels, dieses Haus der gegenwärtigen Menschheit zusammen. Dieses Haus, dessen Keller ein Schlachthof und dessen Dach eine Kathedrale ist, gewährt in der Tat aus den Fenstern der oberen Stockwerke eine schöne Aussicht auf den gestirnten Himmel.
Max Horkheimer
Horkheimer, Max: Notizen 1950 bis 1969 und Dämmerung. Notizen in Deutschland, Frankfurt a.M. 1974, S. 287f.
Zweierlei Wolkenkratzer. Zum Motiv der Tierausbeutung in Max Horkheimers Aphorismus und Wladimir Majakowskis Gedicht. In: “Hammel & Sittich”, Ausgabe 5, Juli 2024