Zu Philipp von Galls Kritik des westdeutschen Tierschutzgesetzes von 1972
Schon früh wurde der Tierschutz für die Tierbewegungen, was die Sozialdemokratie ab 1914 für die Arbeiterbewegung gewesen ist: die Inkarnation von Reformismus und Opportunismus.[1] Warum sollte man sich also mit dem deutschen Tierschutzgesetz, dazu noch mit dessen erster großer Reform in der Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg im Jahr 1972 befassen?
Eine mögliche Antwort wäre: Weil Tierschutzpositionen in der Gesellschaft und zunehmend auch wieder unter Tierrechtlern Fuß fassen. Der Berliner Agrarökonom Philipp von Gall, der aktuell als Politikberater für NGOs und staatliche Apparate sowie als Dozent arbeitet[2], gibt mit seiner 2016 publizierten Dissertationsschrift eine andere, aber ebenfalls gute Antwort auf die Frage. Wie er im Untertitel seines Buchs andeutet, bereitete »das deutsche Tierschutzgesetz der industriellen Tierhaltung den Weg«.
Man könnte noch als dritte mögliche Antwort hinzufügen: Die damals eingeführte »rechtliche Regelung der Tierhaltung« ist »grundlegend« jene, die bis »heute«[3] gilt. Daran werden auch die jüngst vom Bundeskabinett beschlossenen kosmetischen Novelierungen nichts ändern.[4] Das Tierschutzgesetz von 1972 ist also die weiterhin bestehende Sanktionierung der Tierausbeutung. Damit ist es die gesetzlich kodifizierte Verdichtung der Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen auf dem Feld der Mensch-Tier-Beziehungen. Und als solches ist das Gesetz gegenwärtig Gegenstand, Terrain und eine Bedingung des sozialistischen Kampfs für die Befreiung der Tiere in der Bundesrepublik.
Obwohl er ihn nicht ausdrücklich erwähnt, gibt es unverkennbar Überschneidungen zwischen von Galls Untersuchung und den klassischen Tierrechtsarbeiten des U.S.-amerikanischen Juraprofessors Gary Francione aus den 1990er-Jahren. In diesen kritisierte der Vorreiter der Tierrechtsbewegung den juristischen Tierschutz bereits als »die Doktrin, die entwickelt wurde, um den Nutzen des Eigentums an Tieren zu maximieren«[5]. Übersetzt heißt das, der Tierschutz hat den Zweck, den ökonomischen Ausbeutungsprozess zu verbessern und gleichzeitig dessen Akzeptanz politisch zu erhöhen, indem bestimmtes, besonders schwerwiegendes Fehlverhalten, das den Tieren als Kapital ebenfalls schadet, unter Strafe gestellt wird.
Anders als Francione untersucht von Gall nicht in erster Linie gesetzliche Bestimmungen oder die ihnen zugrunde liegenden rechtsphilosophischen Argumente. Beides macht er bisweilen auch. Seine Analyse dreht sich aber hauptsächlich um den historischen Prozess der politischen Reform des deutschen Tierschutzgesetzes von 1960 bis zur Verabschiedung des neuen Gesetzes im Jahr 1972. Diese Entwicklung umreißt er im ersten von insgesamt vier Abschnitten des Buchs.
Im zweiten Abschnitt formuliert er seine beiden zentralen Kritikpunkte an der Reform: »die Ausblendung der tierlichen Subjektivität«[6] und die mit dem Gesetzesvorhaben einhergehende »emotionale Verdrängung«[7]. Damit ist gemeint, dass menschliche Emotionen nicht einbezogen wurden, als die Behandlung von Tieren in der landwirtschaftlichen Produktion diskutiert wurde. Auch in diesen beiden Punkten gibt es offensichtliche Verbindungen zu Franciones Werk. Der Tierrechtler der ersten Stunde hält dem Tierschutz unter anderem vor, dass er den rechtlichen Status der Tiere als Eigentum akzeptiere und damit gerade das Wesentliche, die Interessen der Tiere als fühlende Lebewesen, gar nicht berücksichtige.[8]
Der dritte, mit Abstand kürzeste Abschnitt in von Galls Buch umfasst lediglich das Resümee. Für den vierten hat der Autor historische Originaltexte von Tierschutznormen, beginnend mit einem Auszug aus dem Kriminalgesetzbuch Sachsens von 1838, und zeitgenössische Tierschutzverordnungen und -gesetze zusammengetragen. Sie sind zwar nicht direkt ein eigener Beitrag zur Argumentation des Buchs. Aber als Fundgrube für Recherchen und als Basis für historische Vergleiche ist die Dokumentation für Aktivisten und Wissenschaftler gleichermaßen nützlich.
Von berechtigten und vernünftigen Gründen
Eine Stärke des Buchs ist von Galls Versuch, den Gesetzgebungsprozess zwischen 1960 und 1972 sozial- und wirtschaftsgeschichtlich zu situieren. Dazu zählt er vor allem zweierlei: Zum einen hat die kapitalistische Produktivkraftentwicklung zwecks Profitakkumulation just in dieser Zeit zur Industrialisierung und Verwissenschaftlichung der Tierhaltungssysteme in Deutschland geführt. Das konkrete Beispiel dafür ist die Einführung von Legebatterien für »Geflügel«, die tatsächlich Gegenstand der Aushandlungsprozesse im Zuge der Reform gewesen ist.
Zum anderen hat der Entwicklungsschub in der Tierausbeutung Kritik hervorgerufen, die große Investitionen in konstantes Kapital wie neue Haltungsanlagen gefährdete und ferner das Ansehen der Tierhaltung und Fleischproduktion zu beschädigen drohte. Die Reform hat hier Klassenkonflikte soweit wie nötig eingehegt, ohne das Wesentliche infrage zu stellen, also die Eigentumsform der Tiere und die profitorientierte Tierausbeutung.
Ein Manko an der Darstellung ist, dass der Autor nicht genau zeigt, wer die Kritiker einer intensivierten Tierausbeutung waren. Denn die Tierschutzverbände, wir kommen noch auf ihre Rolle zu sprechen, können der Untersuchung zufolge nicht zu ihnen gezählt werden. Leider hat von Gall den beiden sozioökonomischen und -politischen Prozessen, ihrem wechselseitigen Zusammenspiel und deren Analyse auch weitaus weniger Platz eingeräumt als dem eigentlichen Gesetzgebungsverfahren innerhalb der Staatsapparate und dessen Akteuren. Seine Ausführungen dazu sind allerdings erhellend. Widmen wir uns diesen.
Der Autor zeigt überzeugend die Kontinuitäten im parlamentarisch-juristischen Tierschutz vom deutschen Kaiserreich bis zur westdeutschen Bundesrepublik Deutschland. Besonders bemerkenswert ist, dass ins erste deutsche Tierschutzgesetz, welches die nationalsozialistischen Faschisten 1933 verabschiedeten, Vorarbeiten eines SPD-Entwurfs aus der Weimarer Republik eingegangen sind, etwa das Verbot der Tierquälerei und Misshandlung.
Die bis heute wahrscheinlich wichtigste Bestimmung des staatsoffiziellen Tierschutzes – die Ausnahme vom Schutz, falls ein »berechtigter«[9] Grund oder Zweck vorliegt – geht zwar auf das Konto des Faschismus. Dieser entsprach damit den Interessen des Agrar- und Fleischkapitals, sicherte die ökonomische Tierausbeutung juristisch ab und schützte keineswegs Tiere. Aber beachtenswert ist, dass durch die Reform von 1972 gerade diese spezifische gesetzliche Regelung in der Bundesrepublik noch einen größeren Stellenwert erhielt. Sie wurde zum ersten Paragraphen des Gesetzes erhoben. Im Tierschutzgesetz wird also seit 1972 mit dem ersten Paragraphen das Zufügen von »Schmerzen, Leiden oder Schäden« für den Fall erlaubt, dass ein »vernünftiger Grund«[10] vorliegt.
Die politischen Protagonisten inner- und außerhalb des Parlaments machten sich damals allesamt nicht die Mühe, überhaupt zu spezifizieren, worin eigentlich ein »vernünftiger Grund«[11] besteht. Vielleicht war und ist es aber auch schlicht so offensichtlich, dass die gewinnorientierte Zucht, Haltung und Tötung von Tieren des Agrar- und Fleischkapitals gemeint ist, dass man es gar nicht aussprechen musste und muss. Das noch in einem frühen Entwurf des neuen Tierschutzgesetzes verankerte Verbot der Legebatteriehaltung von »Geflügel« wurde jedenfalls noch im Verlauf der Debatten über den Gesetzesentwurf gestrichen und damit die Batteriehaltung faktisch erlaubt. Und als sich der Rechtsausschuss des Bundesrats nach dem Bundestagsbeschluss anmaßte zu fordern, genauer darzulegen, was ein »vernünftiger Grund« sei, riefen der Agrarminister und der Agrarausschuss ihn zur Räson. Seither kann man die industrielle Tierausbeutung nicht nur als gesetzlich legitimiert, sondern auch als vernünftigen Grund für eine Ausnahme vom Schutz der Tiere betrachten.
»Wissenschaftlicher Tierschutz«[12]
Von Gall thematisiert auch zwei auffallende Differenzen zwischen der faschistischen und liberal-demokratischen Fassung des deutschen Tierschutzgesetzes. In letzterer lässt sich nicht mehr explizit das Verbot finden, »ein Tier unnötig zu quälen oder roh zu misshandeln«[13]. Stattdessen wird erstmalig von »artgemäßer« Nahrung, Pflege und Berücksichtigung des »Bewegungsbedürfnisses« sowie von »verhaltensgerechter«[14] Unterbringung gesprochen.
Diese Veränderungen zeigen eine Verschiebung in der bürgerlichen tierschutzpolitischen Debatte an. Die damals noch in der Entstehung befindliche Verhaltensforschung an Tieren wurde als mutmaßlich objektive Naturwissenschaft zusätzlich zur Veterinärmedizin herangezogen, um die Parameter einer artgemäßen und verhaltensgerechten Haltung festzulegen. »Emotionen« sollten in der Debatte hinter den naturwissenschaftlich begründeten »Sachverstand«[15] bei der Bewertung des Umgangs mit Tieren in der landwirtschaftlichen Produktion zurücktreten.
Der Autor weist hier, ohne es ausdrücklich so zu nennen, darauf hin, dass die Verhaltensforschung als Legitimationswissenschaft durch das und beim Bundeslandwirtschaftsministerium aufgebaut und etabliert wurde. Bei allen beachtlichen und gesellschaftlichen Fortschritt stützenden Erkenntnissen, die aus den Reihen der Verhaltensforschung heute teils über Fähigkeiten von Tieren hervorgebracht werden, sind von Galls Ausführungen zur dominanten Linie in der frühen Verhaltensforschung eine notwendige Erinnerung an den Doppelcharakter der Wissenschaft – und an die politischen Kämpfe um die Wissenschaft – in der bürgerlichen Gesellschaft.
Die Mehrheit der einbezogenen Wissenschaftler gab der Reform ihren Segen. Der damals während des Gesetzgebungsprozesses konsultierte Zoologe und Verhaltensforscher Paul Leyhausen vertrat hingegen bedauerlicherweise eine absolute Minderheitenposition. Für ihn waren »sämtliche moderne Hochintensivhaltungen« mit einer art- und verhaltensgerechten Haltung »in keiner Weise (…) auch nur annähernd in Einklang zu bringen«[16].
Entdemokratisierung und Europäisierung
Mit der Reform des Tierschutzgesetzes sind schließlich bedeutende Entscheidungskompetenzen dem Parlament entzogen und beim zuständigen Ministerium angesiedelt worden. Der historische Vorläufer des heutigen Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft wurde ermächtigt, Vorschriften über die Tierhaltung in Übereinstimmung mit den Bedürfnissen der Tiere zu erlassen. Die »Federführung über die Ausformulierungen der Mindestrichtlinien im Tierschutz«[17] liegt seither bei der Exekutive.
Es versteht sich von selbst, dass ein Netzwerk aus Politikern mit Agrarhintergrund aus allen damals im Bundestag vertretenen Parteien (CDU, CSU, SPD und FDP), aus Interessenverbänden des Agrar- und Fleischkapitals sowie ambitionierten Naturwissenschaftlern, das von Gall ansatzweise aufschlüsselt, ein solches Gesetz unterstützt hat. Im Bundestag wurde es einstimmig verabschiedet.
Dass es bei »einflussreichen Tierschutzvereinen grundsätzlich Zustimmung fand«[18], erscheint hingegen auch unter den Bedingungen des Jahres 1972 zumindest erklärungsbedürftig. Zumindest wenn man von Tierschutzorganisationen eine echte Interessenvertretung der Tiere erwartet. Ihre Haltung war, wie der Autor zu Recht andeutet, sicher ein Grund dafür, dass sich ab Ende der 1970er-Jahre neue, »radikalere« Strömungen in der Tierbewegung herauszubilden begannen.
Das Tüpfelchen auf dem »i«: Die deutsche Regelung wurde flugs zum »Vorbild für die europäische Politik«[19] – ein heute allseits bekanntes Muster europäischer »Integration«. 1976 einigten sich die Mitgliedsstaaten des Europarats auf das sogenannte Europäische Übereinkommen zum Schutz von Tieren in landwirtschaftlichen Tierhaltungen. Dieses habe, so von Gall, die Grundzüge des deutschen Tierrechts bekräftigt, gerechtfertigt und gleichzeitig ihre Verbreitung in andere Staaten forciert.
Politische Geschichte statt kritischer Gesellschaftstheorie
Der bis hierher skizzierte erste Teil des Buchs ist wirklich lesenswert und informativ. Ihm fehlt allerdings ein gesellschaftskritischer Theorierahmen. Mithilfe der marxistischen Hegemonietheorie hätte von Gall seinen Gegenstand besser auf den Begriff bringen können. Er schreibt tatsächlich eher klassische politische Geschichte als Historie von Gesetzen, des parlamentarischen Handelns und politischer Interessengruppen. Das ist sicher nicht Nichts, aber auch nicht ausreichend, um den Reformprozess sozialkritisch zu verorten und einzuordnen. Man hätte etwa die im Staat artikulierten Interessen an die ökonomischen Klassenfraktionen, an deren Interessen und das allgemeine Interesse des Kapitals rückkoppeln können, die Natur – hier am Beispiel der Tiere – kollektiv zu managen und auszubeuten.
Ähnliches gilt mit Blick auf die Auseinandersetzungen im Staat. In diesem finden nicht nur einfach, wie es die bürgerliche Demokratietheorie sich einbildet, politische Konflikte zwischen politisch und kulturell bestimmten Gruppen zur Ausgestaltung der Gesellschaft statt. Auch beim Tierschutz werden dort in Politik übersetzte politisch-ökonomische Klasseninteressen verhandelt, die nicht nur die Reproduktion der Eigentumsverhältnisse sicherstellen. Im Staat verdichten sich die Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen, inklusive der subalternen Gruppen, unter anderem bis hinein in die Gesetzestexte.
In dieser theoretischen Linie müsste man auch die falsche Gegenüberstellung von menschlichen und Tierinteressen, wie sie von Gall bisweilen evoziert, aufgeben. Zumal man damit den abstrakten Mensch-Tier-Dualismus – in guter Absicht – reproduziert. Gleichzeitig könnte man erklären, warum im Bundestag 1972 keine Partei- und Tier-, sondern nur die Interessen »der Menschen« existierten und warum man das Tierschutzgesetz als mutmaßlichen Kompromiss zwischen Mensch und Tier verkaufen konnte.
»Tierliche Subjektivität« und »emotionale Verdrängung«?
Ein solcher theoretischer Zugang hätte auch Einfluss auf den zweiten Abschnitt des Buchs gehabt. In diesem versucht von Gall zunächst nachzuweisen, dass die von den staatlichen Behörden herangezogenen Wissenschaften, insbesondere die Verhaltensforschung, die Berücksichtigung »tierlicher Subjektivität«[20] verstellen. Außerdem behauptet er, dass im Gesetzgebungsprozess »emotionale Verdrängung«[21] stattgefunden habe. An die Stelle von Emotionen sei naturwissenschaftlicher Sachverstand gesetzt worden.
Beides ist nicht falsch, obgleich es sicher auch nicht die ausschlaggebenden Gründe für den Zuschnitt des letztlich verabschiedeten Tierschutzgesetz waren. Um diesen zu erklären, müsste man den politischen und wirtschaftlichen Interessen auf den Grund gehen, die in ihm zum Ausdruck kommen. Es wäre auch zu hinterfragen, inwiefern die Bezugnahme, etwa von Parlamentariern, auf die Verhaltensforschung und die Forderung nach Ausschluss von Emotionen aus der Debatte im strengen Wortsinn ideologischen Charakter hatten.
Damit ist nicht gesagt, dass sich Politiker oder Wirtschaftsvertreter ausschließlich oder vorrangig instrumentell dieser Argumente bedient haben – was gewiss auch passiert ist – oder nicht von ihnen überzeugt gewesen wären. Vielmehr muss in Rechnung gestellt werden, dass die Parlamentarier durch die wissenschaftlichen und politischen Argumente ökonomische und politische Klasseninteressen artikulierten. Dazu ein Beispiel: In der öffentlichen und parlamentarischen Auseinandersetzung waren »Emotionen« offenkundig der Platzhalter für Kritik an der Tierausbeutung und »Sachverstand« ein anderes Wort für die schnöden ökonomischen Interessen des Agrar- und Fleischkapitals. Es ist daher wenig überraschend, wenn die Befürworter der Gesetzesnovelle vertraten, Emotionen seien bei dessen Diskussion fehl am Platz.
Von Galls Ausflug in die Ideengeschichte der frühen Verhaltensforschung ist keineswegs uninteressant. Deren Hauptvertretern – er nennt vor allem Konrad Lorenz – sprachen ihm zufolge damals Tieren jegliches intentionales Handeln ab und reduzierten tierisches Normalverhalten auf die Reproduktion genetisch determinierten, basalen Instinktverhaltens. Solange die Tiere in den Ställen also keine sonderlich erkennbaren Abweichungen an den Tag legten, waren die Haltungsbedingungen in der Tierproduktion, so grausam sie auch waren und sind, ethologisch »artgemäß« beziehungsweise »verhaltensgerecht« und damit legitim.
Mit Interesse kann man ebenfalls die Diskussion der Philosophie der Emotionen und des Autors Kritik der impliziten Ethik in der Nutztierethologie lesen: Selbstverständlich sind Emotionen Teil des Klassenkampfs von oben und unten. Welche als zulässig gelten, ist eine Frage der jeweils gesellschaftlich und themenspezifisch ausgekämpften Kräfteverhältnisse. Sie bei der Behandlung eines umstritten Themas vollständig auszuschließen, ist ein politischer Schachzug. Man kann dies regelmäßig vor Kriegen beobachten: Dort, wo es um »unsere« Interessen geht, ist Mitleid mit den Opfern erwünscht, wo es ihnen widerspricht, wird es unterdrückt.
Keine Befreiung ohne sozialistische Eigentumsverhältnisse
Beide Kritiken von Galls am Gesetzgebungsverfahren sind also grundsätzlich berechtigt. Aber er überbewertet die wissenschaftlich-ideellen Ideen über tierliche Individualität und die Rolle der Emotionen beziehungsweise ihrer Verdrängung. Die Erörterungen tierlicher Individualität und Emotionen sind zudem im Buch von bürgerlicher Tierrechtsphilosophie und den mit ihr korrespondierenden Vorstellungen von Politik durchwirkt. Ihnen zufolge bestimmt das Bewusstsein das Sein der Akteure und Empathie führt zur Berücksichtigung des Tierleids in der Politik.
Die Anerkennung tierlicher Individualität und das Mitleid mit Tieren sind, auf eine spezifische Weise gefasst, zweifellos Teil des sozialistischen Klassenkampfs für die Befreiung der Tiere. Aber echter »Tierschutz«, ob nun in gesetzlicher Form oder als Praxis in den Mensch-Tier-Beziehungen, ist nicht in erster Instanz eine Frage der wissenschaftlichen Konzepte, der Emotionen oder Psychologie. Man erwirkt ihn nicht, indem man die Verhaltensforschung mit einer Philosophie tierlicher Subjektivität ergänzt oder Empathie mit Tieren in der Politik zulässt.
Beides bricht sich bereits an den politischen und ökonomischen Interessen des Agrar- und Fleischkapitals sowie des bürgerlichen Staates. Ganz zu schweigen vom Gesamtkomplex kultureller und ideologischer Formen, welche die Tierausbeutung stützen. Man muss das Mitleid als Impuls und Antrieb nutzen und für die Anerkennung – geistiger, sozialer und anderer – Fähigkeiten der Tiere in der Wissenschaft eintreten. Aber ohne die Veränderung der bürgerlichen Eigentumsverhältnisse wird sich die Reform des Tierschutzgesetzes als Modernisierung und Sanktionierung der Tierausbeutung sowie als Integrationsmechanismus von Teilen der Tierbewegungen beim nächsten Anlauf wiederholen.
Raul Lucarelli
Ein Artikel aus dem Zirkular “Hammel & Sittich”, Ausgabe 5, Juli 2024