»Im Paradies fällt der Schnee langsam«

Ausstellungsbericht zur Einzelschau von Lin May Saeed im Georg Kolbe Museum in Berlin

Noch bevor man zur Museumskasse tritt, fällt der Blick auf das Relief eines Affen mit grimmigem Gesichtsausdruck an der Wand des ersten Raums der Ausstellung. Es ist eines von Lin May Saeeds charakteristischen Kunstwerken, gefertigt aus Styropor und anderen Materialien, die für viele als Abfall gelten würden. Begrüßt wird man auch von weiteren Tierfiguren: einem in Bronze gegossenen und weiß bemalten Hund sowie einer kleinen Gruppe aus einer Hunde-, einer Affen- und einer Menschenskulptur, die zusammen in einem ehemaligen Kamin um ein Lagerfeuer aus elektrischen Kerzen arrangiert sind. Es ist eine Szene, die an die Frühgeschichte des Menschen erinnert: im Eingang der Höhle sitzend, dem Affen noch ähnlich, der Hund bereits domestiziert. Auch wenn man hier gerne noch länger verweilen würde, schweift der Blick schon in den lichtdurchfluteten, großen Ausstellungsraum, in dem zentral sechs Tierskulpturen platziert sind, die auf Holzkäfigen stehen und auf die Besucher zuzulaufen scheinen. Wie der Affe des ersten Reliefs zeigen auch diese Tiere einen wütenden Blick. Dazu haben sie auch allen Grund, sind ihre Arten doch von Ausbeutung betroffen oder vom Aussterben bedroht. So trifft man hier zum Beispiel auf ein Pangolin, dessen Schicksal durch die Corona-Pandemie ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt ist, eine Kuh und eine Schneeleopardin. Die Käfige dienen als Sockel zur Inszenierung der Skulpturen und sind gleichzeitig Teil davon, denn die Tiere scheinen sich aus ihnen befreit zu haben und sind nun bereit, sich gegen ihre Peiniger zu wehren.

All diese Kunstwerke gehören zur ersten Einzelschau Lin May Saeeds in Deutschland, die das Georg Kolbe Museum zeigt. Die in Berlin wohnhafte Bildhauerin ist Ende August 2023 leider 50-jährig an einem Gehirntumor verstorben, noch vor Eröffnung der Ausstellung, doch hat sie deren Umsetzung noch wesentlich geprägt. Ihren Werken werden Tierskulpturen und -skizzen der Bildhauerin Renée Sintenis (1888-1965) zur Seite gestellt, die von Saeed persönlich ausgesucht wurden. Sintenisʼ Kunstwerke stammen zu großen Teilen aus der Sammlung des Museums, welches ein besonderes Augenmerk auf das Schaffen von Bildhauerinnen der klassischen Moderne legt. Laut Saeed versuchte Sintenis, Charakterzüge und Wesenseigenschaften der Tiere herauszuarbeiten und sie nicht nur abzubilden. Saeeds eigene Arbeit geht noch mindestens einen Schritt weiter. Zwar zeigt auch sie Tiere, die in ihrem eigenen Sein aufzugehen scheinen, wie zum Beispiel in ihren Reliefs von Fetzenfischen oder von Lebewesen des Erdzeitalters Kambrium, in dem vor 541 Millionen Jahren fast alle heutigen Tierstämme entstanden sind. Doch viele ihrer Tiere sind aktiver dargestellt, sie wehren sich gegen ihre Ausbeutung oder treten auf friedliche Art mit Menschen in den Dialog.

Die Kunst der Tierbefreiung

Lin May Saeed war bekennende Aktivistin für die Befreiung der Tiere. Dies zeigt sich in der Ausstellung auf Schritt und Tritt. Ergänzend zu den Kunstwerken sind Bücher zum gesellschaftlichen Mensch-Tier-Verhältnis zur Ansicht für die Besucher bereitgestellt und es gibt einen gedruckten Textauszug aus dem Aufsatz »Zur Verteidigung des tierlichen und menschlichen Individuums« der Sozialwissenschaftlerin und Tierbefreiungsaktivistin Melanie Bujok zum Mitnehmen. Die Gestaltung dreier metallener Tore, inspiriert von kreativen Gartentoren in Brandenburg, spricht klar von Saeeds politischer Position. Eines zeigt einen Hummer, der sich aus seinem Käfig befreit, ein anderes einen Stier, der einen Torero niedertrampelt. Das dritte schließlich nutzt ein klassisches Motiv der Tierbefreiungsbewegung: Eine vermummte Person trägt ein gerettetes Tier in den Armen. Ein weiteres Tor zeigt den heiligen Hieronymus, der einem hinkenden Löwen einen Dorn aus dem Fuß zieht. Ebenfalls Bezug auf eine religiöse Geschichte nimmt die Figurengruppe »Seven Sleepers«. Sie verweist auf die Erzählung von den Sieben Schläfern von Ephesus, einer Heiligenlegende mit einer Tradition sowohl im Christentum als auch im Islam, in der sieben Männer Jahrhunderte lang in einer Höhle schlafen, um religiöser Verfolgung zu entkommen. Saeed erweitert die ursprüngliche Gruppe um einen Hund und verleiht den menschlichen Figuren tierische Züge. Der laut der Museumsbeschreibung an sich schon interkulturelle und transreligiöse Inhalt der Geschichte wird so um eine speziesübergreifende Perspektive erweitert. Das Werk enthält ein utopisches Moment, indem es Menschen und Tiere zeigt, die sich zusammen vor Verfolgung zurückziehen und über eine gemeinsame friedliche Zukunft kontemplieren.

Neben dem Anliegen der Tierbefreiung beschäftigte sich Saeed in ihrem Werk auch mit dem Klimawandel, mit Umweltzerstörung und mit dem Verlust der Biodiversität. Schon die Verwendung des Materials Styropor, aus dem sie beispielsweise ihre Reliefs fertigt, enthält eine politische Aussage: Styropor wird aus Erdöl hergestellt und ist nicht biologisch abbaubar, im Gegensatz zu klassischen Materialien der Bildhauerei wie Bronze (die Saeed durchaus auch verwendet) oder Stein, die zwar lange halten, aber irgendwann zerfallen. Saeeds politische Einstellung und Position sind in ihren Werken spürbar und in der Ausstellung omnipräsent. Wenn auch nicht gänzlich abwesend, so kommt jedoch die Kritik an den Verantwortlichen von Klimawandel, Umweltzerstörung und Tierausbeutung etwas zu kurz. Saeeds Arbeit »Der Wolkenkratzer« fehlt leider in der Ausstellung. Diese zeigt in Anlehnung an den gleichnamigen Aphorismus des kritischen Gesellschaftstheoretikers Max Horkheimer die kapitalistische Klassengesellschaft mit den Tieren im Schlachthof zuunterst und den Kapitalisten zuoberst. Dennoch gibt es Werke, die verantwortliche Konzerne klar anprangern: Zum einen ist dies »Invoice«, eine fiktive Rechnung von Nestlé, mit der Saeed die Privatisierung des Wassers durch den Schweizer Lebensmittelkonzern kritisiert. Zum anderen die Installation »Documentation of an eight-hour car blockade in front of Europeʼs largest poultry slaughtering factory in Wietze/Germany«, die eine Schlachthofblockade dokumentiert, an der Saeed persönlich teilgenommen hat.

Verbindungen in Raum und Zeit

Saeeds Werk begeistert neben dem politischen Gehalt mit dem künstlerischen Handwerk. Sie setzt verschiedene Materialien auf vielfältige Weise ein und benützt unterschiedliche Medien. Neben den Skulpturen, Reliefs und Toren gibt es auch Scherenschnitte (vom Museum besonders schön inszeniert mit einer Lichtquelle dahinter), ein Video sowie Texte, wie zum Beispiel eine Zusammenstellung von Fabeln, die sie selber verfasst hat. Texte in Form von arabischer Schrift sind auch oft Teil von Saeeds bildhauerischen Werken und zeugen von ihrer Auseinandersetzung mit ihrer deutsch-irakischen Herkunft. So schafft sie es, geografische wie auch historische Verbindungen herzustellen. Die Kunstform der Reliefs spannt einen Bogen zu diversen Epochen der Kulturgeschichte, zu indigener, antiker oder auch frühgeschichtlicher Kunst. Ebenso gelingt ihr die kultur- und erdgeschichtliche Verbindung durch die Bezugnahme auf die Natur verschiedener Erdzeitalter sowie auf Geschichten und Philosophien aus diversen Epochen und Erdteilen. Sie beschäftigt sich zum Beispiel mit dem »Pfeil Paradoxon« des griechischen Philosophen Zenon von Elea. Es besagt, dass ein fliegender Pfeil in jedem Moment einen bestimmten Ort einnimmt. Dort ist er in Ruhe. Da er sich immer an einem bestimmten Ort befindet, kann er sich nicht bewegen. Saeed verstand Zenon als Schutzpatron für die Bildhauerei. »Wegen der Nichtexistenz von Bewegung werdet ihr Alle zu Skulpturen«, wie sie in einer ihrer Fabeln schreibt. Die Zukunft antizipiert Saeed mit dem beständigen Stoff Styropor und mit den Geschichten über Tiere, die sich wehren, und über Menschen und Tiere, die versöhnlich miteinander leben. Bis es soweit ist, dürfte es jedoch einer weiteren Fabel Saeeds zufolge noch etwas dauern: »Hallo, wie lebt ihr? […] Menschen: Wissen wir noch nicht so genau. Bis wir es wissen, führen wir Krieg.«

Die Ausstellung lohnt einen Ausflug ins auch architektonisch interessante Georg Kolbe Museum im ruhigen Berliner Westend. Nach Besichtigung der Ausstellung sei ein Besuch des Gartens empfohlen, in dem es eine weitere Skulptur von Saeed zu sehen gibt, die abermals ihre tiefe Verbundenheit mit Tieren zeigt: Ihre zwei Kaninchen fraßen eine Schlafmulde in einen ihrer Styroporblöcke, welche sie daraufhin in Bronze gegossen hat und die nun den Wildtieren im Museumsgarten als Tränke dient. Rund um die Ausstellung hat das Museum zudem ein umfangreiches Rahmenprogramm mit Vorträgen, Diskussionen, Führungen, einem kulinarischen Abend (mit veganen Gerichten aus Saeeds eigenem irakischen Kochbuch) und einem Artentreff (»interspezifische Kunstvermittlung«) auf die Beine gestellt.

Lin May Saeed. Im Paradies fällt der Schnee langsam. Ein Dialog mit Renée Sintenis. Georg Kolbe Museum Berlin. 14.09.2023 – 25.02.2024

Irina König

Ein Artikel aus dem Zirkular “Hammel & Sittich”, Ausgabe 4, Dezember 2023