Zu Matthias Rudes kurzer Geschichte der Grünen
Anfang 2023 erschien im Verlag Hintergrund ein Büchlein über die deutschen Grünen. Auf weniger als 80 Seiten entfaltet der Tübinger Journalist Matthias Rude, den einige auch als Autor einer Einführung in den Antispeziesismus der Linken[1] kennen, eine konzise Analyse der Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der Kriegshaltung der gegenwärtigen bundesdeutschen Regierungspartei. Der Untertitel »Von der Protestpartei zum Kriegsakteur« bringt das Resümee des Autors auf eine aussagekräftige Formel. Rude zeichnet den historischen Weg einer einst friedensbewegten Partei nach, der in der Zustimmung zum größten Aufrüstungspaket in der deutschen Nachkriegsgeschichte und im Kriegspakt mit ukrainischen Faschisten mündete.
Wie kam es also dazu, dass die Anfang der 1980er-Jahre gegründete Partei Die Grünen, die eine »konkrete Anti-NATO-Politik«[2] vertrat, zu einer Fraktion des bürgerlichen Blocks wurde, »die im Interesse des Kapitals bereit ist, in den Krieg zu ziehen«[3]? Die Antwort, die Rude liefert, widerspricht der naiven Vorstellung, dass der Einmarsch russischer Truppen in der Ukraine am 24. Februar 2022 einen kompletten U-Turn innerhalb der politischen Agenda der Grünen eingeläutet hätte. Ganz im Gegenteil zeigt der Autor auf, dass sich die Entwicklung zur Kriegspartei schon viel früher abgezeichnet und sogar schon vollzogen hatte. Einige führende Köpfe der »Antipartei-Partei«[4] orientierten bereits nach ihrem Einzug in den Bundestag 1983 auf eine Beteiligung an Regierungen. Laut Rude sind letzten Endes diese Kader und ihre parteiinternen Strömungen dafür verantwortlich, dass die einstige systemoppositionelle Kraft in eine etablierte parlamentarische Stütze der deutschen Staatsräson umgemodelt wurde.
Eine treibende Figur in dieser Transformation war der ehemalige Sponti Joschka Fischer – ab 1985 als hessischer Umweltminister der erste Landes- und ab 1998 auch der erste Bundesaußenminister der Grünen. Neben diesem altbekannten Opportunisten werden im Buch aber noch weitere Namen genannt. So wird etwa die Rolle des langjährigen Chefs der Heinrich-Böll-Stiftung Ralf Fücks – einst K-Grüppler, heute antirussischer Falke – beleuchtet, ebenso wie die des Mitgründers der Grünen Helmut Lippelt, der bereits früh Forderungen wie »die sofortige Auflösung der NATO«[5] ablehnte, als sie noch Konsens in der Partei waren. Will man Regierungspartner werden, das war den werdenden »Wendehälsen«[6] bereits früh klar, muss man Farbe zum transatlantischen Kriegsbündnis bekennen.
Die ansprechende Kürze des Buches erlaubt nicht, alle Ursachen für die Wandlung der Grünen detailliert zu entfalten. Im Wesentlichen zeichnen sich in Rudes Analyse zwei Argumentationsstränge ab. Zum einen spielte die Orientierungslosigkeit, in der sich antikapitalistische Linke nach dem Zerfall der Sowjetunion befunden haben, eine zentrale Rolle. Es lag in der Luft, sich vom Sozialismus loszuketten und ins NATO-Lager überzulaufen – eine Bewegung, die viele Grüne mitmachten. Zum anderen offenbarte sich die integrative Kraft der bürgerlich-parlamentarischen Demokratie. Der »Marsch durch die Institutionen« führt in die Institutionen und verwandelt Opposition in Opportunismus. Bei den Grünen, dem wohl prominentesten Fall der deutschen Nachkriegsgeschichte, beförderte er die Herausbildung eines realpolitisch-neoliberalen Flügels in der Partei, der sogenannten »Realos«[7].
Im Verlauf der 1990er-Jahre, nach dem Aufstieg der »Realos« und ihrem endgültigen Sieg über die »Fundis«[8], »die sich in Fundamentalopposition zum System sahen«[9], war die Eingliederung der Grünen in die Politik der Herrschenden nach Rude vollbracht. Die Zeit war reif, um auch mit dem letzten antimilitaristischen Tabu zu brechen. Der erste Krieg von deutschem Boden nach 1945 wurde im Jahr 1999 durch die damals rot-grüne Bundesregierung losgetreten. Die Abgeordneten der Grünen stimmten der Beteiligung am völkerrechtswidrigen Angriff der NATO-Truppen auf die damalige Republik Jugoslawien, dem sogenannten Kosovo-Krieg, zu. Aufgrund ihres »Images der linksalternativen Friedenspartei«[10] waren wahrscheinlich damals auch nur sie dazu imstande, den Kriegseintritt durchsetzen. Denn sie besaßen die politische Glaubwürdigkeit bei Fraktionen der Friedens- und anderer sozialer Bewegungen, um Unterstützung für den Waffengang zu schaffen.
In der Geschichte der Grünen stellte der Kosovo-Krieg einen »Dammbruch«[11] dar, wie es Rude ausdrückt. Von da an bedeutete grüne »Friedenspolitik« nicht länger, die »einseitige Abrüstung«, sondern die »deutsche Militärintervention«[12] zu fordern. Nach 2005 haben die Grünen als Oppositionskraft wiederholt die »Militärpolitik« der deutschen Regierung kritisiert – allerdings als »zu zurückhaltend«[13]! Dieser bellizistische Kurs wurde von grünen Politikern der »zweiten Generation«[14] vorangetrieben, die sich bereits explizit zur (neo)liberalen Marktwirtschaft und der dazugehörigen Außenpolitik bekannten. Rude nennt etwa den gegenwärtigen Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft Cem Özdemir sowie die jetzige Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags, frühere Vorsitzende der Grünen Bundestagsfraktion und Präses der Evangelischen Kirchensynode Katrin Göring-Eckardt. Vor dem Hintergrund dieser Parteigeschichte kann der Kriegskurs, den die Grünen heute als Teil der Ampel-Koalition einschlagen, niemanden mehr verwundern. Er ist die konsequente Fortsetzung einer staatstragenden Politik nach Innen und Außen, mit der die Interessen des deutschen Kapitals notfalls auch militärisch gegen die internationale Konkurrenz durchgesetzt werden.
Was die mitregierenden Grünen derzeit praktisch und faktisch tun, ist Teil einer neoliberal-imperialistischen Agenda mit grünem Anstrich. Die Partei verkauft der Bevölkerung den Abbau des Sozialstaates, Energiesparmaßnahmen sowie die Senkung der Reallöhne als Notwendigkeit und steht gleichzeitig für Aufrüstung, Krieg und ideologische Mobilmachung: Die Grünen legitimieren kapitalgemachte Kriege des Westens und dämonisieren dessen Feinde – unter Berufung auf humanitäre und progressive Werte und unter ideologischer Instrumentalisierung des Antifaschismus. Wer den ökonomischen Interessen der herrschenden Klassen der NATO-Staaten entgegensteht, wird zum Hitler stilisiert. Der Appell an unsere »moralischen Verpflichtungen«[15] verkommt zum »politischen Herrschaftsinstrument«[16] des »Kriegsakteurs«, wie Rude die gegenwärtige Strategie der Grünen charakterisiert.
Die kurze und kurzweilige Lektüre des Büchleins ist allen ans Herz gelegt, die sich noch realiter gegen Krieg einsetzen und nicht als grüner (oder sozialdemokratischer) Arm des deutschen Imperialismus enden wollen. Als Lehrstück über die Integration von oppositionellen Kräften in die herrschende Politik ist Rudes Arbeit ein Fünkchen Aufklärung im Nebel der Propaganda.
Daniel Hessen
Ein Artikel aus dem Zirkular “Hammel & Sittich”, Ausgabe 3, Juni 2023