Veganer Ökosozialismus ohne Klassenkampf

Zum beschränkten Nutzen der Half-Earth-Socialism-Utopie von Troy Vettese und Drew Pendergrass

In Anbetracht globaler gesellschaftlicher Krisen wie den imperialistischen Kriegen (Irak, Afghanistan, Syrien, Ukraine usw.) und den sich zuspitzenden ökologischen Problemen (anthropogener Klimawandel, Biodiversitätsverlust usw.) breitet sich ein generelles Gefühl der Ohnmacht und Orientierungslosigkeit aus. Theoretisch drückt sich dieses unter anderem in einem postmodernen Zynismus aus. In der Literatur – und mittlerweile sogar in der in Hollywood produzierten kulturindustriellen Popkultur – taucht es heutzutage zunehmend in Form von Dystopien auf. Man denke nur an den im letzten Jahr ausgestrahlten Blockbuster »Don’t Look Up«, in dem der allergrößte Teil des Lebens auf der Erde trotz eindringlicher Warnungen seitens der Wissenschaft von einem herannahenden Kometen zerstört wird.

Dieser Tendenz zur zynischen und dystopischen Verarbeitung der aktuellen Krise versuchen Troy Vettese und Drew Pendergrass mit ihrem in der ersten Hälfte dieses Jahres veröffentlichten Buch »Half-Earth Socialism« (HES) entgegenzutreten. Statt bloß den Weltzustand zu beklagen, verbinden die Autoren darin wissenschaftliche Analyse mit spekulativer Fiktion: In den ersten drei Kapiteln geht es um das zentrale Problem der Naturbeherrschung als Teil des neoliberalen Kapitalismus, die Verwandlung der einen Hälfte der Erde in Naturschutzgebiete, der anderen in eine sozialistische Kommune und um die Techniken ihrer Planung. Im Unterschied zu diesen theoretischen Ausführungen stellt das letzte Kapitel eine zeitgenössische Adaption von William Morris’ 1890 erschienener Sozialutopie »News from Nowhere« dar. In der Schilderung, wie eine qualitativ andere Gesellschaft funktionieren und das Leben in ihr organisiert werden könnte – sie nimmt faktisch drei Viertel des Buches ein –, sehen Vettese und Pendergrass einen idealen Hebel zur Veränderung des Status Quo. Folglich schlagen sie ein Revival des sozialistischen Utopismus vor, »um die entmutigten Massen« für den politischen Kampf für eine bessere Welt »zu motivieren und mobilisieren«[1]. Dazu haben sie sich selbst keine kleinere Aufgabe gestellt, als einen »Plan« zu skizzieren, um »die Zukunft vor dem Aussterben, dem Klimawandel und Pandemien zu retten«[2].

Die Grenzen der Produktion

Wie der Titel des Buches bereits suggeriert, findet sich ein Ausgangspunkt für Vetteses und Pendergrass’ Utopie in der Forderung des im Jahr 2021 verstorbenen Biologen E. O. Wilson danach, die Hälfte der Erde – »Half-Earth« – in ein Natur- und Tierschutzgebiet zu transformieren und sie verwildern zu lassen, um das drastische Artensterben noch abzuwenden beziehungsweise einzudämmen. In seiner derzeit vorgeschlagenen Fassung besteht aber die Gefahr, dass sich das »Half-Earth Project« als eine Art ökoimperialistisches und ökokolonialistisches Vorhaben entpuppt, durch welches die Menschen der globalen Peripherie aus ihrem Lebensraum vertrieben werden. Es würde damit eine unselige Tradition des Naturschutzes »von oben« fortsetzen. Das erklärt den Zusatz im Titel: Für Vettese und Pendergrass ist es eine Notwendigkeit, dass das Half-Earth-Projekt unter sozialistischer Flagge umgesetzt wird. Damit ließe sich den Autoren zufolge nicht nur die Biodiversität erhalten. Die neuen naturbelassenen Zonen würden zugleich als Puffer für Zoonosen und zur Absorption von Kohlendioxid fungieren. Vor allem aber würde der Naturschutz dann nicht zu Lasten, sondern zu Gunsten und unter Selbstbestimmung der Menschen überall auf der Welt organisiert.

Warum die beiden Autoren ihren Plan, wie die Zukunft davor zu bewahren sei, die Dystopien der Gegenwartskultur zu imitieren, gerade auf der Idee der Verwilderung einer Hälfte der Erde aufbauen, begründen sie in erster Linie erkenntnistheoretisch. Illustriert durch das gescheiterte »Biosphäre 2« Experiment, welches die Konstruierbarkeit eines lebenserhaltenden, geschlossenen Ökosystems hätte aufzeigen sollen, postulieren Vettese und Pendergrass die prinzipielle Unerkennbarkeit der Natur. Die komplexen Zusammenhänge der Biosphäre ließen sich unmöglich vollständig erfassen und verstehen, geschweige denn nachbauen oder kontrollieren. Statt deshalb durch Geoengineering noch tiefer ins globale Ökosystem einzugreifen – was notgedrungen unvorhersehbare Konsequenzen nach sich ziehen würde –, solle die Umwelt aus ihrer Sicht (wenigstens zur Hälfte) sich selbst überlassen werden.

Die Begrenztheit sämtlicher terrestrischer Ressourcen impliziert die Notwendigkeit, die gesamte gesellschaftliche Produktion nachhaltig zu gestalten. Daher wäre zum Beispiel der Energiebedarf komplett aus erneuerbaren Quellen wie Sonne und Wind zu speisen. Im profitorientierten und marktbasierten kapitalistischen System kann eine solche weitgreifende Veränderung in Vetteses und Pendergrass’ Augen jedoch nicht umgesetzt werden. Der HES böte hingegen die Option, auf Grundlage einer demokratisch organisierten Planwirtschaft unter anderem eine solche Energieversorgung zu etablieren. Erst damit würde es den beiden Autoren zufolge ermöglicht werden, »die physikalische Zusammensetzung des globalen ökonomischen Metabolismus«[3] so einzurichten, dass sich die gesellschaftliche Produktion an ihren natürlich gesetzten Grenzen orientiert.

Eine dieser materiellen Schranken ist die auf der Erde zur Verfügung stehende Fläche an Land. Nicht nur die Verwilderung des halben Globus, auch die Verwirklichung der enormen Kapazitäten an Windrädern und Solaranlagen benötigt riesige Mengen an Landflächen, »weshalb wir immer wieder sehen werden, dass die Utopie durch die Viehwirtschaft bedroht ist«[4]. Da ihr ein extensiver Verschleiß an Nutzflächen innewohnt, schlagen Vettese und Pendergrass vor, die Tierindustrie – »den größten Schlachter der globalen Biodiversität«[5] – im HES durch eine weltweite vegane Lebensweise zu überwinden. Auch wenn die Miteinbeziehung der Tierfrage im HES zu begrüßen ist, erscheint sie hier letztlich allerdings nur als ein notwendiges Übel zur langfristigen Sicherstellung der gesellschaftlichen Selbsterhaltung. Hier wäre ein bisschen mehr Utopismus angebracht.

Für einen spekulativen Marxismus

Die beiden Autoren beklagen, dass Gedankenexperimente wie HES von Marxisten allzu schnell mit Verweis auf Marx’ und Engels’ Kritik am utopischen Sozialismus verworfen würden. So monierte etwa Engels in »Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft«, utopische Sozialisten vernachlässigten die objektiven Bedingungen sozialer Veränderungen.[6] Gleichwohl, so könnte man dem Grand Seigneur des wissenschaftlichen Sozialismus entgegnen, bringen selbst die günstigsten Voraussetzungen für eine sozialistische Umwälzung diese nicht automatisch hervor. Es braucht die Ideen und die Organisation, die sie zur materiellen Gewalt gerinnen lassen.

Die Vorstellung einer klassenlosen Gesellschaft ist selbst utopischer Natur. Jedoch stellt sie – mit Ernst Bloch gesprochen – eine »konkrete Utopie« dar. Ihr Zweck ist es, die Geschichte zu antizipieren, um die Praxis der Menschen anzuleiten. Darin sieht Bloch den Kern des Marxismus. Für ihn ist er »die vermittelte Zukunftswissenschaft der Wirklichkeit plus der objektiv-realen Möglichkeit in ihr; all das zum Zweck der Handlung«[7]. In diesem Sinn ist Vetteses und Pendergrass’ Aussage, dass »Spekulation ein wichtiger politischer Akt ist«[8], vollends zuzustimmen. Utopische Entwürfe wie der HES haben ganz allgemein das Potential, die Menschen über das Feld ihres bestehenden Vorstellungshorizonts hinauszutreiben und werden damit zur möglichen Richtschnur für die politische Praxis. Es ist das Verdienst der Autoren, einen (erneuten) Anstoß dafür gegeben zu haben, die Form der spekulativen Fiktion als politisches Instrument der Mobilisierung und Bewusstseinsbildung für den Sozialismus nutzbar zu machen.

Konkret vermag Vetteses und Pendergrass’ Vorschlag, die globale Produktion nachhaltig und demokratisch zu organisieren, umweltbewusste Leser dazu bringen, Forderungen nach der Reduktion des individuellen Konsums und andere liberale Reförmchen zu überdenken. Gleichzeitig kann er Sozialisten zurück auf den Boden physikalischer Realitäten holen, wenn klargestellt wird, dass es in einer nachhaltigen Gesellschaft schlicht und ergreifend keinen Platz für Tierausbeutung mehr gibt. Auch die Ausführungen zu Technologien ökonomischer Planung im Buch, zum Beispiel zu ersten sowjetischen Modellen oder dem Cybersync in Allendes Chile liefern Ideen, an die es sich anzuknüpfen lohnt. So zeigen sie unter anderem auf, dass Planwirtschaft keineswegs als Synonym für eine ausgeprägte Top-Down-Hierarchie verstanden werden muss.

Abstrakte Utopie

Doch die Lektüre der HES-Utopie hinterlässt einen schalen Beigeschmack. Wie es Engels bereits bei den utopischen Sozialisten kritisiert hat, wollen Vettese und Pendergrass scheinbar »nicht zunächst eine bestimmte Klasse, sondern sogleich die ganze Menschheit befreien«[9]. Der tiefere Grund dafür scheint sich in ihrem Verständnis des Kapitalismus zu finden. In der Vorstellung der beiden Autoren entspricht das Kapital einem »automatischen Subjekt«[10], einem abstraktem System, dem sich alle unterwerfen müssen. Es zwinge seine Profitlogik der gesamten gesellschaftlichen Warenproduktion und -distribution auf. Natürlich können sich weder Arbeiter noch Kapitalisten individuell den gesellschaftlichen Strukturen entziehen. Insofern mag die Beschreibung der Autoren zutreffend sein. Sie trägt jedoch gleichzeitig zur Verschleierung der grundlegenden Erkenntnis bei, dass die kapitalistische Produktionsweise in letzter Instanz auf antagonistischen Klassenbeziehungen beruht, in der einige Wenige von der Ausbeutung der Vielen (einschließlich der Tiere und der Natur) leben.

Diese vereinseitigte zirkulationistische Vorstellung des Kapitals entspringt selbst dem Neoliberalismus. Doch statt von dessen Ideologie – das Kapital sei ein Ding und vor diesem seien alle Menschen gleich – ausgehend eine allgemeine Befreiung der Menschen anzunehmen, wie es die Autoren scheinbar tun, sollte sich der Kampf für die gesellschaftliche Befreiung um die Überwindung des Klassenverhältnisses drehen. Für Engels waren die Konsequenzen aus Marx’ Kapitalismuskritik klar: Es geht nicht darum, den Standpunkt einer Idee, sondern den einer Klasse einzunehmen, und zwar derjenigen, die ein objektives Interesse an dieser Idee hat.

Auch wenn das Buch nicht mit einem Parteiprogramm für die ökosozialistische Revolution zu verwechseln ist, so ist doch zu bemängeln, dass es die drängenden Fragen der Agitation und Organisation nicht verhandelt. Wie all die Aspekte der Utopie erreicht werden können, wer sie erkämpfen soll oder was erste Schritte auf dem langen Weg dahin wären, darauf wird im Buch leider nicht weiter eingegangen. William Morris’ Roman »News from Nowhere«, den Pendergrass und Vettese als Vorlage für ihre eigene belletristische Ausarbeitung ihrer Utopie nutzen, spielt im bereits gänzlich entfalteten Londoner Kommunismus des 21. Jahrhunderts. Doch enthält die Geschichte kapitellange Rückblenden darauf, wie diese neue Gesellschaft entstanden ist und welche Kämpfe für sie notwendig waren. Im letzten fiktiven Teil von HES bleibt so eine Reflexion jedoch gänzlich außen vor. Statt dessen dreht sie sich um Fragen der technischen Organisation des Alltagslebens. Sozialtechniken können jedoch nicht isoliert von den sie umgebenden sozialen Verhältnissen verhandelt werden.

Damit bleibt die Utopie von Vettese und Pendergrass tatsächlich in einem, für ihre Verwirklichung notwendigen Aspekt abstrakt. Sie ist also nicht zu phantastisch, die Kluft zwischen ihr und unserer Realität nicht zu groß. Vielmehr ist die mit dem Buch artikulierte Spekulation als konkrete Utopie für die politische Praxis unzureichend. Die Autoren hätten gut daran getan, Engels’ Kritik des utopischen Sozialismus anzunehmen. Die subalterne Klasse muss sich organisieren und kämpfen, um die Hälfte der Welt zu erobern und die andere der Natur und den Tieren zu überlassen.

Daniel Hessen

  • Troy Vettese und Drew Pendergrass: Half-Earth Socialism. A Plan to Save the Future from Extinction, Climate Change and Pandemics. London, Verso, 2022, 240 Seiten, 14,99 £.

Ein Artikel aus dem Zirkular “Hammel & Sittich”, Ausgabe 2, November 2022