Ein Porträt des Politikers Cem Özdemir
Mit der Amtseinführung der deutschen Bundesregierung aus SPD, Grünen und FDP im Dezember 2021 ist auch im Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft ein neuer Chef eingezogen. Auf die Weinkönigin, »Lebensschützerin«[1] und Freundin[2] der Lebensmittelindustrie[3] Julia Klöckner (CDU) folgte Cem Özdemir von Bündnis 90/Die Grünen.
Ein grüner Landwirtschaftsminister? Der zudem bekennender Vegetarier ist? Anders als die in den Medien zu seinem Amtsantritt zirkulierenden Klischees suggerierten, gibt es für die Agrar- und Fleischindustrie wenig Anlass zur Sorge vor dem Realo-Grünen.
Ökologische Modernisierung der Landwirtschaft
Zwar verkündete der 56-jährige Schwabe in seiner ersten Regierungserklärung vollmundig, er sei »nicht bereit, ein ausbeuterisches System weiter hinzunehmen, das auf Kosten der Menschen geht, das auf Kosten der Tiere und das auf Kosten des Klimas geht«[4]. Allerdings hat Özdemir ein eher wirtschaftsliberales Verständnis von Ausbeutung. Schon vor seiner Vereidigung versicherte er in Richtung Tönnies, Vion und Co: »Wer Fleisch essen will, kann das gerne tun. Wer Fleisch produziert, darf das auch tun.«[5] Und seine Generallinie gegenüber der Landwirtschaft in den ersten Tagen im Amt lautet: »Wertschätzung und Wertschöpfung« für »Landwirte«[6]. Als Ausbeutung, die beendet werden soll, begreift der Minister also das Töten der Tiere oder die Mehrwertaneignung durch große und kleine Unternehmer nicht. Beides soll erhalten werden. Vielmehr beabsichtigt er lediglich, weithin dokumentierte Extreme im Produktionsprozess des Agrobusiness einzuhegen, etwa besonders »lange«[7] Tiertransporte oder die Massentierhaltung.
Ein »Mehr« an »Tierwohl« und »Klimaschutz« ebenso wie etwas mehr Geld für die kleineren Landwirte, so Özdemirs Plan, sind durchaus mit strikteren Auflagen für die Fleischindustrie und mit einer verbindlichen Haltungsform-Kennzeichnung für Fleisch (»Tierwohllabel«) – den beiden halbwegs konkreten Projekten, die er bisher angekündigt hat – vereinbar. Zu deren Finanzierung schweigt er sich bisher allerdings aus. Er betont, die Menschen seien bereit, mehr für »besseres« Fleisch auszugeben und beteuert gleichzeitig: »Fleisch soll kein Luxusgut sein.«[8] Eine moderate Erhöhung des Fleischpreises, zum Beispiel über die Mehrwertsteuerangleichung, wie es Greenpeace und Tönnies unisono ins Spiel gebracht haben[9], ist also wahrscheinlich.
Mit diesen Verlautbarungen und Maßnahmen zeichnete sich schon nach den ersten Tagen im Amt eine für Özdemir typische Politik ab: Er verfolgt eine grün-liberale Modernisierungsstrategie, in diesem Fall gegenüber der Landwirtschaft. Einige der schlimmsten Missstände sollen eingedämmt und einer kleineren Kapitalfraktion (hier den »ökologisch« wirtschaftenden Agrarunternehmen) soll Platz auf dem Markt verschafft werden. Dadurch setzt er handverlesene Forderungen sozialer Bewegungen (etwa nach »mehr Transparenz für Verbraucher«, »fairen Preisen« für Agrarprodukte und nach »artgerechter Tierhaltung«[10]) um und bindet deren in diesen Feldern dominante liberale Fraktionen so politisch ein. Özdemir sieht sein Haus nicht ganz zu Unrecht in der Nähe der jährlichen »Wir-haben-es-satt«-Demonstration in Berlin[11], die von NGOs wie Greenpeace und BUND sowie von Unternehmensverbänden wie Demeter und Bioland getragen wird.
Gleichzeitig tastet der neue Minister die Profite und die Macht der Agrar- und Fleischkonzerne nicht wirklich an. Es mag sein, dass einzelne Unternehmen finanzielle Einbußen hinnehmen müssen. Aber im Großen und Ganzen schützt er ihre Gewinne, die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen und damit den Standort Deutschland. Ähnlich behutsam ist der Ex-Vorsitzende des Bundestagsausschusses für Verkehr (2018–2021) schon mit der Automobilindustrie umgesprungen. Deren Erfolg wollte er mit »einer neuen Politik für Innovationen, Wertschöpfung und Klimaschutz«[12] garantieren. Mit anderen Worten: Wer Veränderungen will, seien sie noch so klein, soll Grüne wählen und als Konsument dafür bezahlen, ob nun für »besseres« Fleisch oder ein E-Auto. Das ist der Sinn hinter dem Motto »Zwischen Umwelt und Wirtschaft gehört kein Oder«[13], das auf Özdemirs Homepage prangt.
Mit diesem Politikansatz ökologischer Modernisierung des Kapitalismus verkörpert der langjährige Bundesvorsitzende der Grünen (2008–2018) geradezu, was die US-Feministin Nancy Fraser »progressiven Neoliberalismus« genannt hat. Mit dem Begriff bezeichnet die Professorin für Politikwissenschaften und Philosophie ein Bündnis verschiedener Kapitalfraktionen und einzelner Gruppen aus den sozialen Bewegungen, das gleichzeitig für eine neoliberale Wirtschafts- und eine liberale, mitunter auf individueller Leistung beruhende Anerkennungspolitik eintritt.[14] Özdemir ist ein Organisator und Exponent dieses Bündnisses in Deutschland.
Wer Deutschland nicht nützt…
Das zeigt sich auch auf den Politikfeldern, die der Sohn türkischer »Gastarbeiter« normalerweise als seine Domäne betrachtet. In der Migrationspolitik zum Beispiel. Einerseits moniert er institutionalisierten Rassismus gegen Nicht-Deutsche. Andererseits fordert der selbsternannte »Verfassungspatriot«[15] von »Leuten, die aus einer anderen sozialen Schicht stammen – ob deutsch oder migrantisch: ›Strengt euch an, seid fleißig, dann steht euch frei, alles zu werden‹.«[16] Als ob gesellschaftlicher Aufstieg in erster Instanz eine Frage individueller Leistung sei – und nicht sozialer Klassenverhältnisse.
Das Engagement für »Integration« des Gründungskurators der Amadeo-Antonio-Stiftung[17] geht ferner einher mit einem Plädoyer für »ein modernes und zukunftsfähiges Einwanderungsgesetz«. Dieses müsse sich »ganz utilitaristisch an den sozialen und ökonomischen Interessen unseres Landes« ausrichten, zu dem er, das sei hinzugefügt, »immer ein positives Verhältnis« gehabt habe. Gleichwohl sei »allen klar«, so stehe es im grünen Wahlprogramm, »nicht jeder Schutzsuchende, der zu uns kommt, kann bleiben«[18]. Wirtschaftlich nützliche und verfassungstreue Migranten, die Mehrwert schaffen, sind also erwünscht und sollen auch möglichst »gleiche Chancen«[19] bekommen. Der Rest soll hingegen bleiben, wo der Pfeffer wächst.
Für jeden Krieg im Namen von »Demokratie« und »Freiheit«
Das Pendant zur »progressiven« Modernisierung der neoliberal-kapitalistischen Ökonomie im Inland ist der »liberale« Imperialismus nach außen. Mit ideologischen Phrasen über Freiheit, bürgerliche Demokratie, Verantwortung und Menschenrechte legitimieren dessen Vertreter Kriegseinsätze zwecks Durchsetzung deutscher und westlicher Macht- und Unternehmensinteressen.
Cem Özdemir hat sich hier in den letzten Jahren besonders profiliert. Er will nicht nur die Bundeswehr »diverser« machen, »mit einem höheren Frauenanteil und LSBTI«[20], um sie besser in der Gesellschaft zu verankern, oder eine »europäische Armee«[21]. Es gibt auch fast keinen Krieg, dem er nicht das Wort geredet hätte – notfalls auch durch die Instrumentalisierung der deutschen Vergangenheit oder des Leids der Zivilbevölkerungen in den betroffenen Regionen.[22]
Der Kosovokrieg 1999? – Habe die Grünen als »Friedenspartei gefestigt«. »Heute sagen wir klar: Es braucht als äußerstes Mittel auch den Einsatz des Militärs, damit Deutschland und Europa ihrer humanitären Verantwortung gerecht werden können.«[23] Afghanistan und Libyen? – »Ich finde es nach wie vor falsch, dass sich Deutschland bei der Libyen-Intervention enthalten hat und habe dem Militäreinsatz in Afghanistan zugestimmt.« Syrien? – Der Falke Özdemir beklagt, dass zu wenig getan wurde. Er sei offen für eine Flugverbotszone gewesen.[24] Das Leib- und Magenthema des bekennenden Transatlantikers ist aber die Konfrontation mit Russland und die westliche Eroberung Osteuropas als Arbeitskräftereservoir, erweiterter Absatzmarkt und Exporteur billiger Rohstoffe. Jüngst verknüpfte er sogar ökologische Modernisierung der Lebensweise mit antirussischer Propaganda: »Weniger Fleisch zu essen, wäre ein Beitrag gegen Putin.«[25] Und natürlich gilt auch für den außenpolitischen Scharfmacher: »Wer Israel angreift, bekommt es mit Deutschland zu tun.«[26]
Wer sich so für die Interessen »Deutschlands« im Ausland ins Zeug legt, ist keine Bedrohung für deutsche Kapitalisten oder deren Ausbeutungsmodell. Einer, der das bereits begriffen hat, ist niemand geringeres als Clemens Tönnies: Der lobte Özdemir bereits für dessen »pragmatische Positionen«[27] als Landwirtschaftsminister.
Raul Lucarelli
Ein Artikel aus dem Zirkular “Hammel & Sittich”, Ausgabe 1, Mai 2022