Der Biodiversitätsverlust hat gravierende Folgen für Mensch, Tier und Klima
Sogar aus dem All sind die Schneisen sichtbar: Von der NASA bereitgestellte Videos zeigen im Zeitraffer, in welchem Ausmaß der Regenwald im Norden Brasiliens seit 1985 dezimiert worden ist. Die Zerstörung kann schon nicht mehr in der Größe einzelner Fußballfelder veranschaulicht werden, sondern es braucht mittlerweile bis zu deren hundertfache Multiplikation, um die Abholzung sichtbar zu machen. Wurden früher, wie NASA-Aufnahmen der 1980er und 1990er zeigen, vor allem kleinere Schneisen von Kleinbauern in den Wald getrieben, werden Rodungen seither von Agrarunternehmen und Viehhaltern großflächig organisiert, vor allem um Weideland für Rinder oder Flächen für den Anbau von Tierfutter zu schaffen.[1] Die Rodungen bedeuten die weltweite Zerstörung von Ökosystemen und Lebensräumen von Menschen, Tieren und Pflanzen, und sie tragen so maßgeblich zu einer gefährlichen globalen Entwicklung bei: dem Rückgang von Biodiversität. Den Rodungen fallen immer mehr sogenannte Biodiversitätshotspots, also besonders artenreiche Ökosysteme wie etwa Urwälder, zum Opfer – auf nur 2,3 Prozent der globalen Landfläche beherbergen solche Hotspots rund 50 Prozent der Pflanzenarten und 77 Prozent der Landwirbeltiere.[2] Was ein lukratives Geschäft für die Agrarfirmen und das Fleischkapital darstellt, hat aber drastische Konsequenzen – für Tiere, Menschen und für unser Klima.
Lebensnotwendige Vielfalt
Die gängige Definition von Biodiversität stützt sich auf drei Bereiche: die allgemeine Artenvielfalt von Lebewesen (Tiere, Pflanzen, Pilze, Bakterien), die genetische Mannigfaltigkeit an Mitgliedern derselben Art und die Vielfalt unterschiedlicher Lebensräume (zum Beispiel Ökosysteme in Form von Wäldern, Steppen oder Gewässerarten). Als Kernbestandteil jedes Ökosystems gewährleistet Biodiversität wichtige Funktionen, etwa die Erhaltung von Luft-, Wasser und Bodenqualität, zum Beispiel durch die Entnahme von CO2 aus der Luft, das Aufrechterhalten der Bodenfruchtbarkeit oder die Filtration von Wasser. Diese Funktionen können in einem Ökosystem nur durch das Zusammenspiel vieler verschiedenartiger Organismen nachhaltig ausgeführt werden.
Der dramatische Rückgang an Biodiversität wurde jüngst vor allem durch das in Zahlen erfasste Artensterben von Wirbeltieren veranschaulicht. Im Durchschnitt sterben derzeit Arten hundertmal schneller aus als in den letzten zehn Millionen Jahren – Tendenz steigend. Gerade in jüngerer Zeit zeigte sich die Abnahme der Artenvielfalt auf alarmierende Weise: Seit 1970 hat sich laut dem WWF die Bestandsgröße aller erfassten Wirbeltierpopulationen weltweit um 68 Prozent verringert, wobei die Zahl in Süd- und Mittelamerika sogar bei erschütternden 94 Prozent liegt. Ein solcher Rückgang ist für Ökosysteme deshalb so gravierend, weil alle Tiere und Pflanzen wichtige Funktionen übernehmen, die wegfallen, sobald diese verschwinden. Das momentan aussterbende Breitmaulnashorn beispielsweise legt weite Strecken zurück, über die es mit seinem Kot Pflanzensamen an verschiedenen Orten verteilt und so gleichmäßiges Pflanzenwachstum unterstützt. Stürbe es aus, hätte dies auch Auswirkungen auf die Pflanzenwelt. Dass das Aussterben einer Art einen Dominoeffekt auslösen kann, hat sich auch in den 1920er-Jahren im Yellowstone-Nationalpark gezeigt: Nachdem die dort lebenden Wölfe ausgerottet worden waren, nahmen die Elch- und Rehpopulationen zu. Diese fraßen Pflanzen an Flussufern ab, was nicht nur dort nistenden Vögeln den Lebensraum stahl, sondern auch zur Erosion der Flussufer führte.[3] Das Ende auch nur einer Art kann somit zu einer Kettenreaktion führen und ein ganzes Ökosystem aus dem Gleichgewicht bringen.
Auch für Menschen, die für ihre Reproduktion auf Biodiversität angewiesen sind, stellt deren Rückgang ein Problem dar. Nicht ohne Grund werden Biodiversität und gesunde Ökosysteme als der »Reichtum der Armen« betitelt. Auf diesem beruhen je nach Quelle 50–90 Prozent des Lebensunterhalts der armen Land- und Waldbevölkerung: Ein gesundes Ökosystem versorgt die in der Nähe lebende Bevölkerung mit Nahrungsmitteln, zudem ist sie für die Wasserversorgung, die Beschaffung von Brennholz oder die Verfügbarkeit von Heilpflanzen von einer intakten Biosphäre abhängig. So sind weltweit noch immer drei Milliarden Menschen auf Holz zum Kochen und Heizen angewiesen, und vier Milliarden Menschen nutzen Heilpflanzen aus der Natur.[4] Ihre Zerstörung hat somit direkte Auswirkungen auf die unmittelbar von ihr abhängige Bevölkerung, die ohnehin zu den ärmsten gehört. Ein Verlust an Biodiversität hat somit letztlich negative Konsequenzen für die Regulation des Klimas, für Flora und Fauna sowie die von intakten Ökosystemen abhängigen Menschen. Forscher und Klimaaktivisten warnen daher weltweit vor ihrem beschleunigten Rückgang. Die Entscheidung zum Raubbau an der Natur und Zerstörung von Lebensräumen wird jedoch von den Kapitalisten getroffen – welche aus der Naturzerstörung nämlich Profit schlagen.
Mehr Produkte, mehr Profite, mehr Biodiversitätsverlust
Der weltweite Biodiversitätsverlust, dessen Rate seit der sogenannten Industriellen Revolution angestiegen ist und in den 1970ern exponentiell zugenommen hat, korreliert nicht zufällig mit der Intensivierung der Umverteilung des Reichtums von der Peripherie in die Zentren im Neoliberalismus, welche auch mit einer Explosion der Warenproduktion und des -transports einhergeht. Weltweit werden heute jährlich nur schon auf dem Seeweg elf Milliarden Tonnen an Rohstoffen und Waren gehandelt – mehr als dreimal so viel wie noch in den 1970er Jahren.[5] Die gleichzeitige Produktionssteigerung an Agrargütern kann jedoch nicht ohne ein spezifisches Produktionssystem in der Landwirtschaft gewährleistet werden: dem Monokulturanbau. Bei diesem soll durch den Anbau einer einzelnen Pflanzenart mit diversen technischen Hilfsmitteln („Inputs“) – vor allem Pestiziden, Herbiziden, Düngemitteln und Arbeitsgeräten – sowie Landveränderungen ein möglichst großer Output generiert werden. Diese Form industrieller Landwirtschaft geht unmittelbar auf Kosten der Biodiversität. Entweder führt der Monokulturanbau auf direktem Weg zur Zerstörung von Lebensräumen, da er oftmals auf eigens gerodeten und umgewandelten Waldflächen stattfindet, oder über den exzessiven Gebrauch von Hilfsmitteln. Der umfangreiche Einsatz von Pestiziden führt beispielsweise zur Verschmutzung naheliegender Gewässer oder zum direkten Tod von Wildtieren durch Vergiftung.
Eine solche extensive Landwirtschaft kann nur mit großem Kapital zum Kauf von Boden und entsprechenden Gerätschaften betrieben werden. Monokulturanbau beruht somit vor allem auf umfassender Kontrolle an Grundeigentum und Gewinnorientierung des Agrobusiness und wird von diesem vorangetrieben. Dabei bereichert sich eine immer kleinere Zahl großer Firmen, die Monopole auf dem Markt halten, die landwirtschaftliche Produktionskette dominieren, die Produktion standardisieren und zentralisiert steuern: Dupont de Nemours, Syngenta und Bayer besitzen heute 75 Prozent der landwirtschaftlichen Inputs. Solche Firmen bieten Saatgut zum passenden Pestizid an, und Düngemittel gleich dazu – eine durchtechnisierte Monokultur, die jegliche Agrobiodiversität, also die Vielfalt von Pflanzen auf einer Agrarfläche, sowie durch Pestizide auch anliegende Ökosysteme ruiniert.[6] Ist die Agrobiodiversität erst einmal zerstört und die Fruchtbarkeit des Bodens verloren, verschlimmern die Konzerne die Probleme noch, indem sie die Landwirtschaft auf vorhandener Fläche weiter intensivieren und landwirtschaftlich genutzte Flächen ausdehnen.[7] Eine solche Landnutzung kann über eine kurze Zeit zwar zu höheren Ernteeinträgen führen und den Agrarfirmen die Kassen füllen. Die Kosten dafür müssen aber unter anderem künftige Generationen ansässiger Menschen zahlen.
Auch der Handel trägt zur Zerstörung der weltweiten Biodiversität bei, beispielsweise durch die zunehmende Einführung invasiver Tier- und Pflanzenarten,[8] welche lokale Arten verdrängen. Die vermehrt gehandelten Produkte müssen transportiert werden, und nicht zuletzt aufgrund der Handelsliberalisierung im Neoliberalismus hat der Handel geradezu explosionsartig zugenommen – um das zweihundertfache in den kapitalistischen Zentren und sogar um das 1200-fache in der Peripherie. Invasive Pflanzen- und Tierarten werden just über jene Handels- oder Verbindungswege eingeführt, welche insbesondere in jüngerer Zeit errichtet worden sind, um Rohstoffe abzuführen und Waren zu transportieren. Ein Beispiel für die verheerenden Konsequenzen ist die Insel Guam: Der Hunger der durch Menschen eingeführten Braunen Nachtbaumnatter sorgte nach dem Zweiten Weltkrieg dafür, dass zehn von zwölf einheimischen Vogelarten und viele Kleintiere ausstarben. Ansässigen Flughunden und Eidechsen fiel so die Nahrung weg.[9]
Faktor Fleischindustrie
Die Fleischindustrie spielt eine zentrale Rolle bei der monokulturellen Intensivierung der Landwirtschaft. Für die Viehhaltung und Tieraufzucht werden riesige Landflächen zu Lasten biodiverser Urwälder erschlossen. So etwa in Brasilien, wo mit JBS der größte Fleischproduzent der Erde angesiedelt ist. Weltweit werden mittlerweile 77 Prozent aller landwirtschaftlichen Flächen für die Viehhaltung und -zucht benötigt. Die indus-trialisierte Fleischproduktion wäre also im heutigen Maßstab ohne Monokulturanbau kaum denkbar,[10] weil nur dieser die gigantischen Mengen der erforderlichen günstigen, kalorienreichen Futtermittel hervorbringt. Das Fleischkapital treibt daher die Ausdehnung der intensivierten Landwirtschaft weiter an – obwohl Fleisch nur 17 Prozent der weltweit konsumierten Kalorien und 33 Prozent der Proteine ausmacht.[11] Die Fleischindustrie ist mit 14,5 Prozent aller emittierten Treibhausgase nicht nur mitverantwortlich für den Klimawandel, sondern ebenso für den Rückgang der Biodiversität.
Der in rasender Geschwindigkeit voranschreitende Rückgang globaler Artenvielfalt wird heute nicht ohne Grund als »Massensterben« bezeichnet. Dieser buchstäblich lebensbedrohliche Prozess ist jedoch keine unvorhersehbare Naturkatastrophe, sondern er ist kapitalgemacht. Die industrialisierte Landwirtschaft erodiert Böden und zerstört Habitate von Tieren – im Namen von Agromultikonzernen wie Archer Daniels Midland und Bunge mit Hauptsitz in den USA, Louis Dreyfus aus den Niederlanden oder Cofco aus China, sowie im Namen von Düngemittel- und Pestizidherstellern wie Syngenta, BASF, Bayer und seinem Tochterunternehmen Monsanto. Insbesondere das Fleischkapital treibt dabei als Hauptabnehmer für Soja oder Weizen als Tierfutter den Raubbau an der Natur sowie die Zerstörung der Artenvielfalt weiter voran.
Hier muss also ansetzen, wer dieser Entwicklung nachhaltig Einhalt gebieten will. Konkrete Maßnahmen wie etwa der Schutz oder Wiederaufbau von Ökosystemen und Biodiversitätshotspots durch den gesetzlichen Entzug von Nutzungsrechten, durch Aufforstungsprogramme oder den Ausbau von Naturschutzreservaten, wären als realpolitische Schritte dahingehend sinnvoll und unterstützenswert. Ein Blick auf die Grundlagen des Raubbaus an der Natur zeigt jedoch, dass es letztlich die monopolistisch strukturierte Produktionsweise der industriellen Agrarpolitik und die kapitalistische Profitmacherei selbst sind, die den Verschleiß der Biodiversität hervorbringen. Das globale Artensterben zu stoppen, muss daher letzten Endes heißen, in die Eigentumsverhältnisse des Agrobusiness einzugreifen. Sollen Menschen, Tiere und funktionierende Ökosysteme eine Zukunft haben und der jetzt schon dramatische Klimanotstand halbwegs abgewendet werden, müssen die Landwirtschaft und ihre in Destruktivkräfte verwandelten Produktivkräfte dem Kapital entzogen und unter demokratische, sozial und ökologisch nachhaltige Planwirtschaft überführt werden. Nur so kann eine sinnvolle Produktion gewährleistet werden, die der pflanzlichen Ernährung dient und das Fortbestehen sowohl der Ökosysteme wie auch der menschlichen Gattung aufrechterhält.
Monika Kern
Ein Artikel aus dem Zirkular “Hammel & Sittich”, Ausgabe 1, Mai 2022