Die Schweizer Volksinitiative gegen Massentierhaltung

Über alten und neuen Tierschutz und weshalb er die Abschaffung der Tierausbeutung nicht voranbringt

Das Schweizer Stimmvolk wird in den nächsten Jahren über die Volksinitiative »Keine Massentierhaltung in der Schweiz« abstimmen können. Der liberalen Denkfabrik Sentience Politics, welche die Initiative im Juni 2018 lanciert hatte, ist es gelungen, die dafür benötigten 100.000 Unterschriften zu sammeln. Unterstützung erhielt sie dabei unter anderem von Tier- und Naturschutz-NGOs, Organisationen der Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung sowie Parlamentariern verschiedener Parteien. Kopf des Initiativkomitees ist die grüne Nationalrätin und Co-Geschäftsleitung von Sentience Politics Meret Schneider. Als die Volksinitiative am 17. September 2019 bei der Bundeskanzlei in Bern feierlich eingereicht wurde, präsentierten sich deren Urheber politisch breit aufgestellt. Als Redner kamen nicht nur Politiker der Grünen, sondern auch der sozialdemokratischen SP und der nationalkonservativen SVP zu Wort, obwohl die beiden letztgenannten Parteien bis heute nicht zu den Unterstützern der Initiative zählen. In ihrer Pressemitteilung schrieb Sentience Politics: »Wohl selten sind sich Bastien Girod von den Grünen, Daniel Jositsch von der SP und Stefan Hofer von der SVP so einig.« Was sind also die Forderungen, die diese Allianz eint?

Die Massentierhaltungsinitiative (MTI) sieht ihrem Wortlaut nach vor, dass der Bund die Würde des Tieres in der landwirtschaftlichen Tierhaltung schützt. Bereits nach geltendem schweizerischem Recht ist die Würde der Kreatur verfassungsrechtlich verankert und das Tierschutzgesetz gibt den Schutz der Tierwürde als seinen Zweck aus. Die Initiative will nun zusätzlich in die Verfassung schreiben, dass die Tierwürde den Anspruch umfasst, nicht in Massentierhaltung zu leben. Diese wird als industrielle Tierhaltung zur möglichst effizienten Gewinnung tierischer Erzeugnisse definiert, bei der das Tierwohl systematisch verletzt wird. Zur Umsetzung der MTI sollen der Gesetz- und der Verordnungsgeber Kriterien insbesondere für eine tierfreundliche Unterbringung und Pflege, den Zugang ins Freie, die Schlachtung und die maximale Gruppengröße pro Stall festlegen und Vorschriften für die Einfuhr von Tieren und tierischen Erzeugnissen zu Ernährungszwecken erlassen.

Tiermord nach Biostandards

Laut Meret Schneider würde die Annahme der MTI »eine radikale Umwälzung, eine kleine Revolution« bedeuten. Liest man sich den Initiativtext jedoch durch, ergibt sich ein ganz anderes Bild. Als konkreten Mindeststandard für die Behandlung der Tiere sieht die Initiative nämlich schlicht die Anforderungen der Bio-Suisse-Richtlinien 2018 vor. Diese beinhalten im Vergleich zu den gesetzlichen Vorschriften zwar gewisse Verbesserungen für die Tiere, sie gewährleisten aber, anders als die Initiative suggeriert, keine Abschaffung der Massentierhaltung. Beispielsweise erlauben sie pro Stalleinheit weiterhin die Haltung von 2.000 Lege-, 4.000 Aufzuchthennen oder 8.000 Küken. Darüber hinaus ermöglicht die Initiative großzügige Übergangsfristen von bis zu 25 Jahren für die Anpassung der Tierhaltung. Das bedeutet, dass die ohnehin nur partiellen Verbesserungen für die Tiere ein Vierteljahrhundert aufgeschoben werden können. Von einer grundlegenden Umwälzung der Nutztierwirtschaft kann also überhaupt nicht die Rede sein.

Schon gar nicht würde die Annahme der MTI dazu führen, dass die Würde des Tieres in der landwirtschaftlichen Haltung geschützt wird. Denn nach wie vor würden Tiere zur Fleischproduktion getötet werden. Der Begriff der Tierwürde kann entgegen der herrschenden Rechtsauffassung nur den Sinn haben, dass Tiere als Individuen und nicht als bloße Objekte behandelt werden. Das Schlachten als ökonomisch motivierte Auslöschung ihres Lebens, die darauf ausgerichtete Haltung und die Verarbeitung der Körper zu Fleischwaren bilden daher den Inbegriff der Verletzung der Tierwürde. Sentience Politics weist in ihrem »Positionspapier zur Initiative« sogar selbst darauf hin, dass »sich ein wirksamer Schutz der Würde des Tieres kaum ohne Lebensschutz denken« lässt. Indem sie aber die Fleischproduktion nach Biostandards dem Stimmvolk als Schutz der Tierwürde verkauft, trägt sie selbst zur Rechtfertigung des industriellen Tiermords bei.

Der Bundesrat (die Regierung der Schweiz) empfiehlt die Ablehnung der MTI und hat einen Vorschlag für einen direkten Gegenentwurf vorgelegt. Er begründete diese Entscheidung damit, dass er das Anliegen grundsätzlich begrüße, die Verankerung privater Biostandards in der Verfassung aber als zu weitgehend ansehe. Zudem erachtet er die Anwendung dieser Standards auf Importe als unvereinbar mit Handelsabkommen und nur sehr schwer umsetzbar. Es besteht somit die Möglichkeit, dass das Stimmvolk an der Urne mit zwei Vorschlägen konfrontiert sein wird, die beide eine tierfreundlichere Lebensmittelproduktion versprechen, de facto aber für die Tiere kaum etwas ändern.

Zurück zum Tierschutz

Die MTI genießt in der Schweizer Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung eine beinahe einhellige und unkritische Unterstützung. Im Initiativkomitee sitzen Personen von zentralen Bewegungsorganisationen wie etwa Tier im Fokus, Animal Rights Switzerland und Pour l’Égalité Animale. Die aktive Beteiligung des Großteils der Tierrechtsbewegung deutet darauf hin, dass sich in ihrem Verhältnis zum Tierschutz ein grundlegender Wandel vollzogen hat. Nachdem sie sich in ihrer historischen Genese für Jahrzehnte in Abgrenzung zum Tierschutz entwickelt hatte, findet gegenwärtig wieder eine Annäherung statt. Der dieser Entwicklung entsprechende politisch-strategische Ansatz wird als »neuer Tierschutz« (engl. New Welfarism) bezeichnet. Der klassische Tierschutz zielt primär darauf ab, Formen der Unterdrückung und Ausbeutung von Tieren einzudämmen, die für unproduktiv oder exzessiv befunden werden, ohne jedoch die Tiere von ihrer Verdinglichung zum Produktionsmittel und zur Ware befreien zu wollen. Im Unterschied dazu schreibt sich der »neue Tierschutz« nicht bloß die Vergrößerung der Käfige, sondern ultimativ auch die Abschaffung der Tierausbeutung auf die Agenda. Dieses Ziel will er Schritt für Schritt mittels Tierschutzreformen erreichen.

Auch wenn der neue Tierschutz hinsichtlich seines Endziels über den klassischen hinausgeht, bleibt er trotzdem Tierschutz. Tierrechts- und Tierbefreiungsorganisationen, die sich diesem Ansatz verschrieben haben, fallen hinter die Kritik zurück, welche die Bewegung einst am Tierschutz formuliert hat. Das Problem des neuen Tierschutzes besteht nicht darin, dass er Reformen für das Tierwohl anstrebt, sondern dass diese eine rein tierschützerische Stoßrichtung haben. Solche Reformen haben in der Vergangenheit nicht zu einer Schwächung der Tierindustrie geführt. Vielmehr haben sie ihr ermöglicht, sich zu modernisieren und ihr Image aufzubessern. Teilweise haben sie sich sogar für das Tierkapital als ökonomisch profitabel erwiesen. Der Tierschutz bildet zudem ein Kernelement des ideologischen Überbaus, mit dem die Nutzung und Tötung von Tieren in der kapitalistischen Produktion gerechtfertigt und verschleiert wird. Heutzutage bezeichnen sich beinahe alle Kapitalisten in der Tierindustrie als »Tierschützer« und werben mit ihren Tierwohlstandards.

Die Defizite des neuen Tierschutzes zeigen sich exemplarisch an der MTI. Der Tierrechtsverein Tier im Fokus schreibt in seiner Internetpublikation »7 Gründe, wieso du die Initiative gegen Massentierhaltung unterschreiben solltest«, diese sei ein »Frontalangriff auf die Tierindustrie« und trage zur »Aufklärung« über das »Schicksal der Schweizer Nutztiere« bei. Im Gegensatz zu dieser Einschätzung steht nicht nur der Wortlaut des Initiativtextes, sondern auch die bisherige öffentliche Debatte. Meret Schneider bewirbt die MTI offen als eine Chance für die Nutztierwirtschaft. So äußerte sie etwa gegenüber der Pendlerzeitung 20 Minuten, dass eine Verschärfung der Vorschriften den lokalen Fleischunternehmern die Möglichkeit biete, sich am Markt zu profilieren. Die Schweiz könne dann »tierische Produkte höchster Qualität anbieten«. Und die Situation der Tiere nach Annahme der Initiative skizziert sie wie folgt: »Wir wollen zurück zu den Bildern à la Heidi, die der Konsument im Kopf hat.« Die medial präsente Initiantin klärt also nicht über das mit der Produktion tierischer Waren notwendig verbundene Leid der Tiere auf. Sie gibt stattdessen vor, die Märchen der Tierindustrie über die Nutztierhaltung wahr werden zu lassen.

Revolutionäre Realpolitik statt Reformismus

Tierschutz, ob neu oder alt, bringt den Kampf für die Befreiung der Tiere nicht voran. Das Unvermögen reformistischer Strategien beruht darauf, dass sie von den ökonomischen Ursachen der Tierausbeutung abstrahieren. So verkennen auch die Initianten der MTI, dass die von ihnen als Massentierhaltung definierte Behandlung der Nutztiere in der Natur der kapitalistischen Produktionsweise begründet liegt. Im Falle der Annahme der Initiative würde sich der Umgang mit den Tieren in der Landwirtschaft weiterhin nicht am Tierwohl, sondern an Kriterien der Rentabilität orientieren, weil die Produktion nach wie vor dem Diktat der Profitmaximierung unterworfen wäre. Nur könnte die Tierindustrie künftig mit Verweis auf die Verfassung damit werben, dass es in der Schweiz keine Massentierhaltung gäbe, und das sogar mit der Bestätigung von Organisationen der Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung. Der Blindheit der Initianten bezüglich der ökonomischen Ursachen der Tierausbeutung entspricht ihr Opportunismus in der Politik: Indem sie versuchen, eine Allianz von linksliberalen bis zu rechtskonservativen Kräften aufzubauen, schüren sie die Illusion, die Tierfrage transzendiere die verschiedenen politischen Lager, statt das Interesse des Kapitals an der Tierausbeutung zu entlarven.

Die Alternative zum Tierschutz bildet nicht die Ablehnung jeglicher Reformen und Kompromisse. Sie besteht in der Entwicklung einer Strategie der revolutionären Realpolitik, die den Kampf für konkrete Verbesserungen auch als Vorbereitung der Umwälzung der kapitalistischen Gesellschaft begreift, um der Ausbeutung und Unterdrückung der beherrschten Klassen und der Tiere ein Ende setzen zu können. Im Sinne einer solchen Politik sollte die Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung den kommenden Abstimmungskampf dafür nutzen, als eigenständiger Akteur aufzutreten, der die öffentliche Debatte über die Grenzen des Tierschutzdiskurses hinaustreibt, anstatt diesen weiter zu befeuern.

Tierrechtsgruppe Zürich

Ein Artikel aus unserer Zeitung “Das Fleischkapital”.