Fleischhegemonie

Oder: Warum die Tierausbeutung immer noch akzeptiert wird

Die Überausbeutung der Tiere in der kapitalistischen Fleischproduktion hat mittlerweile astronomische Ausmaße erreicht. Für die rund 42,5 Milliarden Euro Umsatz im Jahr 2018 des deutschen Fleischkapitals wurden laut Statistischem Bundesamt rund 771 Millionen Hühner, Schweine, Kühe und andere Tiere getötet. Daran können antispeziesistische Appelle, Vegan Outreach und die Öffnung des Massenmarktes für vegane Lebensmittel nichts ändern. Die Experten des World Economic Forum gehen sogar von einer Verdoppelung der globalen Fleischproduktion bis 2050 aus.

Es wäre aber zu kurz gegriffen, die anhaltende aktive Zustimmung und die passive gesellschaftliche Akzeptanz der Tierausbeutung allein auf das individuelle Bedürfnis nach Fleischkonsum, psychologische Dispositionen, speziesistisches Denken oder mangelnde Empathie zurückzuführen. Schließlich gründet die Produktion von Tierwaren in der bürgerlichen Klassengesellschaft auf einem antagonistischen Ausbeutungsverhältnis. Das Fleischkapital beutet in den Schlachthallen – in unterschiedlicher Form, aber im selben Prozess – Lohnarbeiter, Tiere und die Natur aus. Warum aber werden diese Ausbeutungsbeziehungen nicht von großen Teilen der Gesellschaft infrage gestellt?

Bürgerliche Herrschaft: Zwang plus Konsens

Bei der Beantwortung dieser Frage helfen die Arbeiten Antonio Gramscis, marxistischer Philosoph, Schriftsteller und Vorsitzender der Kommunistischen Partei Italiens in den 1920erJahren. Gramsci verwies darauf, dass die ökonomische Ausbeutung durch die Kapitalistenklasse der politischen Herrschaft außerhalb der Betriebe bedarf. Diese Machtausübung ist einerseits repressiv und offen gewaltsam, etwa beim Einsatz von Polizei und Militär. Andererseits ist sie aber auch darauf angelegt, die Zustimmung der Ausgebeuteten zu ihrer Ausbeutung zu organisieren und ihnen ein Leben im Widerspruch zu ermöglichen. Bürgerliche Herrschaft ist also für Gramsci eine Kombination aus Zwang und Konsens.

Solange die Herrschaft des Kapitals nicht direkt herausgefordert wird oder faschistisch ist, überwiegt laut Gramsci der Konsens den Zwang. Die staatlichen Repressionsapparate garantieren im Hintergrund das Privateigentum an den Produktionsmitteln, zum Beispiel an Tieren, und den relativ freien Warenverkehr, etwa den Handel mit Tierprodukten. Gelingt es, einen dauerhaften Konsens zwischen Herrschenden und Beherrschten herzustellen und damit die Ausbeutung zu protegieren, das heißt die Kluft zwischen den Klassen vorübergehend zu überbrücken, spricht Gramsci von »Hegemonie«.

Die erfolgreiche Organisation der Hegemonie basiert auf dem Zusammenwirken von mindestens drei Komponenten. Zunächst sei es nötig, so Gramsci, dass »den Interessen und Tendenzen der Gruppierungen, über welche die Hegemonie ausgeübt werden soll, Rechnung getragen wird«. Die Kapitalistenklasse muss also »Opfer ökonomisch-korporativer Art« bringen, ohne dass diese »das Wesentliche betreffen«. Mit anderen Worten: Ausgewählte Interessen der Arbeiter werden bedient. Die bürgerlichen Eigentums- und Produktionsverhältnisse werden aber nicht angetastet. Zweitens bedarf es einer mit dem Ausbeutungsprozess kompatiblen Lebensweise. Diese ist an den Verkauf von Waren und die Bedürfnisbefriedigung der Arbeiter gebunden, geht aber über individuellen Konsum hinaus. Elemente dieser Alltagskultur sind etwa Entwürfe zur kulturellen und politischen Gestaltung des Lebens und zum Selbstverständnis menschlicher Individuen, also Subjektivitäten und Identitäten. Drittens hängt die Konstruktion einer Hegemonie davon ab, ob es den Kapitalisten glückt, ihre Gedanken zu den vorherrschenden Ideen der Gesellschaft zu machen. Dafür müssen sie Erzählungen schaffen, mit denen Ausbeutung und Herrschaft über Menschen und Tiere plausibel erscheinen, gerechtfertigt und verschleiert werden.

»Die Hegemonie entspringt«, wie Gramsci schrieb, »in der Fabrik.« Das bedeutet: Die Notwendigkeit ihrer Entwicklung hat ihren Ursprung in der Zivilgesellschaft im Widerspruch zwischen Kapital einerseits und Lohnarbeitern, Tieren und Natur andererseits. Außerdem ist damit gemeint, dass die Hegemoniekonstruktion auf die Initiative der Profiteure ökonomischer Ausbeutung zurückgeht. Gleichwohl erstreckt sich die Hegemoniebildung von der Fabrik und der Gesellschaft in den Staat, wo die Kompromisse zwischen den Klassen vom politischen Personal in konkreten Beschlüssen und Gesetzen verdichtet werden.

Die politischen, kulturellen und ideologischen Prozesse der Hegemoniebildung vollziehen sich jedoch auch in relativer Unabhängigkeit von der herrschenden Klasse. Politiker, Künstler, Wissenschaftler und andere reproduzieren, erfinden und vervielfältigen in relativer Selbständigkeit beständig den bürgerlichen Überbau und seine Komponenten in kaleidoskopischen Formen. Die Akteure müssen sich dabei gar nicht zwingend bewusst darüber sein, in welchem Verhältnis sie und ihr Wirken zu den gesellschaftlichen Widersprüchen stehen. Die unmittelbare Rückbindung an Ausbeutung und Herrschaft und ihre intentionale Aufrechterhaltung lockert sich und ist kaum mehr erkennbar.

Demokratisierte Herrschaft über Tiere

Nun können die Ausgebeuteten im Falle der Tiere nicht persönlich in die bürgerliche Hegemonie eingebunden werden. Vielmehr muss das Kapital bei den ausgebeuteten Menschen und vor allem bei jenen, die sich (potenziell) für die Belange der Tiere einsetzen, mit ihrem politisch-kulturellen Angebot Anerkennung finden. Bisher ist es den Fleischmagnaten geglückt, die Fleischhegemonie, also die Zustimmung der subalternen Klasse und ihrer Fraktionen zur Tierausbeutung zwecks Profitproduktion, erfolgreich zu organisieren.

Dafür ist den Subalternen eine Reihe materieller Zugeständnisse gemacht worden. Hier gilt es zunächst zu unterscheiden zwischen »Opfern«, die beim historischen Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus von der Klasse der Kapitalisten erbracht worden sind, um die bürgerliche Produktions- und Verkehrsweise zu installieren, und solchen, die innerhalb der Entwicklung kapitalistischer Formationen vom Fleischkapital gemacht werden. Zu ersteren zählt das Privateigentum an Tieren, das heißt die Möglichkeit, dass alle Menschen über Tiere als Eigentum verfügen dürfen. Durch diese klassenübergreifende Demokratisierung der Herrschaft über die Tiere wird suggeriert, dass im Verhältnis zu ihnen keine Differenz zwischen Arbeitern und Kapitalisten bestünde.

Die Reglementierung der Herrschaft über die Tiere durch Tierschutzgesetze ist ein Beispiel für Konzessionen der zweiten Kategorie. Außerhalb der ökonomischen Ausbeutung und teils auch bei ihrer Ausübung sind über die letzten Jahrzehnte formale gesetzliche Grenzen etabliert worden. Ihnen zufolge dürfen Tieren keine Schmerzen, Leiden oder Schäden zugefügt werden. Es wirkt also zumindest so, als würde das »Wohlbefinden« der »Mitgeschöpfe« gewahrt. Ein anderes, nicht unwesentliches Zugeständnis – zumindest in den imperialistischen Metropolen – ist, dass Fleischprodukte eine erschwingliche Massenware sind. Dies garantiert nicht nur hohe Gewinne für wenige Fleischbarone. Es erlaubt auch dem Großteil der Bevölkerung den kostengünstigen Konsum von Fleisch, das als Hauptbestandteil der Ernährung und als Zeichen von Wohlstand betrachtet wird.

Dieses »Entgegenkommen« der Kapitalisten allein reicht aber nicht aus, um die Schlachtfabriken am Laufen zu halten. Dazu gehört mehr: Das Fleischkapital formt eine ganze karnivore Lebensweise, um seine Geschäfte und Existenz in der Alltagskultur der Menschen zu verankern. Dadurch und durch die dazugehörigen Subjektivitäten und Identitäten sowie eine Vielzahl von Ideologemen wird Tierausbeutung normalisiert, gerechtfertigt und verdunkelt. Sie sorgen dafür, dass auch Menschen zum Erhalt und zur Fortführung von Tierausbeutung beitragen, an der sie selber nicht unmittelbar beteiligt sind.

Karnivore Lebensweise und speziesistische Ideologien

Die Lebensweise der bürgerlichen Gesellschaft ist auf vielfältige Weise karnivor. Im Zentrum steht unzweideutig Fleisch als Lebensmittel. Von der Haute Cuisine bis zur Currywurst – Kochen und Essen dreht sich um Fleisch. Durch die Zentralität des Fleischs in der Ernährung gewährleistet die hochgradig diversifizierte Alltagskultur des Kochens und Essens nicht nur den Verkauf von Fleischwaren. Sie verbindet auch das Bedürfnis nach Nahrungsaufnahme und die Kulturtechnik des Kochens mit der Tierausbeutung. Um diese Verknüpfung herum ist mit der Zeit auch ein von der Fleischproduktion relativ unabhängiger Koch- und EsskulturKosmos entstanden, in dem letztlich nur noch das »Steak«, »Schnitzel« und so weiter in der Pfanne an die Ausbeutung der Tiere erinnert.

Des Weiteren trägt der Fleischkonsum als Symbol zur Identitätsbildung und sozialen Orientierung in der Alltagskultur bei. Fleisch gilt etwa als symbolische Inkarnation von Männlichkeit, Stärke und Dominanz. Komplementär zum Männer-Fleischkult inszenieren sich insbesondere Teile der sogenannten Mittelschicht als besonders ökologisch nachhaltig und gesundheitsbewusst. Zwei Indikatoren dafür sind Flexitarismus und Biofleischkonsum. Dass damit den Tieren nachweislich nicht geholfen wird, ist für das Selbstverständnis bestenfalls zweitrangig. Der Bezug zur Tierausbeutung ist in beiden Fällen trotz der offenkundig affirmativen Kulturpraktiken nur noch mittelbar.

Anders verhält es sich teilweise bei der ideologischen Rechtfertigung der Ausbeutung von Tieren und der Herrschaft über sie, die für die Fleischhegemonie-Konstruktion unerlässlich sind. In der gesellschaftlichen, politischen und wissenschaftlichen Diskussion wird das industrielle Töten mitunter offen legitimiert, zum Beispiel mit dem Verweis auf »das Recht des Stärkeren« oder die Tradition – »Menschen haben schon immer Tiere gegessen«. Das sind die beiden Grundpfeiler des klassischen Speziesismus. Neben diesen chauvinistischen und sozialdarwinistischen Positionen existieren aber auch Begründungen, wie etwa Nahrungsmittelsicherheit, Gesundheit und Wohlstand, deren speziesistischer Herrschaftscharakter nicht direkt ersichtlich ist. Nichtsdestotrotz tragen auch diese Argumentationen dazu bei, Kritik an der Tierausbeutung einzuhegen und Teile der Ausgebeuteten von der mutmaßlichen Notwendigkeit der Fleischproduktion und -konsumtion zu überzeugen.

Proletarische Tierbefreiungskultur

Die Fleischhegemonie überbrückt den Widerspruch zwischen dem Fleischkapital auf der einen und den Lohnabhängigen, den Tieren und der Natur auf der anderen Seite nur, solange die politische Fleischkultur der bürgerlichen Gesellschaft nicht infrage gestellt wird. Daher bedarf es einer sozialistischen Kulturkritik für die Befreiung der Tiere auf allen gesellschaftlichen Ebenen: von der Ernährung über die Kunst bis hin zur Wissenschaft. Diese besondere Form der Ideologiekritik fällt jedoch nur auf einen fruchtbaren Boden, wenn sie Teil einer proletarischen Tierbefreiungspolitik und -gegenkultur ist. Sie muss die Ausbeutungsstrukturen aufdecken, sich an die ganze Bevölkerung richten und sich von der bestehenden veganen Szene- und Subkultur in Form, Inhalt und Qualität ebenso unterscheiden wie vom Vegankommerz.

Entscheidend ist, dass die politischen und kulturellen Gegenmodelle an den ökonomischen Klassenkampf rückgebunden werden. Geschieht dies nicht, verkommen sie zu sich selbst reproduzierenden Parallelwelten und werden anschlussfähig für den neoliberalen, kulturelle Differenzen inwertsetzenden Kapitalismus. Insofern kann auch die passive Akzeptanz der Fleischproduktion und -konsumtion unter den Ausgebeuteten nur überwunden werden, wenn ein antikapitalistisches Tierbefreiungsprojekt diesen zugleich mehr verspricht als die Zugeständnisse, mit denen ihre Zustimmung bisher materiell gesichert worden ist.

Christian Stache

Ein Artikel aus unserer Zeitung “Das Fleischkapital”.