Aktivismus als Selbstzweck

Der Franchise-Protest von Anonymous for the Voiceless

Wer sich für Tierrechte und Tierbefreiung einsetzt, kam in den letzten Jahren kaum umhin, sich mit neuen Zusammenschlüssen aus dem englischsprachigen Raum zu befassen, die wie Pilze aus dem Boden schossen: Sie heißen Anonymous for the Voiceless (AV), Direct Action Everywhere (DxE) oder The Save Movement (Save). Vor allem die australische Organisation AV konnte seit ihrer Gründung 2016 ein beispielloses Wachstum verzeichnen: Rund 1.000 »Chapter« (Ableger) gab es Anfang 2020 weltweit. Ihre Aktivisten gewinnt sie mit einem franchiseartigen Konzept und professioneller Social-Media-Kommunikation. Politische Inhalte über das Propagieren von Veganismus und Tierrechten hinaus sucht man bei AV allerdings vergebens. Der durchgestylte Protest gaukelt Wirksamkeit vor, wo Ausbeutungs- und Eigentumsverhältnisse unangetastet bleiben und Engagement zur bloßen Werbestrategie wird.

Der »effektivste Aktivismus«

Der Einsatz auf der Straße folgt bei AV einem durchgeplanten Konzept: Wer ein Chapter gründet, verpflichtet sich, mindestens einmal im Monat einen »Cube of Truth« zu veranstalten: Dabei stellen sich Aktivisten in Guy-Fawkes-Masken und schwarzer Kleidung in Fußgängerzonen in quadratischer Formation auf und zeigen auf Bildschirmen die Gräueltaten der Tierindustrie. Umrahmt wird der »Cube« mit Schildern, auf denen in verschiedenen Sprachen »Wahrheit« steht. Bleiben Passanten rundherum stehen, werden sie von speziellen Aktivisten, den »Outreachern«, angesprochen. Endet das Gespräch mit Interesse am Veganismus, wird das als »Conversion« (Bekehrung) und Erfolg verbucht.

Die Cubes bieten ein niederschwelliges Mitmach-Angebot: Wer sich mit der abolitionistischen Absicht, Tierausbeutung beenden zu wollen, und dem Propagieren des Veganismus als politischer Methode identifiziert, kann mitwirken. Nur die Diskussion mit Passanten wird erfahreneren, von AV geschulten Aktiven überlassen. Jedes Chapter hat zudem einen regionalen »Organizer«, also einen Verantwortlichen für die Aktivitäten.

Mitgründer und Chef von AV Paul Bashir bezeichnet dieses Modell auf Youtube als »den effektivsten veganen Straßenaktivismus«. Im Grunde handelt es sich aber um klassischen »Vegan Outreach«, also eine altbekannte Strategie liberaler Tierrechts- und Vegangruppen. Überhaupt hat AV wenig selbst erfunden: Das Konzept der Cubes wurde von einer in London entstandenen Aktionsform namens »The Earthlings Experience« übernommen. Auch die verwendeten Masken sind bereits vom Hackerkollektiv Anonymous bekannt.

Wie ein Unternehmen aufgebaut

Das heutige Führungsduo Asal Alamdari und Paul Bashir hatte AV 2016 in Melbourne zusammen mit fünf anderen Aktivisten gegründet. Als Meinungsverschiedenheiten über die Häufigkeit der Aktionen sowie darüber, wer die Organisation präsidiert, aufkamen, haben sie den Zusammenschluss laut der Mitgründer Rochelle Van und Chelsea Kilikidis gekapert. Sie ließen AV auf ihre Namen registrieren und änderten sämtliche Passwörter der Konten in den sozialen Medien, um die anderen Gründer auszuschließen und AV zu einer weltweiten Organisation mit sich selbst an der Spitze aufzubauen. Bashir und Alamdari haben heute die fast alleinige Kontrolle über die AV-Kommunikationskanäle, wie Liberation is Inclusive, ein Zusammenschluss ehemaliger Aktiver in einem Statement zum AV-kritischen Video »Truth of Cube« auf Facebook schreibt.

Bei Demonstrationen, etwa dem Animal Rights March in Köln 2019, tritt AV mit Transparenten auf, die lediglich den Namen der Vereinigung zeigen, inhaltliche Forderungen oder Parolen gibt es dazu aber keine. Es wirkt insgesamt, als solle keine politische Organisation, sondern eine Marke aufgebaut werden.

In der Tat ließen Alamdari und Bashir AV anfangs als »Business« im australischen Handelsregister eintragen, wenngleich sie nach außen den Eindruck erweckten, wohltätig zu agieren. Erst 2018 wurde AV offiziell eine Non-Profit-Organisation. Das Führungsduo behauptet, sie hätten den Aktivismus zunächst aus eigenen Ersparnissen finanziert. Seit dem Einstieg eines Großspenders könnten sie sich jedoch einen kleinen Lohn auszahlen. AV hat allerdings bis heute weder offengelegt, um welche Geldsummen es dabei geht, noch wer der spendable Mäzen ist, geschweige denn, wie aus dessen Unterstützung möglicherweise Abhängigkeiten oder Einflußnahmen auf das Tun der Organisation resultieren. Die Heimlichtuerei ist vor allem darum brisant, weil soziale Bewegungen immer öfter für unternehmerische Zwecke instrumentalisiert werden.

Vorgefertigtes Gesamtpaket

Organisatorisch funktioniert AV analog zum klassischen Franchising-Geschäftsmodell: Jeder kann ein Chapter gründen, wenn er das Standardkonzept umsetzt. Den Teilnehmenden wird ein vorgefertigtes Gesamtpaket vorgegeben, das sie nur ausführen müssen. Zusätzlich fungiert AV auch als eine »Community«, der sie sich zugehörig fühlen können, und fördert Gemeinschaftserlebnisse, etwa durch kollektive Mahlzeiten und Workshops. Ehemalige Aktive berichten aber auch von Konkurrenz um möglichst viele Conversions – Anerkennung gibt es für besonders erfolgreiche Mitglieder, denen der Aufstieg, zum Beispiel zum Organizer, winkt. Dieser Aktivismus hat etwas von neoliberalem Self-Management: In Eigenleistung, jedoch angeleitet von oben, »bekehren« die Aktiven neue Mitglieder für ihre Organisation und erklimmen so die interne Karriereleiter.

Auch darum erinnert AVs professioneller, durchkalkulierter Auftritt mehr an PR-Strategien von Unternehmen als an klassischen Aktivismus. Konsequenterweise sagt AV-Boss Bashir in einem Interview denn auch über sich, er sei in erster Linie Tierrechtsaktivist, darüber hinaus aber noch »viel mehr«: »Ich bin Künstler, ich bin Entwickler, ich bin Unternehmer.« Einer seiner Verdienste bestehe darin, dass er BWL-Kenntnisse auf den Aktivismus übertragen habe: »Ich glaube, durch uns wurde zum ersten Mal Wissen aus dem Verkaufsbereich in den Outreach eingegliedert, so dass es in der Bewegung mittlerweile bekannt ist, dass Verkaufstaktiken, die Menschen während ihrer täglichen Arbeit lernen, nun auch in diesem Arbeitsbereich, der die Welt verändert, angewendet werden können«, prahlt er in einem Youtubevideo.

Mit Trump-Fans für den Vegan-Lifestyle

Ein politisches Programm, dessen Inhalte über den propagierten Veganismus hinausgehen, lehnt Bashir folglich ab: »Ich habe mich nie um Politik geschert. Sie hat in der Tierrechtsbewegung nichts zu suchen«, befindet er in einem weiteren Video. Als politischen Gegner, den er für Tierausbeutung verantwortlich zeichnet, macht er nicht die Tierindustrie aus, sondern alle, die tierische Produkte konsumieren: »Nichtveganer sind kollektiv verantwortlich für die Versklavung, Folter und Ermordung von 2,7 Billionen Tieren jährlich«. Von Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnissen unter Menschen will man bei AV nichts wissen. Stattdessen lautet das Credo: »Hauptsache für die Tiere«.

Konsequenterweise ist die AV-Führungsspitze offen für Aktive aller politischen Richtungen. George Martin, AV-Sprecher aus Großbritannien, frohlockte etwa 2016: »Das ist die wirklich inklusive vegane Bewegung, die ich will: Ich will, dass Feministinnen neben Männerrechtsaktivisten, neben Grünen, neben Trump-Anhängern für die Tiere auf die Straße gehen«. AV-Chef Bashir macht auch keinen Hehl aus seiner Bewunderung für den US-amerikanischen Tierrechtler Gary Yourofsky, der sich selber als Misanthrop bezeichnet und bürgerrechtlichen Bewegungen die Legitimation abspricht, wenn deren Vertreter Fleischesser sind: »One struggle, one fight, animal liberation, F—K human rights!«, wie er das 2015 auf Youtube formulierte.

Bisherige Kritik greift zu kurz

AV weist Vorwürfe wie den der Rechtsoffenheit trotzdem zurück und bringt Kritiker durch den Ausschluss aus internen Chats und Gruppen zum Schweigen. Für Bashir ist das »In-fighting«, also politische Auseinandersetzungen in den eigenen Reihen, ohnehin das größte Problem: »Das Tierausbeutungsimperium macht mir viel weniger Sorgen als die Auseinandersetzungen innerhalb der Bewegung«. Damit reagiert er auf Vorwürfe von Zusammenschlüssen, die AVs Zusammenarbeit mit Rechten aus gutem Grund kritisieren.

Viele Gruppierungen, die darüber hinaus auch AVs hierarchische Organisationsweise, mangelnde Kritikfähigkeit, das Fehlen von finanzieller Transparenz und Wertschätzung der Basis oder den Fokus auf reine Single-Issue-Politik beanstanden, fordern stattdessen einen intersektionalen und an niedrigschwelliger Partizipation orientierten Ansatz. »Eine inklusive Bewegung lebt davon, dass sie sich an der ›schwächsten‹ Gruppe orientiert, für ihre Rechte eintritt und Diskriminierungen nicht duldet«, schreibt etwa der Tierrechtstreff Münster in einem Statement zu AV. Doch wenngleich intersektionale Politik den Anspruch erhebt, Befreiungskämpfe zusammenzudenken, wie es beispielsweise auch die Hannoveraner Tierbefreiungsgruppe Liberation Now fordert, lässt ihr Fokus auf Antidiskriminierung und Inklusion die strukturellen Ursachen von Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnissen letztlich ebenso außer Acht.

Einige AV-kritische Organisationen hinterfragen die Vegan-Outreach-Politik indes gar nicht grundsätzlich, sondern wollen sie bloß diskriminierungsfrei betreiben und halten daher an Aktionsformen nach dem Vorbild der Cubes fest: Liberation is Inclusive etwa bewertet diese als »Bereicherung für die Tierrechtsbewegung« und in der Schweiz veranstalten Aktivisten nun »Circles of Compassion«.

Aktivismus wie eine Vermarktungskampagne

Dabei wäre es vor allem die unternehmensartige Strategie von Protest als (Selbst-)Vermarktung, an der die Tierbefreiungsbewegung Anstoß nehmen müsste. Wo es eine radikale Kritik bürgerlicher Eigentumsverhältnisse und die entsprechende kollektive Organisation bräuchte, greifen Organisationen wie AV das Bedürfnis nach Veränderung in Bezug auf den Umgang mit Tieren auf und überführen es in einen kulturindustriell aufgepeppten und primär symbolischen Aktivismus, der nicht nur politisch völlig wirkungslos ist und von zentralen Problemen ablenkt, solange er bloß Vegan-Lifestyle propagiert. Er verkommt auch zum Selbstzweck, wenn das Promoten der eigenen Organisation und Community letztlich sein einziger Inhalt ist. Und im schlimmsten Fall wird dieser Aktivismus zum Einfallstor für »grüne« Unternehmen, die das Engagement für ihre Kapitalinteressen und den Ausbau veganer Marktsegmente instrumentalisieren.

Andere Zusammenschlüsse wie die eingangs genannten DxE und Save funktionieren allen Unterschieden zum Trotz ähnlich: Das Wachstum der eigenen Organisation beziehungsweise Bewegung ist ein wesentlicher Zweck der Arbeit. Ihre Strategien, sofern vorhanden, stammen bestenfalls aus dem Repertoire des Tierschutzes. Ausbeuter werden zwar in seltenen Fällen genannt, doch die konkreten Forderungen der Zusammenschlüsse an die Politik bleiben allgemein und zahm. Gleichzeitig vermitteln alle den Eindruck maximaler Wirksamkeit, obwohl sie die wirklichen Ursachen der Tierausbeutung nicht anrühren. Dadurch bleibt das Engagement in einem konformen Rahmen und es wird die Illusion geschürt, moralische Appelle und veganer Konsum alleine könnten die Tiere befreien. Das gilt selbst dann, wenn die Appelle mittels militanter Aktionsformen wie Schlachthofbesetzungen vorgebracht werden.

Das Wachstum und die relative Popularität von Organisationen wie AV zeigen jedoch, dass sie ein Thema bearbeiten, das viele bewegt und zunehmende gesellschaftliche Relevanz verzeichnet. Um die Probleme aber an der Wurzel zu packen, bedürfte es einer Politik, welche die Tierausbeuter samt der Grundlage ihrer Produktion angeht und Tierproduktion als politisch-ökonomisches, nicht primär individuelles Problem fasst. Es läge also an einer linken Tierbefreiungsbewegung, das Potenzial der an Veganismus und Tierbefreiung Interessierten aufzugreifen, sie nachhaltig zu politisieren und für einen Kampf gegen die kapitalistische Tierindustrie sowie für deren Rück- und Umbau zu organisieren, statt Tierbefreiung allein als Frage einer möglichst inklusiven und intersektionalen Diskurs- und Skandalisierungspolitik zu fassen. Dafür muss aus der bisherigen Bewegungsgeschichte gelernt werden: Vegan Outreach, Mitleid und Konsumpolitik allein sind stumpfe Schwerter, solange wir nicht in die Produktions- und Eigentumsverhältnisse eingreifen.

Tierrechtsgruppe Zürich

Ein Artikel aus unserer Zeitung “Das Fleischkapital”.