Eine andere Wirklichkeit hervorbringen

Anmerkungen zu revolutionärer Kunst, Gegenkultur und Ästhetik

Der Kapitalismus herrscht zunehmend durch permanente Ästhetisierung der real existierenden Welt. Dafür hat er sich mit der Kulturindustrie eine Apparatur geschaffen, deren Funktion bei Weitem nicht nur darin liegt, jede verwertbare kreative Regung zu vermarkten. Vor allem dient jene als Anlage zur Produktion von falschem Bewusstsein von den Ausbeutungsverhältnissen, die durch die den Massen verabreichte Kultur ideologisch verschleiert oder legitimiert werden. Alles historisch Gewordene erscheint als unabänderlich und daher jeder Widerstand als zwecklos; es soll auch noch der letzte Gedanke daran verschwinden. Und wie etwa der kommerzialisierte Punk und in den »Simpsons« eingelagerte und integrierte Subkultur zeigen: Kulturindustrie liefert in ihrem Rundum-Sorglos-Paket sogar die Rebellion gegen sich selbst mit.

Der 2020 verstorbene nicaraguanische Dichter Ernesto Cardenal forderte einst mit seinem Weckruf »Reißt die Zäune ein, steht alle auf, auch die Toten!« von fortschrittlichen Künstlern die widerständige Konfrontation mit den konkreten falschen Verhältnissen, aber auch, dass sie die Potenziale der Kunst als letztes Bollwerk gegen die Verblendung voll ausschöpfen und das scheinbar Unmögliche als Mögliches erkennbar machen. Es geht also um nichts weniger als darum, die schlechten herrschenden Verhältnisse zu transzendieren und Vorstellungen von der befreiten Gesellschaft aufscheinen zu lassen – nicht um diese, wie es bürgerliche Kunst tut, aus der Ferne als Sehnsuchtsort anzuschmachten, sondern um sie als durch das »größte Kunstwerk« der Menschheit, wie der Komponist Hans Werner Henze die Weltrevolution nannte, realisierbar zu begreifen. »Die Kunst steht gegen die Geschichte, leistet ihr Widerstand, einer Geschichte, welche stets die der Unterdrückung gewesen ist; denn die Kunst unterwirft die Wirklichkeit Gesetzen, die andere als die etablierten sind: den Gesetzen der Form, welche eine andere Wirklichkeit hervorbringt«, verwies Herbert Marcuse auf den subversiven Wesenszug authentischer Kunst, der ihr immanent ist und nicht erst durch manifeste politische Standpunkte, die sie einnehmen und verbreiten kann, hinzukommt. Die ästhetische Form schafft eine radikale Differenz zwischen Kunst und der empirischen Welt und bringt die beiden Sphären in dialektische Bewegung miteinander, durch die sie selbst zum Ausdruck kommt, selbst inhaltliche politische Qualitäten annimmt und über ihre eigenen Grenzen hinausweist.

Als Antithese zur Kulturindustrie achte die authentische Kunst die Massen, »indem sie ihnen gegenübertritt als dem, was sie sein könnten, anstatt ihnen in ihrer entwürdigten Gestalt sich anzupassen«, heißt es in Adornos »Ästhetischer Theorie«. Denn das meiste, was den Lohnabhängigen als »Unterhaltung« zur »Zerstreuung« und »Entspannung« vom tristen Arbeitsalltag vorgesetzt wird, ist nichts anderes als die Deformation (oder gar eine zum Völkischen pervertierte Verzerrung) proletarischer Kultur, die im Bann des neoliberal radikalisierten Kapitalismus heute weitgehend neutralisiert ist und sich erst wieder entfalten muss. Das geschieht nicht bevor »die Beherrschten als emporstrebende, rebellierende

Klasse einen eigenen geistigen Lebensinhalt bekommen; erst wenn sie kämpfen, um drückende soziale, politische, geistige Fesseln zu sprengen: erst dann wird ihr Einfluss auf das künstlerische Kulturerbe der Menschheit zu einem selbständigen und daher wirklich fruchtbaren, zu einem entscheidenden«, brachte Clara Zetkin in ihrem Essay »Kunst und Proletariat« von 1911 die zentrale Erkenntnis des historischen Materialismus für die Kunst und Kultur auf den Punkt: Das gesellschaftliche Sein bestimmt auch das schöpferische Bewusstsein der Massen und die Ästhetik ihres Klassenkampfs.

Was bedeutet das für Theorie und Praxis von Gegenkultur? Solange das Bedürfnis, Kultur zu schaffen und zu rezipieren, von den Herrschenden und ihren Marktgesetzen bestimmt wird, muss das Wachhalten des Gedankens an die Möglichkeit der Weltveränderung und deren Postulat unweigerlich mit einer radikalen Ideologiekritik des zugeteilten Entertainments der rund um die Uhr Nonsens plappernden und Reklame fürs Unerträgliche ausstoßenden Kulturindustrie als Lieferant von angeblich »kleinem Glück« und »einzigem Spaß« der Ausgebeuteten verbunden sein. Das gilt für das falsche Versprechen des Schlagers vom Traumurlaub für alle Tüchtigen am Palmenstrand (wenn sie sich im Callcenter oder anderen Bereichen des Niedriglohnsektors nur genügend anstrengen), für die Lüge, dass im Alkoholkoma gipfelnde Grill- und Junggesellenparties am Wochenende erfülltes Leben sind, erst recht für einen mit Resignation kokettierenden bürgerlichen Realismus, wie er nicht selten von Vertretern der Hamburger Schule verströmt wird, der zynisch für die endgültige Anerkennung einer vorläufigen Niederlage plädiert – »ich habe meinen Frieden gemacht mit den wenigen, die alles haben« (Bernd Begemann). Allemal wenn Konformismus als Opposition camoufliert und die Existenz von Klassenhierarchien geleugnet wird, wie es viele Rapper tun, die sich im linken Milieu etabliert haben und »regressiven Antikapitalismus« skandalisieren, sobald nur jemand von unten auch nur das leiseste Missfallen über die von oben veranlassten Zumutungen artikuliert.

Nicht zuletzt deshalb gehört es zu den vornehmsten Charaktereigenschaften von Kunst und Gegenkultur, die Wahrheit über die Klassengesellschaft zu sagen. In gelungenen Werken findet sich der Abdruck von deren wirklichen Verhältnissen, die ideologisch verhüllt sind. Man denke nur an das Theaterstück »Die Ermittlung« von Peter Weiss aus dem Jahr 1965, das Auschwitz als Treibhaus für die maximalen Mehrwert schöpfende Synthese aus Vernichtung und Ausbeutung (mit null Reproduktionskosten für die Profiteure) beleuchtete und damit das menschheitsverbrecherische Potenzial des Kapitalismus über alle Schmerzgrenzen hinaus freilegte. Oder Ernst Schnabels und Hans Werner Henzes Oratorium und Requiem für Che Guevara »Das Floß der Medusa« von 1968, mit dem niemand weniger als das revolutionäre Kollektivsubjekt, das auf dem Meer von »Federhüten« und »Epaulettenträgern« skrupellos seinem Schicksal überlassen worden war, ans rettende Ufer gebracht wurde, damit es den Kampf aufnehmen konnte, »belehrt von Wirklichkeit, fiebernd, sie umzustürzen«. Beide Werke hatten bei der Bourgeoisie und ihren Medien nicht zufällig Panik und Wut ausgelöst und damit die von ihnen ausgesprochenen Wahrheiten nur noch eindringlicher belegt.

Heute sehen sich Kunst und Gegenkultur mit einer der größten Herausforderungen der Geschichte konfrontiert: Um auf die höchste Not des Planeten Erde vor dem Klimakollaps und Ökozid, der Natur und allem, was in ihr atmet, aufmerksam zu machen und die Solidarität des Lebens einzuklagen, müssen sie sich mit Alarmsirenen Gehör verschaffen, die dem »Schreiklang«, den Bernd Alois Zimmermann in den 1960er-Jahren angesichts der im Kalten Krieg drohenden atomaren Apokalypse in seinen »Soldaten« ausstoßen ließ, in nichts nachsteht – gegen eine mittlerweile kein Außen mehr zulassende und alles übertönende Kulturindustrie. Im Öko-Rave des politisch engagierten Techno-DJ findet sich nicht selten objektiv viel Reklame für einen faulen Green New Deal – und er enthält weitaus weniger Momente, die das sich anbahnende Umschlagen der Quantität von Katastrophen in die Qualität des Endes der Dystopie (durch deren Realisierung) erhellen, als in dem Verstörung und nackte Angst produzierenden Blastbeat, Röcheln und Gekrächze von progressivem Black Metal. Seit Beginn der hochindustrialisierten Moderne gilt: Erst in den Kakophonien, der Dissonanz in den Werken, die sich voll und ganz einer keinen Raum für Trost lassenden Negativität verschrieben haben, wie es etwa Georg Heym mit seinem in »Menschheitsdämmerung« veröffentlichten Gedicht »Der Krieg« (»Pech und Feuer träufet unten auf Gomorrh«) getan hatte, kommen die schrecklichen Konsequenzen der bisher misslungenen Zivilisation und der von ihr gezeitigten Weltenbrände ans Licht. Und erst darin werden die Konturen einer Welt sichtbar, die endlich revolutionäre Perspektiven der Versöhnung zwischen Mensch und Natur eröffnet, die der Reaktionär mit Kulturpessimismus, dekadenter Nekrophilie und nihilistischem Hedonismus erschlägt, der marxistische Humanist hingegen als Koordinaten für den Weg zu der Front zu lesen weiß, an der er zu kämpfen hat.

Eine historisch-materialistische Ästhetik der Befreiung von Mensch und Natur kommt nicht an Alfred Hrdlickas für das Schaffen des kommunistischen Künstlers fundamentaler Erkenntnis vorbei: »Alle Macht in der Kunst geht vom Fleisch aus« – vom quälbaren Leib. Für seine erste künstlerische Auseinandersetzung mit dessen Leiden in Kriegen, Folterkellern, durch unmenschliche Arbeitsbedingungen, Krankheit, Hunger und andere Entbehrung wählte der Bildhauer und Maler nicht zufällig den Schlachthof. Der Aufstand gegen die Schinderei der verletzlichen Körper war gleichzeitig eine Kriegserklärung an den Idealismus und dessen Verachtung des Fleisches und Schmerzes von Mensch und Tier – und noch mehr: Er verweist auf eine Schnittstelle zwischen Kunst und Wirklichkeit, die Hrdlicka mit seinem Diktum »Die bildende Kunst ist in ihrem gewissen Sinn Inkarnation« freilegte.

Ideologiekritische und aufklärerische Kunst und Gegenkultur wären keine, wenn ihre Theorie nicht auch die Wahrheit über sie selbst, vor allem die Grenzen ihrer Macht sagen würde: Ohne Vergeistigung des Stofflichen keine Kunst, somit kann diese nicht unmittelbar die Realität verändern. Das Elend und Grauen der Gewaltherrschaft im Kapitalismus können nur »vermittels des Als-ob« ausgedrückt werden, so der marxistische Kunsttheoretiker Moshe Zuckermann über die unüberwindbare Kluft zwischen Kunst und Leben, die gesehen werden muss, um nicht Pathos, Sentimentalität und Illusionen zu verfallen. So könne etwa Brechts »Mutter Courage« nie mehr als eine Parabel für den leidvollen Grundzustand des Menschen im Stande der Unfreiheit und der »stumme Schrei« der Figur nicht der »Schrei des real Leidenden, nur der Bühnenschrei eines das Leid Darstellenden« sein.

Aber Arseni Awraamows »Sinfonie der Fabriksirenen«, die Kampflieder Hanns Eislers, Erwin Piscators proletarische »Roter Rummel«-Revue, die zarte Poesie der Nueva-Canción-Bewegung in Lateinamerika und die Liebesgedichte von Erich Fried haben bewiesen: In Zeiten des Aufbruchs wie der historischen Finsternis (des faschistischen Terrors) können Kunst und Gegenkultur als Schaufenster einer besseren Welt und als Waffe der Kritik an der bestehenden auf das Bewusstsein der Menschen einwirken, deren Verhältnis zueinander schließlich die Geschichte bestimmt. Damit nehmen sie vermittelt auch »Gestalt von Praxis« (Adorno) an, und es liegt an allen, die auf der richtigen Seite der Barrikade stehen, ob diese als revolutionäre zum Zuge kommt.

Susann Witt-Stahl

Ein Artikel aus unserer Zeitung “Das Fleischkapital”.