Die Solidarität des Lebens einklagen

von Johanna Bröse, kritisch-lesen.de

„Fangen wir mit dem Tagesordnungspunkt 1 an. Das ist die Situation der ausländischen Werksarbeiternehmer. Ich möchte jetzt von vornherein um eins bitten […]: Es ist nicht unsere Aufgabe, einen Unternehmer zu kritisieren, der diese Werksarbeiternehmer beschäftigt, das ist nicht die Aufgabe des Integrationsrats“.

Es tritt auf: Der Integrationsrat der Stadt Rheda-Wiedenbrück im sogenannten Schweinegürtel, in dem seit Jahren die katastrophale Lage der Arbeiter:innen in den Fleischkonzernen – „‚Wegwerfmenschen‘‚ für das Kapital“ (S. 4) – bekannt ist. Eine anwesende Arbeitsrechtaktivistin darf einige Worte an den Rat richten. Es sei „gerade die Wohnsituation, die uns sehr beschäftigt und ich denke schon, dass es auf Gesetzeswegen Möglichkeiten gibt, zu unterbinden, dass Menschen hier wie Schweine leben müssen.“ Aus dem Integrationsrat heraus spricht eine uninteressierte Stimme: „Können Sie Beispiele nennen?“. Gleich darauf scheint die Lösung auf: „Wir müssen vielleicht auch mal wieder für ein Stück Fleisch ein bisschen mehr Geld bezahlen, das ist also ein gesellschaftliches Problem. Die Gesellschaft muss den Wandel erfahren, dann zieht die Politik schon nach.“ Kein Wort mehr über die kapitalistische Verwertungs- und Ausbeutungslogik der Fleischunternehmen. Abgang Integrationsrat.

Im Dokumentarfilm „Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit“ der Regisseurin Yulia Lokshina treffen episches Theater und ungeschönter Alltag aufeinander; in Regionen wie dem Schweinegürtel, in denen die großen Fleischkonzerne wie Tönnies massiven Einfluss auf Alltagsleben und Politik haben. Lokshina verwebt den die brutalen Arbeitsbedingungen von Werkvertragsarbeiter:innen in der Schlachtfabrik mit den Proben eines Schüler:innentheaters zum Brecht’schen Drama „Die Heilige Johanna der Schlachthöfe“. Sie erschafft damit eine eindrückliche – und hintergründig marxistische – Studie der Lebenswelt ihrer Protagonist:innen, in der das Grauen der global agierenden Fleischfabriken für Mensch wie Tier, die allumfassende Einflussnahme der Fleischkonzerne auf Alltag und Leben und die Möglichkeiten des Aufbegehrens aufblitzen.

Übersetzt für Kommunist:innen könnten wir hier auch von Imperialismus, Hegemonie und Klassenkampf sprechen. Das macht zumindest das Bündnis Marxismus und Tierbefreiung, das im Frühjahr 2021 eine Zeitung mit dem Titel „Das Fleischkapital“ veröffentlicht hat. Der Redaktion geht es darum, eine kritische, marxistische Analysen der Fleischindustrie und ihrer Politik sowie der Bedingungen des Widerstands gegen sie bereitzustellen.

Gemeinsame Gegner

Seit Anfang 2021 verbietet das Arbeitsschutzkontrollgesetz (ASKG) Werkverträge und Leiharbeit beim Schlachten und Zerhacken. Im Beitrag von Christin Bernhold und John Lütten bezweifeln die Autor:innen allerdings, dass diese Neuregelungen „die Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit in der Fleischindustrie grundlegend verändern“ (S. 4). Tönnies-Sprecher Vielstädte sieht das in einem Beitrag des Deutschlandfunk ähnlich. Auf die Frage, ob sich die Situation für die osteuropäischen Arbeiter:innen etwas ändere, wenn sie nun von Tönnies direkt, und nicht mehr über Subunternehmen eingestellt würden, antwortet er: „Nein, das nicht. Die Veränderung für die Mitarbeiter ist der Briefkopf auf dem Abrechnungsbogen.“

Das deutsche Fleischkapital profitiert insbesonders von internationalen Ausbeutungs- und Abhängigkeitsverhältnissen. Vor allem die herrschenden Klassen der imperialistischen Zentren sind die Gewinnerinnen der globalen Kapitalakkumulation und -verteilung. Die ausbeuterischen Verhältnisse, das macht Stefanie aus der Zeitungs-Redaktion in einem gemeinsamen Gespräch für das re:volt magazine deutlich, werden durch die kapitalistische Produktionsweise nicht „zufällig, sondern systematisch“ hervorgebracht:

„wenn PHW und Co. (Große Player im Fleischbusiness, Anm. JB) in dem osteuropäischen Land investieren, dann findet dort nicht nur die Ausbeutung von Arbeitern und Tieren unter dem Kommando deutscher Kapitalisten statt, sondern die Profite, die damit gemacht werden, landen auch in hiesigen Unternehmenszentralen – bei den Profiteuren in den imperialistischen Zentren.“ (Bröse 2021)

Im Kapitel „Superspreader Fleischkapital“ werden Entstehungszusammenhänge von Pandemien, etwa der aktuellen Covid-19, von Christin Bernhold und Christian Stache als Teil des „übergreifenden Problems der ökologischen Zerstörung durch den Kapitalismus“ dargestellt. Die beiden machen aber auch deutlich, dass die Störungen im normalen kapitalistischen Betriebsablauf oligopoler Fleischfabriken kein grundlegendes Umdenken befördern – im Gegenteil: Seuchen und Infektionskrankheiten „[…] die Märkte“ (S. 17), auch wenn kurzfristig an einigen Stellen Umsatzeinbußen kompensiert werden müssen. Das Sichtbarwerden der desaströsen Zustände führt also nicht zwangsläufig zu Verbesserungen, sondern kann im Sinne der Unternehmer der Sättigung des hiesigen Fleischmarktes entgegenwirken. In Brechts „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ erklärt der Fleischfabrikant Cridle seinem bankrotten Kollegen:

Jetzt bist du aus, und ich sperr zu und warte
Bis sich der Markt erholt. Ich wasche meine Höfe
Und öl die Messer durch und stell mir einige
Von diesen neuen Packmaschinen auf, mit denen man
Ein hübsches Sümmchen Arbeitslohn einspart.
`s gibt da ein neues System. Höchst listig ist’s. […] Das Schwein
Schlachtet sich selbst. Und macht sich selbst zur Wurst.“ (Brecht 1955, S. 169)

„Wofür muss der Staat sorgen für die Reichen?“ fragt der Theaterpädagoge in Lokshinas Film – und bekommt von den marxistisch völlig unbedarften Jugendlichen die Antwort „…damit die Reichen die Armen ausbeuten können“. Im besten Fall springt der Staat nämlich für entgangenen Profit ein, etwa mit Lohnkostenerstattung. Wie bei Tönnies, als 2020 für mehrere Wochen die Produktion in einigen Werken stillstehen musste, weil sich über 2.000 der dort Beschäftigten mit Covid-19 infiziert hatten. Die Autor:innen sagen diesen großen Superspreadern den Kampf an: Sie sollen „einer Konversion unterzogen und demokratischer Kontrolle unterstellt“ (S. 17) werden.

Der Kraftriegel der Arbeiter:innenklasse

Man fragt sich anhand dieser Verhältnisse: Warum reicht das Wissen um die skandalösen Zustände in den Fleischfabriken nicht aus, um dagegen breiteren Widerstand zu organisieren? Mit Rückgriff auf Gramsci führt Christian Stache den Begriff „Fleischhegemonie“ (S. 8) ein, der die erfolgreiche Organisation der Macht in der kapitalistischen Fleischproduktion beschreibt. Im Gespräch mit Stefanie und Daniel wird nochmals deutlich, wie tiefgreifend die politisch-gesellschaftlichen Lebensweisen davon beeinflusst werden:

„zum Inventar der Fleischhegemonie [gehört] eine ganze Reihe an, wie wir sagen würden, speziesistischen Ideologien, also Denkformen und Diskursstrategien, mit denen die Überausbeutung von und die Herrschaft über Tiere direkt oder mittelbar gerechtfertigt und verschleiert wird.“ (Bröse 2021)

Tierbefreiung ist indes nicht nur Veganismus und sollte deshalb nicht gleich „reflexartig die marxistische Kritik individualistischen Handelns“ (S. 13) hervorrufen. Die Broschüre wendet sich damit auch insbesondere an klassische Linke, die beim Thema Tierbefreiung sofort anfangen, von der leckeren Salamiwurst beim Frühstück zu schwärmen oder pauschal eine fleischlose Ernährung als Hipster-Luxus abtun. Die Kritik der karnivoren Lebensweise ist Teil, aber nicht Ziel von revolutionärer empathischer Praxis. Grundlegend geht es um die Überwindung der ausbeuterischen Klassenverhältnisse.

Produktions- und Eigentumsverhältnisse angreifen!

Im Gespräch mit den Herausgeber:innen der Broschüre machen diese auf eine wichtige Unterscheidung aufmerksam: „Es sind eben nicht „die Menschen“, die industriell organisierte Tiertötungen in Auftrag geben, sondern “die Teile der Bourgeoisie, die damit Profite erwirtschaften – das Fleischkapital.“ Damit üben sie auch Kritik an den eigenen Reihen: „Die Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung muss darum auch aufhören, die Arbeiter der Industrie für die Situation der Tiere verantwortlich zu machen.“ (Bröse 2021).

Die Broschüre wendet sich damit gegen ein Verständnis von bürgerlichem, moralisierenden Tierschutz, das den Kampf um ein Ende der Unterdrückung der beherrschten Klassen und der Tiere nicht voranbringt. Die Tierrechtsgruppe Zürich macht dies in einem Artikel über die anstehende liberale Volksabstimmung zum Thema Massentierhaltung in der Schweiz deutlich. Vielmehr müsse eine Strategie entwickelt werden, eine „revolutionäre Realpolitik“, welche die Debatten um die Reform der Massentierhaltung „über die Grenzen des Tierschutzdiskurses hinaustreibt“ (S. 19) – hin zu einer klassenkämpferischen Umwälzung der Gesellschaft.

Solidarisch knüpft das Bündnis MuTB an den Aktionen des Offenen Antikapitalistischen Klimatreffen München (OAKM) an. Ein informatives Interview mit den Umweltaktivist:innen zeigt: Klimaaktivismus geht über Fridays for Future hinaus – „echten Klimaschutz können wir nur gegen die heutigen Vertreter der staatlichen Politik durchsetzen“(S. 22). Das OAKM formuliert für ihre politische Arbeit zwei wichtige Punkte: Es geht um „den Kampf um Veränderungen in der Produktion“ und um den „Standpunkt der lohnabhängigen Klasse“. Es geht also nicht nur um die Wurst. Es geht um Klassenkampf, den die Arbeiter:innen und die Klimabewegung gemeinsam führen müssen.

Kunst und Widerstand

Blick in Kunst und Kultur – was kann weg (Spoiler: ganz schön viel!) und wohin müsste es gehen? Der Titel des Beitrags von Moshe Zuckermann ist ein Hinweis. „Tiefste Menschlichkeit“, aber am besten in revolutionären Zeiten. Zuckermann zieht Verbindungslinien von Wladimir Majakowskis „Ode an die Revolution“ von 1918 über die Rezeption von Rosa Luxemburgs zärtlichem Verhältnis zu Tieren bis ins Heute. Auch bei Susann Witt-Stahls ideologiekritischem und brachialem Beitrag geht es um die Überwindung von „Elend und Grauen“ (S. 29) der kapitalistischen Gewaltherrschaft durch authentische Kunst, revolutionäre Gegenkultur und historisch-materialistische Ästhetik (etwa am Beispiel der Schlachthof-Bilder des kommunistischen Künstlers Alfred Hrdlicka). „Die Kunst steht gegen die Geschichte, leistet ihr Widerstand, einer Geschichte, welche stets die der Unterdrückung gewesen ist“ (S. 28) wird Herbert Marcuse zitiert. Auf den Folgeseiten werden Literatur, Film und Musik vorgestellt, die dieser Stoßrichtung folgen, etwa der Roman „Wie die Schweine“ der argentinischen Autorin Agustina Bazterrica oder MC Albinos Album „Boom Rap. Revolution“.

Mit der Zeitung wird dem Unterfangen, eine befreite Gesellschaft zu erkämpfen und „die Solidarität des Lebens einzuklagen“ (S. 29) auf vielfältigen Ebenen zugearbeitet. Einige wenige Wermutstropfen: Die Zugänglichkeit der Zeitung, die sich, trotz Bemühungen um Dichte und Verständlichkeit, eher in den marxistisch geschulten Studierstuben als im betrieblichen Pausenraum lesen lässt – und das etwas überdimensionierte Abarbeiten an allen anderen Gruppen oder Positionen, die nicht zielführend bis reaktionär sind, anstatt noch mehr konkrete Optionen für Aufbau einer gemeinsamen Bewegung darzulegen.

Die Zeitung “Das Fleischkapital” kann hier bestellt werden.

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Zusätzlich verwendete Quellen:

Bertolt Brecht (1955). Heilige Johanna der Schlachthöfe. In: Stücke 1. Aufbau Verlag mit Genehmigung des Suhrkamp Verlags, Frankfurt a. M.

Johanna Bröse (2021). „Klassenkampf und Tierbefreiung haben objektiv denselben Gegner: das Kapital“. Interview mit dem Bündnis „Marxismus und Tierbefreiung“, re:volt magazine, 11.10.2021.

Yulia Lokshina (2020). Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit. Dokumentarfilm, 90 min. Vertrieb bei jipfilm.

Deutschlandfunk (2020). Wie bei der Mafia. Pfarrer Kossen kämpft gegen die Fleischindustrie. Beitrag vom 11.11.2020.