»Der Mensch« ist für Marx Ausgangs- und Fluchtpunkt von Theorie und Praxis.
Eine solche humanistische Einschätzung ist eine Fehlinterpretation des marxschen Werks, eine Verkürzung des Marxismus und eine Verengung des sozialistischen Projekts. Es steht außer Frage, dass Theorie und Praxis im Marxismus von der Lage und den Interessen der ausgebeuteten und beherrschten Arbeiterklasse ausgeht, deren Angehörige allesamt Menschen sind. Zweifellos ist es auch das Ziel des marxschen Projekts, eine Gesellschaft einzurichten, in der alle Menschen nach ihren Fähigkeiten und nach ihren Bedürfnissen leben und arbeiten können. Für Marx und Marxisten sind zudem die zentralen Akteure bei der Umwälzung der jetzigen Gesellschaftsformation zu einer sozialistischen Menschen – aber nicht in erster Instanz als Menschen, sondern als Angehörige der ausbeuteten sozialen Klasse.
Es gibt mindestens vier Argumente, die dagegensprechen, dass sich der Marxismus um den oder die Menschen im philosophisch-anthropologischen oder biologisch-evolutiven Sinne dreht. Erstens ist Marxʼ Theorie und Kritik der gegenwärtigen Gesellschaft sozial-relational. Das heißt, es geht darum, die bestimmenden gesellschaftlichen Beziehungen zwischen sozialen Gruppen innerhalb einer historisch konkreten Gesellschaft ausgehend von den materiellen Eigentums-, Produktions- und Verteilungsverhältnissen ausfindig zu machen. Diese Relationen werden zwar von Menschen gemacht und unterhalten. Aber sowohl in der Produktion als auch in der Zirkulation verhalten sie sich in erster Instanz als Angehörige ihrer sozialen Klassen und nicht als Angehörige ihrer Spezies.
Zweitens ist Marxʼ Geschichtsauffassung historisch-materialistisch. Das beinhaltet unter anderem, dass die vergesellschafteten Menschen als Angehörige der Klassen nicht nur Verhältnisse zueinander, sondern auch zu ihrer »inneren« und zur »äußeren« Natur eingehen. Wie Marx und Engels schon früh richtig feststellen, ist die Geschichte immer eine Einheit aus Menschen- und Naturgeschichte. Das heißt, auch die Natur und die natürlichen Lebewesen und Prozesse gelten ihnen als Kräfte, die durch ihre Praxis Geschichte machen. Historiographisch lässt sich der Gegenstand Marxens und des Marxismus also ebenfalls nicht auf die Menschen verengen.
Drittens existieren die Menschen in Marxʼ Theorie und Geschichtsverständnis immer nur als konkrete geschichtliche und vergesellschaftete Wesen, als Produkte ihrer sozialen Beziehungen und ihrer Beziehungen zur Natur. »Der Mensch«, ausschließlich als biologisches, anthropologisches oder gar überhistorisches Wesen begriffen, welches der Natur und den Tieren gegenübertritt, mag in der Philosophie oder Biologie als theoretische Abstraktion existieren, in der Wirklichkeit gibt es ihn nicht, ergo auch nicht für Marx.
Viertens schließlich kritisiert Marx in seinem Werk nicht nur die Klassenausbeutung innerhalb des menschlichen Kollektivs, sondern auch ausgiebig die Exploitation der Natur und sogar der Tiere. Die kapitalistische Entwicklung untergrabe systematisch »die Springquellen alles Reichtums« (MEW 23: 530), die Natur und die Arbeiter, heißt es in seinem Hauptwerk. In den Worten Thomas Müntzers erklärt er es an anderer Stelle zudem »für unerträglich, ›daß alle Kreatur zum Eigentum gemacht worden‹« ist, »›die Fische im Wasser, die Vögel in der Luft‹« (MEW 1: 375). Anders ausgedrückt: »Der Mensch« ist also weder in der Theorie noch in der Praxis der Dreh- und Angelpunkt für Marx.