Ein neuer Sammelband analysiert den helvetischen Kapitalismus
Die gedankliche Assoziation von Reichtum mit der Eidgenossenschaft, die zunächst ein Bündnis aus Kantonen gewesen ist, aus dem dann die heutige Schweiz hervorging, reicht bis vor die Industrialisierung zurück. Bereits der Autor Jean Racine, ein Vertreter der französischen Klassik, soll gesagt haben: »Wo kein Geld, da kein Schweizer.« Bis heute steckt ein Körnchen Wahrheit darin, ist die helvetische Konföderation doch in die Finanzströme des internationalen Kapitals ebenso eingebunden wie sich auch ihre »neutrale« Außenpolitik tatsächlich danach richtet, was »ihrer Wirtschaft« nützt.
Gleichwohl waren die größten Teile der Schweizer Bevölkerung bis ins späte 19. Jahrhundert hinein sehr arm. Hauptsächlich während der letzten eineinhalb Jahrhunderte haben sich die einzigartigen Merkmale entwickelt, die die kapitalistischen Verhältnisse des kleinen Lands heutzutage auszeichnen und die sich in die bekannten Stereotype übersetzt haben. Doch dieses Modell des Kapitalismus scheint in einer Krise zu stecken.
Zumindest sieht der ehemalige FDP-Bundesrat (der Bundesrat heißt in Deutschland Bundesminister) und einstmalige Verwaltungsratspräsident der Schweizer Megabank UBS Kaspar Villiger eine solche heraufziehen. Er kommentierte in der überregionalen Zürcher Zeitung Tagesanzeiger nach der Ankündigung der neuen US-Zollpolitik, dass das »Schweizer Erfolgsmodell« vor den »größten Herausforderungen seit dem Zweiten Weltkrieg«[1] stehe. Gleichzeitig schiene es aber hierzulande »noch niemanden so richtig zu beunruhigen«[2]. »Die paradiesischen Verhältnisse von einst«, so schrieb er, in welchen die »unabhängige kleine Exportnation«[3] florierte, seien von Einschränkungen des Freihandels und globalen Machtkämpfen, Krieg und Desinformation, demografischer Verschiebung und wachsender Staatsverschuldung bedroht. Es sei an der Zeit, so meint er, dass die Bevölkerung »aus dem Schlaf der Seligen aufwacht«[4].
Doch was ist überhaupt das »Schweizer Erfolgsmodell«? Wie kam der einst durch Armut gezeichnete Alpenstaat dahin, dass man ihn heute für gewöhnlich als Wohlstandoase in Europa wahrnimmt? Was sind die Charakteristika, die den Kapitalismus in der Schweiz ausmachen? Genau diesen Fragen widmet sich der im März 2025 beim Mandelbaum Verlag erschienene Sammelband »Schweizer Kapitalismus«.
Linke Analysen zur Schweiz stellen noch immer eine Rarität dar. Das von Arman Spéth, Dominic Iten und Lukas Brügger herausgegebene Buch versucht, diese Lücke zu füllen. Die Publikation setzt sich aus 15 Beiträgen zusammen, darunter zwei Interviews. Sie beleuchten auf unterschiedliche Weise verschiedene Aspekte der historischen Entwicklung des Kapitalismus in der Schweiz sowie den Zustand der gegenwärtigen Verhältnisse im kleinen Land. Das erklärte Ziel der AutorInnen ist es, mit den im In- und Ausland festgesetzten Legenden über den föderalen Bundesstaat aufzuräumen.
Dabei geht es nicht um Wilhelm Tell oder den Rütlischwur. Es handelt sich um wirkmächtige ideologische Vorstellungen, die bis heute die Eigen- und Fremdwahrnehmung der Schweiz bestimmen. Dazu gehört etwa das Bild, dass die Eidgenossenschaft eine mustergültige Demokratie sei, in der die gesamte Bevölkerung materiell gut gestellt ist. Ein anderes Trugbild suggeriert, dass sich die Schweiz seit Jahrhunderten aus moralischer Überzeugung in den internationalen Beziehungen politisch neutral verhalte und dementsprechend frei von Kolonialismus und imperialistischen Interessen sei.
Formell gesehen ist der Sammelband in drei Abschnitte eingeteilt. Während die Artikel im ersten Teil die »Geschichte und Gegenwart des Schweizer Kapitalismus« thematisieren, analysieren diejenigen des zweiten Abschnitts die »Sozialstrukturen und Klassenverhältnisse der Schweiz«. Die letzten vier Beiträge sind unter der Überschrift »Staat, Politik und Öffentlichkeit« aufgeführt. Dem Inhalt nach lässt sich das Buch jedoch besser in zwei grobe Themenblöcke unterteilen, innerhalb derer jeweils auch eine gewisse theoretische Kohärenz zu finden ist. Auf der einen Seite untersuchen etliche AutorInnen die Rolle der Schweiz in der globalen Ökonomie. Auf der anderen Seite richtet sich das Augenmerk der zweiten Gruppe von Beiträgen auf die Verhältnisse innerhalb der Helvetischen Republik. Auf diese beiden Aspekte wird im Folgenden nacheinander anhand der exemplarischen Abhandlung einiger Artikel kurz eingegangen.
Eine Profiteurin des Imperialismus
In ihrer Analyse zeigen Arman Spéth, Mitherausgeber des Sammelbands sowie ehemaliges Redaktionsmitglied der Schweizer Zeitschrift »Widerspruch«, und der Ökonom und emeritierte Professor für Volkswirtschaftslehre der ETH Zürich Michael Graff auf, wie zum Ende des 20. Jahrhunderts und zu Beginn des 21. Jahrhunderts die Schweizer Wirtschaft aufgrund des »Akkumulationszwangs des Kapitals«[5] in den Weltmarkt expandierte. »Trotz hoher Reallöhne im Inland«[6] bleibe sie durch »Patentschutz, monopolistische Konkurrenz oder steuerliche Vorteile eines Schweizer Firmensitzes«[7] durchaus »international konkurrenzfähig oder hat Nischen besetzt«[8]. Für ein rohstoffarmes Land weist die Ökonomie der kleinen Alpennation zudem bis heute einen außergewöhnlich hohen Exportanteil auf. Dies macht sie den Autoren zufolge auch besonders anfällig für Krisen auf dem Weltmarkt, besonders im Angesicht der neuen protektionistischen Welle – der Globalisierungstrend nimmt nach ihrer Analyse seit der Finanzkrise 2008 ab.
Der marxistische Ökonom, Autor mehrerer Bücher zu den großen Krisen des Kapitalismus und rege Blogger Michael Roberts erklärt in seinem aus dem Englischen übersetzten Beitrag, wie die Schweiz historisch zum Finanzplatz aufstieg. Die angespannten Verhältnisse während des Deutsch-Französischen Kriegs von 1870/71 und der beiden Weltkriege hätten den Prozess, durch den die Banken zu zentralen Verwaltern von ausländischem Vermögen wurden, beschleunigt. Einerseits konnte sie den Reichtum der Reichen in den Wirren des Krieges sicherstellen. Andererseits war der Franken während des Zweiten Weltkriegs die »einzige international konvertierbare Währung während der kompletten Dauer des Krieges«, wodurch er sich »nicht nur als gute, sondern als einzige Option an[bot]«[9]. Aufgrund ihrer intransparenten Praxis konnte sich die Schweiz zugleich als »das erste Steuerparadies«[10] etablieren. Obwohl »die geheimniskrämerische private Vermögensverwaltung«[11] heute zurückgegangen ist (früher wurde fast die Hälfte der Offshore-Vermögen in der Schweiz geparkt, heute nur noch 22 Prozent – Tendenz sinkend), bleibt sie ein wichtiges internationales Finanzzentrum. Es wird aber gegenwärtig durch das, wie der kürzliche Untergang der Großbank Crédit Suisse zeigt, weitaus krisenanfälligere, instabilere und wenig regulierte Investmentbanking-Geschäft dominiert.
Die Ökonomin Mascha Madörin, die unter anderem die Plattform »Economiefeministe« lancierte, erwähnt in ihrem Artikel zudem das Alleinstellungsmerkmal der Eidgenossenschaft, »dass sie spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg als Drehscheibe nicht nur für internationale Finanzgeschäfte, sondern auch für den sogenannten Transithandel dient«[12]. Darunter sind »Handels- oder Finanzgeschäfte« zusammengefasst, »bei denen Unternehmen/Banken in der Schweiz als Vermittler für Geschäfte wesentlich außerhalb der Schweiz«[13] agieren – natürlich unter Abzweigung eines beträchtlichen Teils des Profits, der beim Schweizer Finanzkapital verbleibt.
Aus den Analysen in diesen Artikeln wird klar, dass die kleine Alpenrepublik durch ihre Funktion als Finanzplatz und zentrale Drehscheibe des internationalen Handels eine Profiteurin des Imperialismus ist. Die durch ihn hervorgebrachten und gestützten weltweiten Asymmetrien zwischen den Nationen der westlichen Zentren und der Peripherie ermöglichen es Ländern wie der Schweiz, ökonomisch abhängigen Staaten ihre wirtschaftlichen Bedingungen aufzuzwingen. Dadurch müssen diejenigen auch die enorme helvetische Profitabschöpfung hinnehmen.
Auslagerung der Naturzerstörung
Neben ihrer Rolle als internationales Finanzzentrum gilt für die Eidgenossenschaft auch, dass sie zu den Profiteuren der globalen Politischen Ökologie gehört. Zumindest argumentieren das mehrere AutorInnen des Sammelbands. Der Historiker und Assistenzdozent der Universität Bern Juri Auderset skizziert in seinem Beitrag, dass »der schweizerische Weg in den fossilen Kapitalismus«[14] keineswegs außergewöhnlich war. Obwohl das kleine Land kaum Ressourcen besitzt, so schlussfolgert er, habe die Entstehung und Entwicklung der kapitalistischen Verhältnisse in der Schweiz – wie auch in anderen westlichen Industrienationen – auf der imperialistischen Ausbeutung der Kolonien beruht. Zum Beispiel für die Beschaffung des Rohmaterials für die aufblühende Textilindustrie ab Ende des 18. Jahrhunderts. Doch solche Verhältnisse sind nicht nur Teil der Schweizer Geschichte.
Die Wiener UmweltwissenschaftlerInnen Anke Schaffartzik, Hanspeter Wieland und Christian Dorninger beziehen sich positiv auf das Konzept des ökologisch ungleichen Tauschs. Damit meinen sie, dass biophysische Ressourcen, meist aus dem Globalen Süden, importiert werden, während die helvetischen Umweltschäden dorthin externalisiert werden. Konkret geschehe dies im Bergbau, in der intensiven Landwirtschaft oder Holzwirtschaft. Deren Güter würden günstig eingeführt, die mit ihrer Produktion verbundenen Naturzerstörungen wirkten sich aber vorwiegend an den Produktionsstandorten in der Peripherie aus. In ihrem Artikel liefern sie folglich empirische Daten, um zu zeigen, wie viele der weltweiten Ressourcen in Wirklichkeit für den Endverbrauch in der Schweiz benötigt werden.
Innerhalb der helvetischen Grenzen werden jährlich »nur« 13 Millionen Tonnen fossile Energieträger wie Öl, Gas und Kohle verbraucht. Das mag vergleichsweise nachhaltig erscheinen. Den AutorInnen zufolge sieht die Realität aber anders aus. Denn global werden laut ihrer Studie insgesamt 50 Millionen Tonnen fossiler Energieträger benötigt, um die Waren herzustellen, die letztlich in der Schweiz konsumiert werden. Der substanzielle Teil klimarelevanten Naturverbrauchs fällt folglich bei der im Ausland stattfindenden Produktion von Gütern für die Eidgenossen an. Bei der Energie sei der effektive Verbrauch sogar fünfmal größer als der Verbrauch im Inland. Einen krassen Unterschied zeigen auch ihre Berechnungen bezüglich Treibhausgasemissionen (44 vs. 119 Millionen CO2 im Jahr 2020) und Landflächennutzung: global wird eine Fläche, die etwa dreimal derjenigen der Gesamtschweiz entspricht, benötigt, um ihr hohes Konsumlevel zu ermöglichen.
Man muss den ökologischen Imperialismus nicht mit dem Konzept des (ökologisch) ungleichen Tauschs beschreiben. Aber die aufgearbeiteten Daten lassen zweifelsohne eine Einordnung der Schweiz in der globalen Naturzerstörung zu. Obwohl die Alpennation durch ihren hohen Ressourcenverschleiß ein relevanter Treiber der Naturzerstörung ist, erlaubt ihr ihre Stellung in der imperialistischen Kette gleichzeitig, die negativen Konsequenzen für Mensch, Tier und Natur auszulagern. Diese kulminieren folglich auch zu einem großen Teil in den ökonomisch schwächsten Gegenden der Erde.
»Neutral« zum eigenen Vorteil
»Da schadet dä Wirtschaft« ist das Totschlagargument der Schweizer Politik. Mehr noch als in den umliegenden Staaten gilt hier das Primat der Ökonomie. Zu Lippenbekenntnissen, zum Beispiel im Kampf gegen den Klimawandel, lässt sich die Regierung auch hier hinreißen. Schlussendlich wird aber gemacht, was Profit generiert. Dieses Kredo gilt nicht nur im Bereich der Ökologie, sondern auch in der Außenpolitik.
Das Verhältnis der Schweiz zu Apartheid-Südafrika, das der Historiker Georg Kreis zum Sammelband beigesteuert hat, ist ein Paradebeispiel dafür. Zwar forderte die Eidgenossenschaft die Einhaltung der Menschenrechte. Trotzdem sah sie unter Berufung auf die Wirtschaftsfreiheit während der 1980er-Jahre von jeglichen ökonomischen Sanktionen ab. Schon damals diskreditiere man Forderungen nach einem wirtschaftlichen Boykott als »Diskriminierung«[15]. Die Narrative wiederholen sich also – nur heute mit Bezug auf den Nahen Osten.
Der Mitherausgeber des Sammelbands und freie Journalist Dominic Iten zeichnet in seinem Beitrag »Die Schweizer Neutralität als kleinstaatlicher Opportunismus« nach, wie auch die außenpolitische Strategie der herrschenden Klasse in der Schweiz in erster Linie ökonomischen Interessen folgte. Als Kompromiss zwischen den damaligen Großmächten oktroyierten diese der Schweiz beim Wiener Kongress von 1815 erstmals offiziell ihre Neutralität auf. Das zahlte sich laut Iten wirtschaftlich aus: Man konnte an der ökonomischen Ausbeutung sämtlicher Kolonien beteiligt sein und das auch noch, ohne selbst militärisch involviert sein zu müssen. Im Verlauf des Jahrhunderts wurde die Neutralität dann kontinuierlich gegen außen verteidigt, zum Beispiel gegen Drohungen Bismarcks, der sich darüber echauffierte, dass sich aufgrund des Sozialistengesetzes viel linke politische Arbeit in die Schweiz verlagerte. Damit wurde sie im Inneren zur Staatsräson erhoben.
In den Weltkriegen verhinderte die Neutralität der Schweiz nicht nur das Auseinanderbrechen des mehrsprachigen Landes. Wie Iten aufzeigt, entpuppte sich diese außenpolitische Haltung auch in jener Zeit als lukrative Methode, Reichtum anzuhäufen: Die Schweiz »profitierte mit Waffen- und Finanzgeschäften von den Kriegen der anderen und stärkte ihre Position als Finanzdrehscheibe und Steueroase mit politischer Stabilität und einer Außenpolitik der ›Guten Dienste‹«[16]. Während des Zweiten Weltkriegs bot die Neutralität dem Autor zufolge der Schweiz gar die Möglichkeit, sich in den Wirtschaftsraum des faschistischen Deutschlands zu integrieren, ohne gleichzeitig an dessen Politik partizipieren zu müssen. Zwar handelte die Alpennation auch mit den Alliierten, doch der Austausch mit dem sogenannten Dritten Reich sei von einer anderen Größenordnung gewesen – und enthielt auch Waffenlieferungen. Im Kalten Krieg diente die Schweiz dann zusammen mit den anderen neutralen Staaten als Puffer zwischen der NATO und dem Warschauer Pakt.
Hinter der Idee der politischen Neutralität – die spätestens seit dem Krieg in der Ukraine wieder heiß diskutiert wird und politisch umkämpft ist –, das stellt Iten in seinem Beitrag klar, stehen ökonomische Interessen. Unter dem hohen diplomatischen Druck der Europäischen Union auf die eidgenössische Regierung, die EU-Wirtschaftssanktionen gegen Russland zu übernehmen, sah man sich in Bern in jüngerer Vergangenheit einmal mehr dazu gezwungen, nach dem Kosten-Nutzen-Prinzip abzuwägen. Angesichts der Unmöglichkeit, weiter mit beiden Seiten zu handeln, zog die herrschende Klasse eine Ausrichtung an den westlichen Ökonomien dem ungebremsten Zufluss russischen Gelds vor. Vermutlich sind die Geschäfte mit Frankfurt, London und New York immer noch einträglicher.
Innerhalb der zunehmend instabilen internationalen Verhältnisse scheint die kleine Alpenrepublik auch der Überzeugung zu sein, dass ihre Wirtschaftsflüsse am besten vom Westen gesichert werden. Die kontinuierlich angestrebte Annäherung der Schweiz an die NATO, das aktuelle Bestreben, die Bestimmungen über Kriegsmaterialexporte zu lockern, oder die Ukraine-»Friedenskonferenz«, welche 2024 unter Ausschluss von Russland stattfand, offenbaren die geopolitische Dimension ihrer ökonomischen Verhältnisse. Statt der Förderung von Frieden zwischen den Völkern dient der Begriff der »politischen Neutralität« dabei als bürgerliches Ideologem zur Rechtfertigung der Interessen der herrschenden Klasse.
Eidgenossenschaft = Klassengesellschaft
Die Aneignung enormer Profite aus dem internationalen Handel erlaubte der Schweiz, zum Land mit einem der weltweit höchsten Durchschnittsvermögen aufzusteigen. Mit im Vergleich zu anderen Ländern relativ hohen Löhnen und der Existenz einer besonders ausgeprägten Mittelklasse bringt sie eine hohe soziale Stabilität im Inneren hervor. Insbesondere Letzteres macht das Land wiederum attraktiv als Finanzplatz und Drehscheibe des internationalen Handels. Doch trotz der materiellen Zugeständnisse der Herrschenden an Teile der Bevölkerung ist die helvetische Republik durch krasse Ungleichheiten gekennzeichnet. Eine Reihe von Artikeln im Sammelband belegt diese Tatsache.
Die beiden Mitglieder des linken Schweizer Thinktanks »Denknetz« Hans Baumann und Robert Fluder zeigen in ihrem Beitrag, dass das reichste Prozent der Menschen in der Schweiz über fast die Hälfte des Gesamtvermögens verfügt. Während diese kleine Elite des Alpenstaats im Jahr 2000 noch über rund 270 Milliarden besitzt, sind es mittlerweile bereits über eine Billion. Im Vergleich mit anderen Staaten, so die Autoren, wird deutlich, »dass die Schweiz nicht nur eine der besonders ungleichen Verteilungen aufweist, sondern dass diese Ungleichheit in den letzten Jahren auch stärker zugenommen hat als in vergleichbaren Ländern«[17].
Die Kehrseite dieser krassen und rasant zunehmenden Konzentration des Reichtums ist, dass Berechnungen von Baumann und Fluder zufolge, die ärmeren 55 Prozent der Bevölkerung der baldigen Neun-Millionen-Nation im Durchschnitt ein Vermögen von gerade einmal 7.500 Franken haben. Damit lässt es sich in der Regel im vermeintlichen mitteleuropäischen »Paradies« kaum viel länger als einen Monat überleben. Zumal es sich lediglich um einen rechnerischen Durchschnittswert handelt. Den aktuell über 700.000 Schweizern, die von Einkommensarmut betroffen sind, hilft ein fiktives Vermögen jedenfalls nichts.
Die Gründe, die Baumann und Fluder für diese riesige und schnell wachsende Ungleichheit identifizieren, sind einerseits, dass Vermögenseinkommen und Erbschaften im Vergleich zu Löhnen als Einkommensquelle immer mehr an Bedeutung zunehmen – was das Wachstum der Ungleichheit direkt perpetuiert. Andererseits fehlen Umverteilungsmechanismen von oben nach unten, beziehungsweise sind diese nicht genug ausgeprägt. So verfolgt die Schweiz eine Steuerpolitik im Interesse der Besitzenden: Die Erbschaftssteuer wurde abgeschafft, die Vermögens- und Unternehmenssteuern sind niedrig und die Progression der Einkommenssteuer ist nach oben hin schwach. Außerdem führt der Wettbewerb zwischen den Kantonen zu weiteren Steuersenkungen. Damit sinken die Einnahmen des Staates, die schließlich ohnehin nicht in großem Maße den Bedürftigen zukommen.
Madörin argumentiert in ihrem oben bereits genannten Artikel zudem, dass der Schweizer Staat neben seinen Einnahmen, die er als Finanzplatz generiert, die Steuern so tief ansetzen könne, weil die soziale Sicherheit vor allem durch die Lohnabhängigen finanziert werde. Der angeblich existenzsichernde Teil der Rente, die AHV, wird zum Beispiel nicht progressiv finanziert, d.h. am Ende des Monats führt jeder Gehaltsempfänger unabhängig von der Höhe des Einkommens den gleichen Anteil an den Staat ab. Die Finanzierung des Gesundheitswesens über die Krankenkassenbeiträge ist sogar gänzlich einkommens- und vermögensunabhängig. Auch zeigt Madörin in ihrem Artikel auf, dass die Schweiz Europameisterin beim gender pay gap ist: »Frauen im Erwerbsalter und wohnhaft in der Schweiz verdienten in den Jahren 2014 bis 2018 jährlich mit ihrer Erwerbsarbeit brutto rund 100 Milliarden Franken weniger als Männer.«[18]
Ein weiteres Standbein der schweizerischen Anhäufung und Konzentration von Vermögen bildet die Überausbeutung migrantischer Arbeiter. Wie die Soziologin Jacqueline Kalbermatter in ihrer Fallstudie darlegt, stellt die staatliche Migrationspolitik sicher, dass Schweizer Unternehmen genügend Arbeitskräfte finden, die bereit sind, auch unter prekarisierten Bedingungen zu arbeiten, wie sie zum Beispiel in der Logistik vorherrschen. Indem Arbeitslosigkeit als Integrationsdefizit behandelt wird, ist das Bleiberecht direkt an die Bereitschaft gekoppelt, sich ausbeuten zu lassen. Für diese Fraktion der Arbeiterklasse sei es des Weiteren kaum möglich, durch Aus- und Weiterbildungen den prekären Verhältnissen zu entkommen. Als Gründe erwähnt Kalbermatter Sprachhürden, die Notwendigkeit, mehreren Arbeiten nebeneinander nachzukommen, oder verbreitete Arbeit auf Abruf, die jegliche Planung erschwert.
Eine detaillierte Klassenanalyse der helvetischen Republik fehlt im Buch leider. Trotzdem erinnern eine Reihe von AutorInnen des Sammelbands daran, dass auch die reiche Eidgenossenschaft eine Klassengesellschaft ist. Nicht nur ist der größte Teil der Bevölkerung im wahrsten Sinne des Wortes lohnabhängig, es findet auch eine massive Überausbeutung von Frauen und migrantischen Arbeitern statt. Der, relativ zu anderen Ländern gesehen, hohe Lebensstandard, der die Schweiz für Menschen aus dem Ausland attraktiv macht, erlaubt den Unternehmen, die Erhaltung eines unerschöpflichen Pools an Arbeitskraft aus den untersten Abteilungen des Proletariats. Gleichzeitig konzentriert das krass ungleich verteilte Vermögen die Entscheidungsmacht über das ökonomische Geschehen in immer wenigeren Händen.
Wertkritik und Neue Marx-Lektüre treffen auf Sozialdemokratie
Zusammenfassend ergeben sich aus dem Buch zwei Perspektiven auf das »Schweizer Erfolgsmodell«. Einerseits wird gezeigt, wie ein signifikanter Teil des Reichtums der kleinen Alpennation auf einer enormen Profitabschöpfung durch Imperialismus basiert. Andererseits wird ein Bild der helvetischen Gesellschaft gezeichnet, in der dieser Reichtum keineswegs allen zugutekommt.
Das Aufzeigen, dass auch der »Schweizer Kapitalismus« letzten Endes ein System der Aneignung unbezahlter Arbeit ist – im globalen wie im lokalen Kontext – kommt dem Buch als großes Verdienst zu. Solche Aufklärungsarbeit ist dringend notwendig, gerade in der heutigen Zeit der sich zuspitzenden Widersprüche von steigenden Lebenshaltungskosten über Rechtsruck bis hin zu Aufrüstung und Kriegen. Obwohl die verschiedenen Beiträge des Sammelbands einige Daten, Beschreibungen und Gegennarrative liefern, bleiben sie jedoch meist auf einer rein deskriptiven Ebene. Neben der Vermittlung der beiden Teile, der imperialistischen Positionierung in den internationalen Verhältnissen und der Klassenstruktur innerhalb der Schweiz, fehlt eine revolutionär-internationalistische Perspektive, die praktisch über die dargestellten Zustände hinausweist. Doch diese doppelte Beschränkung hängt zusammen und ist kein Zufall.
Die Texte des Sammelbands unterscheiden sich nicht nur thematisch substanziell, sondern auch in ihrer jeweiligen theoretischen Ausrichtung. Etliche der Beiträge lassen sich nicht einer klaren politischen Linie oder spezifischen linken Strömung zuordnen. Doch unter denjenigen, bei denen eine solche deutlicher durchscheint, sind zwei Haupttrends erkennbar.
Zum einen sind die Analysen zu den Klassenverhältnissen im Inneren stark sozialdemokratisch geprägt. Sie tragen sehr wohl dazu bei, die tatsächlichen Verhältnisse empirisch zu erfassen. Die konkreten Forderungen, die entweder explizit formuliert werden, meistens aber eher implizit mitschwingen, bewegen sich jedoch hauptsächlich im klassischen Rahmen von Steuerpolitik und Ausbau öffentlicher Dienstleistungen. Entsprechend wird auf eine Orientierung an der Überwindung der kapitalistischen Produktions- und Eigentumsverhältnisse verzichtet – Reformvorschläge ersetzen revolutionäre Politik.
Damit erliegt man einer linken Variante helvetischer Konsenspolitik: Wenn wir uns nur genügend hin zur Mitte bewegten, werde es machbarer, Mehrheiten (in dem Teil der Bevölkerung, in dem sich parlamentarische Entscheide abspielen) für unsere Anliegen zu organisieren. Doch diese Strategie verwässert die eigenen Positionen über die Zeit bis zur Unkenntlichkeit. Innerhalb dieses Diskurses kann man vielleicht noch von Klassenkampf reden, ihn aber definitiv nicht mehr führen. Eine solche Einschränkung der Perspektive durch das strikte Festhalten an den parlamentarischen Spielregeln ist eine Seite der problematischen politisch-strategischen Ausrichtung des Sammelbands.
Zum anderen argumentieren einzelne Artikel zur Rolle der Schweiz innerhalb der globalen Produktions- und Austauschverhältnisse so, als ob die Verantwortlichkeit für die Ausbeutung nicht bei den Schweizer Kapitalisten läge. Während die AutorInnen zwar die imperialistischen Verflechtungen des kleinen, reichen Staates offenlegen, stellen sie durchgehend die Schweiz als Ganzes als Profiteurin dar. Spéth und Graff zufolge, ist es zum Beispiel schlichtweg die »Akkumulationslogik des Kapitals«[19], die die Nation dazu bewege, zur internationalen Ausbeuterin zu werden. Diese Sichtweise steht in direktem Gegensatz zu den Erkenntnissen des komplementären Teils, der ja gerade zeigt, dass die Verfügungsmacht über Produktionsmittel und Reichtum bei einer personell kleinen Kapitalistenklasse liegt. Es ist aber nicht die Schweiz oder ihre ganze Bevölkerung als solche, die in den internationalen Ausbeutungsverhältnissen mitmischt und davon profitiert, wie solche Artikel zum Teil suggerieren, sondern es dominiert eine kleine Gruppe der Besitzenden.
Dazu kommt die Zitierung von Robert Kurz, Mitbegründers der Wertkritik, durch die Herausgeber im Vorwort, der Verweis auf »konkret«- und »Jungle World«-Autor Tomasz Konicz oder die Referenz auf die Charakterisierung des Kapitalismus als subjektlose »Herrschaft der Wertabstraktion«[20]. All diese Versatzstücke weisen auf ein strukturalistisches und zirkulationistisches Verständnis des Kapitalismus hin, das unter anderem die Neue Marx-Lektüre charakterisiert.
Bei allen Unterschieden ist der Neuen Marx-Lektüre und der Sozialdemokratie etwas gemein: Das Handeln der Klassen als politische Akteure gerät völlig aus dem Blick, womit der »Schweizer Kapitalismus« letztlich als unüberwindbar erscheint. Was für Linke diesen beiden Ansätzen folgend noch zu tun übrig bleibt, ist, entweder auf das Wertgesetz zu hoffen, das den großen Kladderadatsch von selber herbeiführt, oder auf den bürgerlichen Parlamentarismus zu setzen. Konkret hieße dies Abwarten und Teetrinken, bis das »Erfolgsmodell in der Krise« ist – wie es dann auch im Untertitel zum Buch heißt – oder ja, »linke« Parteien wählen.
Das Übergehen der Arbeiterklasse als Subjekt der Geschichte ist mehr als nur eine theoretische Banalität. Es ist ein Ausdruck der gegenwärtigen politischen Ohnmacht in Angesicht von ökonomischer Krise, imperialistischen Kriegen und der Enttäuschung über die Integration von Fraktionen der schweizerischen Arbeiterklasse und der Arbeiterbewegung in das »Erfolgsmodell«. Natürlich gilt es, die gesellschaftliche Lage zu analysieren und die Strategie den vorherrschenden Bedingungen anzupassen. Doch statt die Schwäche der Linken auf ideologischer Ebene zu reproduzieren, wäre es geboten, dagegen anzukämpfen und auf die Konstituierung des revolutionären Subjekts hinzuarbeiten. Indem man zum Beispiel darlegte, wie auch die gesellschaftlichen Verhältnisse des »Schweizer Kapitalismus« das Resultat spezifischer Handlungen von Klassen sind, würde klar, dass Veränderungen kollektiv erkämpft werden können und müssen.
Wie kämpft man im »Gehirn des Monsters«?
Eine absolute Ausnahme im Buch hinsichtlich ihrer Methode stellt das Aufdecken des Oligopols der schweizerischen Medienlandschaft durch den Mitherausgeber Lukas Brügger und den Publizisten Eugen Rieser dar. Sie zeigen nicht nur, dass von »176 Medienmarken 102 mehrheitlich im Besitz der zehn größten Schweizer Medienkonzerne« sind, sondern porträtieren auch »die SRG SSR, die TX Group, Ringier, CH Media«[21], die zusammen mehr als die Hälfte des Markts beherrschen. Das Benennen der spezifischen Akteure klärt über die konkreten Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnisse auf und lässt auch den »Schweizer Kapitalismus« angreifbar erscheinen.
Durch die konkrete Analyse der konkreten Situation lassen sich die Player ans Licht zerren, die in der Schweiz von der Einbettung der Eidgenossenschaft in die imperialistischen Beziehungen und zugleich vom Ausbeutungsmodell im Rahmen des Nationalstaats profitieren. Anhand der Identifikation solcher bestimmten Angriffsziele lassen sich auch die Widersprüche zusammenziehen. Mit dem Offenlegen der Tatsache, dass sich die Profiteure der internationalen Profitabschöpfung mit der herrschenden Klasse innerhalb der Schweiz überschneiden, könnte die lokale zur globalen Sphäre in Bezug gesetzt werden.
Der Imperialismus der Schweiz basiert letzten Endes auf ihrer Existenz als Klassengesellschaft, d.h. auf den in ihr vorherrschenden kapitalistischen Eigentums- und Produktionsverhältnissen. Damit haben die Arbeiterklasse der Schweiz und die von Glencore, Nestlé und anderen multinationalen Konzernen mit Sitz in der Schweiz ausgebeuteten »Verdammten dieser Erde« die gleichen Feinde. Ausbeutung außerhalb der Schweiz bedingt die Ausbeutung im Inneren. Eine revolutionär-internationalistische Perspektive für die Schweiz hängt daher davon ab, dass Antiimperialismus und Klassenkampf als zwei Seiten desselben Franken betrachtet werden.
Als der ehemalige UNO-Sonderberichterstatter und Nationalrat (Mitglied einer der beiden Kammern des Schweizer Parlaments) der Sozialdemokratischen Partei Jean Ziegler im April 1964 als Chauffeur von Che Guevara in Genf tätig war, bat er den Comandante darum, ihn mit nach Kuba zu nehmen. Doch jener erwiderte, dass das »Gehirn des Monsters«[22] in der Schweiz sei und er deshalb hier für die sozialistische Revolution kämpfen müsse. Die zentrale Frage ist jedoch, wie das unter den lähmenden Bedingungen des »Schweizer Erfolgsmodells« auszusehen hätte. Das Herausarbeiten eines solchen Ansatzes wäre vielleicht eine zu große Erwartung an das Buch. Gleichzeitig stellen die gegenwärtigen Zustände hohe Anforderungen und solchen Problemen müssen wir uns als Linke stellen, um adäquate Antworten zu entwickeln – oder mit eingerollten Fahnen unterzugehen.
Daniel Hessen
Ein Artikel aus dem Zirkular “Hammel & Sittich”, Ausgabe 7, September 2025