Im Fleischwolf des Kapitals

Vor 120 Jahren erschien Upton Sinclairs Roman »The Jungle«

Erster Teil
Im Jahr 1905 erschien Upton Sinclairs Enthüllungsroman »The Jungle«. Die darin geschilderten Produktionsbedingungen im damals größten Schlachthofkomplex der Welt, den Union Stock Yards in Chicago, lösten einen internationalen Skandal aus. Zu Recherchezwecken hatte der junge Schriftsteller monatelang unter den Arbeitern der Fleischfabriken gelebt und gearbeitet.
Eine Erinnerung.

Herbst 1902, New York: Der 24-jährige Upton Sinclair erhält vom Sozialisten Leonard Abbott einige Broschüren überreicht, die er mit wachsender Begeisterung liest. Es sei gewesen »wie der Zusammenbruch von Gefängnismauern, die meinen Geist umschlossen gehalten hatten«[1], wird er später rückblickend schreiben. Denn: »Es waren tatsächlich noch andere da, die dachten wie ich, die das sahen, was auch mir nach und nach klar geworden war: des Übels Kern lag darin, dass die gesamtgesellschaftlichen Schätze, die von der Natur geschaffen sind und die jeder zum Leben braucht, den Balgereien des Marktes und dem Delirium der Spekulation unterlagen.«[2]

Zwei Jahre später charakterisiert der junge Schriftsteller sich selbst als »red-hot radical«[3], und diese politische Überzeugung wird fortan zu einer der Haupttriebfedern seines literarischen Schaffens. Er schließt sich der Sozialistischen Partei Amerikas an, die um die Jahrhundertwende im Aufschwung begriffen ist: Eine der wichtigsten Zeitungen der Sozialisten, »Appeal to Reason«, hat Auflagen von über einer halben Million.

»Die erste Berührung in seinem neuen Leben mit den Phänomenen der Ausbeutung der Massen durch eine monopolartige Schlüsselindustrie ergab sich durch einen brutal niedergeschlagenen Streik der Schlachthofarbeiter in Chicago im Sommer 1904. Sinclair schrieb einen flammenden Aufruf, der im ›Appeal to Reason‹ erschien und in 30.000 Sonderdrucken in den Schlachthöfen verteilt wurde«[4], berichtet der Amerikanist Dieter Herms in seiner Einführung ins Leben und Werk des Schriftstellers, die 1978 unter dem Titel »Upton Sinclair – amerikanischer Radikaler« erschienen ist.

Der Herausgeber der Zeitung liest Sinclairs kurz vorher veröffentlichten Roman »Manassas«, den er wegen der gelungenen Darstellung der Sklaverei lobt, und bietet ihm ein bescheidenes Stipendium an, um nunmehr einen Roman über die moderne Lohnsklaverei zu schreiben, der dann in Fortsetzungen im »Appeal to Reason« erscheinen soll. »Sinclair nahm an, und es begann die Entstehung des Buches, das Jack London, der einzige andere Sozialist unter den prominenten zeitgenössischen Schriftstellern, später als ›Onkel Toms Hütte der Lohnsklaverei‹ apostrophieren sollte«[5], so Herms.

Die Rede ist von Sinclairs mit Abstand berühmtestem Werk: »The Jungle«. »Es ist das bluttriefende Epos aus den Fleischfabriken Chicagos, von dem Bert Brecht sich später zur ›Heiligen Johanna der Schlachthöfe‹ anregen ließ«[6], schrieb Der Spiegel einmal. Zu Recherchezwecken begibt sich der Schriftsteller nach Chicago unter die rund 20.000 Arbeiter des Fleisch-Trusts im damals Packingtown genannten Areal. »Sinclair verdingte sich bei seinem Aufenthalt in Chicago nicht nur als Meat Packer, sondern auch als Tunnelarbeiter, Arbeiter in einem Killing House und in einer Düngerfabrik«[7], schildert die Historikerin Agnes Limmer in ihrem Buch »Umwelt im Roman« (2018).

Zu diesem Zeitpunkt kontrollieren sechs große Gesellschaften praktisch die gesamte Fleischverarbeitung in den USA, mit Chicago als Zentrum. »Mir schien«, so Sinclair, »als stünde ich vor einer wahren Festung der Unterdrückung. Wie diese Mauern durchbrechen oder abtragen? Es war ein militärisches Problem. Ich saß abends in den Wohnungen der Arbeiter, der ausländischen wie der einheimischen; sie berichteten und ich notierte alles. Tagsüber durchforschte ich die Schlachthöfe und meine Freunde riskierten den Arbeitsplatz, um mir zu zeigen, was ich sehen wollte.«[8]

Der Gott der Schweine

Union Stock Yard & Transit Co., Chicago: Die größte Fleischfabrik der Welt. Beginnend mit dem Sezessionskrieg bis in die 1920er-Jahre hinein werden hier mehr Tiere getötet als an jedem anderen Ort der Welt. »Die industrielle Revolution mag in England begonnen haben, aber in Chicago fand die zweite grundlegende Umwälzung der Moderne statt. Eine Umwälzung, die die Essensgewohnheiten genauso wie die Geruchs- und Geschmacksempfindungen der Menschen ein für alle Mal verändern sollte: die Industrialisierung der Viehzucht und der Viehverarbeitung, an deren Ende Fleisch in Paketen steht, das durch nichts an das ursprüngliche Tier erinnert«[9], heißt es dazu in dem beim Wirtschaftsmagazin »brand eins« erschienenen Artikel »Die Erfindung des Schlachtplans«.

Das Fließband – die assembly line –, Sinnbild der modernen Warenproduktion, ist zunächst eine disassembly line: Tierkörper hängen an einer rund laufenden Kette, so dass die Schlachtarbeiter sich nicht bewegen müssen, um an ihren Stationen im Produktionsprozess die Tierkörper nacheinander immer weiter bis zur verkaufsfertigen Fleischware zu zerlegen (englisch: »disassemble«). Das auf diese Weise erfolgte Zerlegen geschlachteter Tiere im Akkord dient später als Vorbild des fordistischen Fabrikmodells – nur mit dem Unterschied, dass bei Ford und anderen Unternehmen die Waren im Takt des Fließbands zusammengebaut (englisch: »assemble«) werden.

Alles in den Schlachthöfen Chicagos erfolgt methodisch. In »The Jungle« wird das, mit Blick auf die Tiere, folgendermaßen beschrieben: »Es war Schlachten per Fließband, Schweinefleischgewinnung mittels angewandter Mathematik.«[10] Doch, so Sinclair, selbst der unsentimentalste Beobachter komme angesichts der arglosen, vertrauensseligen Tiere nicht umhin, an ihr Schicksal zu denken – besonders, da ihr Protest »so menschlich« wirke und sie »mit ihm so im Recht«[11] seien. Sie haben nichts verbrochen, was ihr grausames Ende rechtfertigen würde, und zu diesem Unrecht kommt noch die Demütigung hinzu: die kaltblütige, unpersönliche Weise »wie man sie hier ins Jenseits beförderte, ohne auch nur die Vorspiegelung einer Abbitte, ohne Opferung einer einzigen Träne.«[12]

Weiter schreibt Sinclair: »Gewiss, die Zuschauer weinten schon manchmal, aber diese Schlachtmaschine lief ja auch, wenn gar keine da waren.«[13] Was in den Schlachthöfen vor sich geht, vergleicht er mit einem »Verbrechen, das in einem Verlies begangen wird, unbemerkt und unbeachtet, vor aller Augen verborgen und sogleich aus dem Bewusstsein verdrängt.«[14] Jedes Schwein sei ein Geschöpf für sich – manche rosa, andere schwarz, braun oder gefleckt, jung oder alt, rank oder dick. »Und jedes hatte seine Individualität, seinen eigenen Willen, seine Wünsche und Hoffnungen; jedes besaß Selbstgefühl und Würde.«[15] Während das Tier vertrauensvoll »seinen Geschäften« nachgehe, schwebe die ganze Zeit ein »schwarzer Schatten«[16] über ihm. Dieses Schicksal schlage dann plötzlich zu, komme »wie ein Raubvogel herabgestürzt« und packe es brutal, um ihm, ohne Rücksicht auf sein Schreien, »gefühllos gegen alles Protestieren und Schreien des Tieres, so als hätte dieses überhaupt keine Empfindungen«[17], die Kehle durchzuschneiden.

Sinclair fragt: Sollte man da wirklich glauben, »dass es nirgendwo einen Gott der Schweine gebe, dem diese Schweinepersönlichkeit teuer ist, dem diese Schreie und Todesqualen etwas bedeuten? Der das Schwein dann in die Arme nimmt und es tröstet, der es für sein wohlgetanes Werk belohnt und ihm den Sinn seines Opfers klarmacht?«[18] Auch im Protagonisten seines Romans, dem jungen litauischen Einwanderer Jurgis Rudkus, hallen diese Gedanken nach, als er murmelt: »Dieve – was bin ich froh, kein Schwein zu sein!«[19]

Der inkarnierte Geist des Kapitalismus

Das Schicksal von Jurgis, der den Archetypus des gutmütigen, unerfahrenen »kleinen Mannes« repräsentiert, steht im Zentrum des Romans, der mit einer Szene beginnt, in welcher er und die 15-jährige Ona im Kreis der Familie heiraten. Zunächst noch geblendet vom »amerikanischen Traum« wird Jurgis im Verlauf seiner kumulierten Erfahrungen in den Schlachthöfen und den Wohnvierteln um ihn herum mehr und mehr desillusioniert.

Anfangs kommt er aus dem Staunen über die beeindruckende, von Menschenhand erbaute Tötungsmaschinerie gar nicht mehr heraus: In den Yards gibt es 250 Meilen Eisenbahnschienen, auf denen jeden Tag rund zehntausend Rinder angeliefert werden, die gleiche Anzahl Schweine und halb so viele Schafe – was bedeutet, dass hier im Jahr acht bis zehn Millionen Tiere zu Fleisch verarbeitet werden. Die Ankunft von Rindern wird folgendermaßen beschrieben: »Gruppenweise wurden die Rinder auf die Rampen getrieben, etwa fünf Meter breiten massiven Stegen, die über den Pferchen entlangliefen. Auf diesen Rampen zog ein nicht abreißender Strom von Tieren dahin; es war geradezu unheimlich mit anzusehen, wie sie ahnungslos ihrem Schicksal entgegendrängten, ein wahrer Todeszug.«[20]

Mit der Zeit durchschaut Jurgis das kapitalistische »survival of the fittest«, das in den Yards in geradezu idealtypischer Weise zu beobachten ist: »Er hatte jetzt erkannt, wie es um ihn her zuging: Krieg aller gegen alle, und den Letzten beißen die Hunde«[21], heißt es im Roman. Der Fleisch-Trust sei »die Verkörperung blinder, gefühlloser Habgier« und »ein mit tausend Rachen schlingendes, mit tausend Hufen stampfendes Ungeheuer – der inkarnierte Geist des Kapitalismus.«[22] Der Umgang der Menschen miteinander ist an diesem Ort besonders roh: »Um hier im Schlachthofviertel eingeschlagene Schädel wird wenig Aufhebens gemacht, denn Männern, die tagaus, tagein Tieren den Schädel einschlagen, scheint das zu einer Gewohnheit zu werden, die sie zwischendurch auch an ihren Freunden und manchmal sogar an ihren Familien praktizieren.«[23]

Buchstäblich der gesamte Körper des Tieres fällt hier der kapitalistischen Verwertungslogik anheim: »Vom Schwein bleibt absolut nichts unverwertet – bloß für das Quieken hat man noch keine Verwendung gefunden«[24], bekommt Jurgis gleich zu Beginn erklärt. Was das wirklich bedeutet, findet er – oder vielmehr Sinclair – schnell heraus: »Zu Zeiten des alten Durham habe jeder, der eine neue Fälschung ausknobelte, von ihm ein Vermögen bekommen können«, sagt Jurgis´ Gewährsmann, »jetzt aber sei es schwer, sich noch etwas Neues auszudenken, hier, wo schon so viele schlaue Köpfe so lange am Werk sind, wo die Leute sich freuen, wenn ihre Mastrinder Tuberkulose bekommen, weil sie dann schneller fett werden, und wo man in den Lebensmittelgeschäften des ganzen Landes alle liegengebliebene und ranzig gewordene Butter aufkauft, sie mittels eines Druckluftverfahrens ›oxydiert‹, um ihr den Geruch zu nehmen, sie dann mit abgerahmter Milch neu buttert und schließlich abgepackt in den Großstädten verkauft!«[25]

Schweigegelder und Lohnsklaverei

Die Fabrik habe, heißt es im Roman, im ganzen Land Agenten, die alte und kranke Tiere für die Verarbeitung zu Büchsenfleisch auftriebe. Da würden Rinder angeliefert, die über und über mit Geschwüren bedeckt seien, und diese Tiere zu schlachten, sei eine eklige Arbeit. Denn stoße man das Messer in sie hinein, platzten die Euterbeulen auf und spritze einem ihr stinkender Inhalt ins Gesicht. Man munkelt, dass allein für die tuberkulösen Rinder und für die in den Güterzügen an Cholera krepierten Schweine wöchentlich zweitausend Dollar Schweigegelder gezahlt werden.

Sinclair schreibt: »Trächtige Kühe werden geschlachtet, die ungeborenen Kälber herausgenommen und wie normales Fleisch verarbeitet. Die Schinkenpastete besteht aus Abfällen von geräuchertem Rindfleisch, die zu klein sind, um von den Maschinen noch aufgeschnitten werden zu können, aus Gekröse, das chemisch gefärbt ist, damit es nicht weiß durchschimmert, aus Resten von Schinken und Corned Beef, aus Kartoffeln und knorpeligen Rindergurgeln.«[26]

Verdorbenes Fleisch wird von mit zweitausend Umdrehungen in der Minute laufenden Messern zerhackt und einer halben Tonne anderem Fleisch untergemengt, so dass sich von seinem fauligen Geruch nichts mehr merken lässt. In die Wurstmasse wandert alles Mögliche: »Aus Europa kamen alte Würste zurück, die man nicht losgeworden war und die einen weißen Schimmelbelag hatten – sie wurden mit Borax und Glyzerin behandelt und dann noch mal durchgedreht, um schließlich im Inland verkauft zu werden. Fleisch, das auf den Fußboden gefallen war, in den Schmutz und das Sägemehl, auf dem die Arbeiter herumgetrampelt waren und in das sie Milliarden Tuberkulosebazillen gespuckt hatten, wanderte ebenso in die Fülltrichter; desgleichen das Fleisch, das gestapelt in den Hallen lagerte, wo von lecken Dächern Wasser drauf tropfte und Tausende von Ratten auf ihm herumhuschten. Um etwas zu erkennen, war es dort zu dunkel, aber wenn man mit der Hand über diese Fleischstapel fuhr, konnte man wahre Mengen von getrocknetem Rattenkot hinunterfegen. Die Ratten waren eine Plage, und man legte vergiftetes Brot aus, woran sie krepierten, und dann kamen Ratten, Brot und Fleisch zusammen in die Trichter. Das ist kein Märchen und auch kein Witz.«[27]

Die Arbeiter werden so gnadenlos ausgebeutet, dass der Begriff der Lohnsklaverei angemessen ist. »An die Stelle der Peitsche des Sklaventreibers tritt das Strafbuch des Aufsehers«[28], schreibt schon Karl Marx im »Kapital« über das moderne Fabriksystem, und entsprechend heißt es in »The Jungle«: »Die Bevölkerung hier, ganz aus Proletariat und zumeist aus Ausländern bestehend, stand immer am Rande des Verhungerns und hing in Bezug auf ihre Überlebensmöglichkeiten von den Launen von Männern ab, die keinen Deut weniger brutal und skrupellos waren als seinerzeit die Sklavenschinder; unter solchen Umständen war die Unmoral so unvermeidlich und genauso weitverbreitet wie unter dem System der Sklaverei. Was sich in den Fabriken da tagtäglich tat, lässt sich gar nicht wiedergeben; es fiel nur nicht so auf wie einst, weil Herren und Sklaven sich nicht in der Hautfarbe unterschieden.«[29]

Wie ein Lasttier

Im Winter bitterkalt, werden die schmutzigen Schlachthallen im Sommer zu reinsten Fegefeuern; einmal fallen an einem einzigen Tag drei Männer tot um, getroffen vom Hitzschlag. 15 oder 16 Stunden Arbeit pro Tag sind nicht ungewöhnlich, und diese Arbeit ist so gefährlich, dass sich ständig Unfälle ereignen. Die Rede ist etwa von Schnittwunden, die sich infizieren, verlorenen Fingernägeln, von Säure zerfressenen Händen, abgetrennten Körperteilen. Der ungeschützte Umgang mit Chemikalien macht die Arbeiter krank – doch wer ausfällt, kann umgehend ersetzt werden, denn vor den Fabriken wartet eine ganze Armee von Arbeitssuchenden.

In den Kochereien befinden Brühkessel sich auf gleicher Höhe mit dem Fußboden – das »Berufsleiden« der Menschen, die dort arbeiten, besteht laut Sinclair darin, »in diese Kessel zu fallen, und wenn man sie herausfischte, war nicht mehr genug von ihnen übrig, das vorzeigenswert gewesen wäre. Manchmal blieb so ein Unfall tagelang unbemerkt, und inzwischen waren sie dann, mit Ausnahme der Knochen, schon als ›Durhams Feinschmalz‹ in die Welt hinausgegangen!«[30]

Nach einem schweren Arbeitsunfall, der ihn monatelang arbeitsunfähig macht und seiner Familie das ohnehin prekäre Einkommen raubt, wird Jurgis nicht wieder eingestellt. In seiner Verzweiflung sieht er sich schließlich gezwungen, die schlimmste Arbeit anzunehmen, die es im Industriezentrum auf der »South Side« Chicagos gibt: in der Düngerfabrik, deren dunkle Hallen »gespenstischen Beinhäusern«[31] gleichen. Sinclair schreibt: »In diesen Teil der Yards kamen die Rückstände aus den Brühkesseln und alle möglichen Abfälle; hier wurden die Knochen getrocknet – und in stickigen Kellern, in die nie das Tageslicht drang, konnte man Männer, Frauen und Kinder sehen, die sich über rotierende Maschinen beugten und Knochenstücke in verschiedene Formen zersägten; sie atmeten dabei den feinen Staub in ihre Lungen, und einer wie der andere wurden sie in absehbarer Zeit zu Todeskandidaten.«[32]

Nachdem sie zuvor mehrfach vergewaltigt und zur Prostitution gezwungen wurde – unter anderem durch ihren Vorgesetzten –, stirbt Jurgis´ Frau Ona an den Folgen einer Frühgeburt. Dann ertrinkt sein Sohn Antanas in einem offenen, ungeklärten Abwassergraben vor dem Haus – eine direkte Folge der vernachlässigten städtischen Infrastruktur und der katastrophalen Wohnverhältnisse. Diese Ereignisse stürzen Jurgis endgültig in Verzweiflung und Heimatlosigkeit. Er verlässt Chicago und wird für längere Zeit ein wandernder Arbeitsloser, schlägt sich als Landarbeiter durch, lebt teilweise auf der Straße oder in Elendsunterkünften. Mehrfach gerät er in Konflikt mit der Polizei und landet schließlich im Gefängnis, wo er unter brutalen Bedingungen Zielen in Öfen transportieren muss.

Nun sieht er die »zivilisierte Welt«[33] klarer als je zuvor: Es handle sich um eine Welt, »in der nur die brutale Macht zählte, eine Ordnung, die sich die Besitzenden zur Unterdrückung der Besitzlosen erdacht hatten. Er gehörte zu den letzteren, und alles ringsum, das ganze Leben war für ihn ein einziger Käfig, in dem er auf und ab lief wie ein gefangener Tiger, der es an einem Gitterstab nach dem anderen versucht, sie aber sämtlich für seine Kräfte zu stark findet.«[34]

Schon in den Schlachthöfen vegetierte er aufgrund der stumpfsinnigen Arbeit »dahin wie ein empfindungsloses Lasttier«, das sich »immer nur des Augenblicks bewusst«[35] war. Im Gefängnis wird die systematische Vernichtung seiner Würde vollendet: Er wird »auf den Müll geworfen« wie Unrat, wie ein krepiertes Tier«[36], heißt es jetzt, und: »Hinter Gitter steckten sie ihn, als wäre er ein wildes Tier, ein Wesen ohne Vernunft, ohne Rechte, ohne Herz und Gefühl. Nein, nicht einmal ein Tier hätten sie so behandelt!«[37] Diese Entmenschlichung – erst in der Fabrik, dann im Gefängnis – enthüllt das System: Der Arbeiter ist nur Ware, die man verbraucht und wegwirft.

Ochsenmensch

In der ersten Phase des industriellen Kapitalismus hat sich ein neuer Typus von Gefängnis entwickelt, »als die arbeitenden Klassen zu ›gefährlichen Klassen‹ wurden und die Gefängnisanstalten sich mit einer heterogenen Bevölkerung zu füllen begannen, die aus sozialen Gestalten bestand, die den neuen Modellen der Disziplin zuwiderhandelten«[38], so der marxistische Historiker Enzo Traverso. Es sind Gefängnisse, »in denen die Arbeit, die häufig keinerlei produktiven Zweck besaß, ausschließlich mit dem Ziel konzipiert wurde, zu quälen und zu erniedrigen.«[39]

Fabrik und Gefängnis: Beide seien, meint Traverso, gekennzeichnet vom gleichen Prinzip des Einschlusses, von der Disziplin der Zeit und des Körpers, der rationalen Teilung und Mechanisierung der Arbeit, der Unterordnung der Körper unter die Maschinerie. »Die Maschinerie wird mißbraucht, um den Arbeiter selbst von Kindesbeinen in den Teil einer Teilmaschine zu verwandeln«[40], schreibt Marx im »Kapital«.

In »The Jungle« heißt es entsprechend über Jurgis´ Schwiegermutter, die das Leid der migrantischen Arbeiterklasse – insbesondere der Frauen – verkörpert: »Elzbieta war ein Teil der Maschine, die sie bediente, und jede Fähigkeit, die nicht für die Maschine gebraucht wurde, war zum Verkümmern verurteilt.«[41] Diese Stellen beschreiben also den Übergang von der alten Arbeiterklasse der verschiedenen Berufe zum »Massenarbeiter«, der ungelernt und jederzeit ersetzbar ist.

Die von Marx analysierte und von Sinclair literarisch verdichtete Realität beschreibt eine Entwicklung, die der US-amerikanische Ingenieur Frederick W. Taylor, der als Begründer der Arbeitswissenschaft gilt, mit seinem »Scientific Management« (deutsch: »wissenschaftliche Betriebsführung«) theoretisiert hat. Wenn, so Traverso, eine der historischen Bedingungen des modernen Kapitalismus in der Trennung der Arbeiter von ihren Arbeitsgeräten bestehe, so habe der Taylorismus eine neue Etappe eingeführt, die sich dadurch auszeichne, dass dem Arbeiter die Kontrolle des Arbeitsprozesses weggenommen werde, wodurch der Weg für die Serienproduktion des fordistischen Systems geebnet worden sei. Das angestrebte Ideal: ein hirnloser Arbeiter, bar jeder geistigen Autonomie, allein dazu befähigt, mechanisch standardisierte Handlungen zu verrichten – in Taylors eigenen Worten ein »Ochsenmensch«[42] oder ein »dressierter Gorilla«[43]. »Kurzum, es handelte sich um ein entmenschlichtes und entfremdetes Wesen, um einen Automaten«[44], fasst Traverso zusammen.

Die Entmenschlichung des Proletariats im Rahmen dessen, was Traverso als »Klassenrassismus«[45] bezeichnet – die Herabsetzung von Arbeitern, was der ideologischen Rechtfertigung ihrer Ausbeutung dient –, hat eine lange Tradition. Er verweist etwa auf die Interpretation der Pariser Kommune in Begriffen der Zoologie in einem Artikel des Schriftstellers Théophile Gautier vom Oktober 1871. Darin heißt es: »In allen großen Städten gibt es Löwengruben, mit dicken Absperrungen geschlossene Höhlen, in die man die wilden Tiere, die stinkenden Tiere, die giftigen Tiere, alle jene widerspenstigen Perversitäten sperrt, die die Zivilisation nicht zu zähmen vermochte, jene, die das Blut lieben, jene, die das Feuer wie ein Feuerwerk amüsiert, jene, die sich am Diebstahl erfreuen, jene, für die der Angriff auf die Scham Liebe ist, alle Monster des Herzens, alle Missgestalten der Seele; die schmutzige Bevölkerung, die am Tag unbekannt ist und die in den Tiefen der unterirdischen Dunkelheit unheimlich krabbelt. Eines Tages vergisst ein vergesslicher Tierbändiger seine Schlüssel zu den Toren dieser Menagerie, und die wilden Tiere stürzen sich mit wildem Geschrei in die vom Schreck heimgesuchte Stadt. Aus den offenen Käfigen springen die Hyänen von 1793 und die Gorillas der Kommune.«[46]

Matthias Rude
Der zweite Teil erscheint in der kommenden Ausgabe.

Ein Artikel aus dem Zirkular “Hammel & Sittich”, Ausgabe 7, September 2025