Konzentration des Fleischkapitals und Stadtaufwertung
Der Zürcher Schlachthof, der auf einem großen Areal mitten in einem attraktiven Stadtviertel steht, wird nur noch wenige Jahre existieren. Momentan werden der Grund und Boden des Areals sowie die teils denkmalgeschützten Gebäude, deren Besitzerin die Stadt Zürich ist, an die Betreiberin Schlachtbetrieb Zürich AG (SBZ) und an weitere Firmen, wie zum Beispiel den Fleischverarbeiter Angst AG, vermietet. Doch die Mietverträge laufen Ende 2029 aus, was die Stadt zum Anlass genommen hat, eine neue Nutzungsstrategie für das zentral gelegene Gebiet zu entwickeln. 2019 begann sie einen mehrphasigen Neugestaltungsprozess, in den zunächst die Quartierbevölkerung, lokale Parteien, die Mieter und auch die Öffentlichkeit einbezogen wurden. An dessen Ende wurde 2022 bekannt gegeben, dass die Mietverträge nicht verlängert werden. Damit ist das Aus des Zürcher Schlachthofs besiegelt.
Vom Standpunkt der Tierbefreiung klingt das erst einmal begrüßenswert. Allerdings ist mit dieser Entwicklung keine Verringerung der Schlachtzahlen verbunden. Vielmehr wird damit eine Restrukturierung der kapitalistischen Fleischindustrie vollzogen, die in Zürich bloß später abläuft als andernorts. Obendrein wird mit dem Verschwinden der Schlachthallen aus der Zürcher Innenstadt die Gentrifizierung der umliegenden Viertel einhergehen. Beim Mitmachprozess hat sich die Politik dafür das Einverständnis verschiedener Interessengruppen eingeholt.
Aus der Zeit gefallen
Auf dem Schlachthofareal in Zürich wird der Tötungsbetrieb eingestellt, weil er an diesem Standort ohnehin ein heute nicht mehr konkurrenzfähiges Überbleibsel aus der Ära staatlich betriebener Schlachthöfe ist. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts wurden letztere zunehmend von privat betriebenen Anlagen der großen Fleischunternehmen verdrängt.
Die Versorgung der Bevölkerung mit Fleisch wurde in der Schweiz ab etwa Mitte des 19. Jahrhunderts als staatliche Aufgabe verstanden. Um die Qualität der tierischen Produkte zu gewährleisten, schrieb das Gesetz des »Schlachthofzwangs« vor, dass Tiere innerhalb von Städten ausschließlich in staatlichen Einrichtungen getötet und verarbeitet werden durften. Auch Zürich errichtete ein städtisches Schlachthaus, welches aber Anfang des 20. Jahrhunderts, wie andere emissionsreiche Industriebetriebe, an den Stadtrand verbannt wurde. Das Grundstück, auf dem 1909 der neue Schlachthof eröffnet wurde, ist allerdings unterdessen im Zuge der Urbanisierung vom Wachstum der Stadt eingeholt worden. Dadurch erhielt der Zürcher Schlachthof seinen ungewöhnlichen Standort inmitten eines Wohnviertels.
Anfänglich wurde die Fabrik gemeinsam vom Metzgermeisterverein Zürich (MMV) und der Stadtverwaltung betrieben. 1986 wurde dann die Aktiengesellschaft SBZ gegründet, zu deren Teilhabern der MMV, verschiedene kleinere und mittlere Fleischverarbeitungs- und andere Firmen des Metzgergewerbes sowie die Stadt Zürich gehörten. Im Jahr 1995 fiel der gesetzliche »Schlachthofzwang«, eine vollständige Privatisierung war nun möglich. Die Stadt Zürich verkaufte ihre Anteile und trat fortan nur noch als Vermieterin des Geländes und der Gebäude auf.
Heute ist der Zürcher Schlachthof der fünftgrößte der Schweiz.[1] 250.000 Tiere werden hier jährlich getötet. Anders als die vier vor ihm rangierenden gehört er nicht zu einem der zwei größten Schweizer Fleischunternehmen Bell Food Group AG und Micarna SA.[2] Diese haben ihre Marktmacht in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufgebaut, indem sie in ihren Fabriken das Schlachten am Fließband einführten, wie es in den USA bereits seit dem 19. Jahrhundert üblich war. Neue Technologien erlaubten eine höhere Automatisierung der Arbeitsschritte und ein höheres Tempo der Verarbeitung. Voraussetzung dafür war die Spezialisierung der Anlagen auf eine Tierart (Schweine oder Rinderartige). So konnten die Unternehmen ihre Produktivität entschieden steigern und setzten die staatlichen Schlachthöfe unter Druck. Auch im Zürcher Schlachthof wurden schrittweise Prozesse automatisiert. Trotzdem ist er auch heute noch auf die Tötung und Verarbeitung verschiedener Tierarten ausgerichtet. Laut dem Think Tank W.I.R.E. hat er dadurch nur ein limitiertes Automatisierungspotenzial – eine Steigerung der Produktivität sowie der Kapazität sei schwierig.[3] Zudem haben die großen Fleischunternehmen ihre Wertschöpfungsketten durch vertikale Integration optimiert, sprich sie kontrollieren heute oft auch die dem Schlachten vor- und nachgelagerten Prozesse (wie die Aufzucht der Tiere oder die Fleischverarbeitung). Diese Strategie kann die SBZ nicht übernehmen, denn sie betreibt den Schlachthof Zürich als Auftragsschlachthof, in dem andere Firmen ihre Tiere töten und verarbeiten lassen. Seine Schließung ist also unterm Strich bloß eine Nachzügler-Maßnahme – er passt nicht mehr in die Zeit hochindustrieller Anlagen der großen Fleischunternehmen. Eine Entscheidung gegen das Schlachten als solches geht damit nicht einher.
Das Schlachten geht weiter
Das Töten der Tiere geht vielmehr unvermindert weiter, es wird bloß geographisch an einen anderen Ort verschoben: Entweder findet die SBZ einen neuen Standort oder sie wird ihre Geschäftstätigkeit einstellen müssen und die 250.000 Tiere werden in den Schlachthöfen anderer Unternehmen getötet, zum Beispiel im neuen Millionen-Projekt von Bell in Oensingen, das sich zur Zeit im Bau befindet.[4] Laut Ronny Hornecker, Geschäftsführer der SBZ und Betreiber einer Zürcher Metzgerei, ist noch unklar, wie es ab 2030 weitergeht.[5] Mit der richtigen Strategie könnte sich die SBZ gemäß W.I.R.E. durchaus gegen die Konkurrenz der großen Fleischunternehmen behaupten. Das Amt für Stadtentwicklung hatte entsprechend auch versucht, eine Lösung für den Weiterbetrieb des Schlachthofs zu finden. Von Seiten der Stadt her wäre es einerseits eine Option gewesen, die bestehenden Gebäude umzugestalten, so dass parallel zum Schlachtbetrieb andere Nutzungen auf dem Areal Platz gefunden hätten. Andererseits bot sie der SBZ ein alternatives Grundstück außerhalb der Stadt zur Miete an. Beides hat die SBZ mit Verweis auf die hohen Investitionen, die damit notwendig würden, abgelehnt, wie Anna Schindler, Direktorin des Amtes für Stadtentwicklung, bei einer Informationsveranstaltung zur Zukunft des Areals ausführte.[6]
Es war also keineswegs die Intention des Stadtrats, mit der Auflösung des Mietvertrags der SBZ das Schlachten zu beenden, wenngleich ihm das vor allem von rechter und wirtschaftsliberaler Seite mehrmals unterstellt wurde: So meinte zum Beispiel Flurin Capaul, Gemeinderat der FDP im Interview mit der Zeitung P.S., die Entscheidung sei »aus Sicht der Fleischwirtschaft« unverständlich und habe einen »starken ideologischen Beigeschmack«.[7] Anna Schindler betont hingegen, man habe sich nicht gegen das Schlachten, sondern für mehr Optionen auf dem Areal entschieden.[8]
So oder so: Auch wenn also das Verschwinden des Schlachthofs aus dem Stadtbild auf den ersten Blick im Sinne der Tierbefreiung zu sein scheint, sterben durch seine Schließung nicht weniger Tiere im Auftrag des Fleischkapitals. Für die Kühe, Schweine und Co. wird sich die Situation wahrscheinlich sogar durch längere Transportwege verschlechtern, wie der Schweizer Verein Sentience auf Instagram schreibt: »Mehr nicht-menschliche Tiere werden auf die wenigen Schlachthöfe außerhalb des urbanen Raumes verteilt, wodurch sich die Fahrzeiten verlängern.«[9] Laut W.I.R.E. werden 60 bis 70% der in Zürich getöteten Tiere im östlichen Mittelland aufgezogen.[10] In der Region Zürich gibt es keinen anderen Betrieb, der die Kapazität hätte, die zusätzlichen Schlachtungen in Zukunft durchzuführen.
99 Anliegen, aber die Tiere sind keins
Durch seine Lage mitten in einem Wohnviertel war der Schlachthof Zürich schon lange umstritten. Die Anwohner störten sich am Lärm der Tier- und Fleischtransporter und der frühmorgendlichen Schreie der gequälten Kreaturen sowie am Gestank, der vom Schlachtbetrieb ausging. Zürcher Politiker haben im Laufe der Jahre zahlreiche das Areal betreffende Anfragen und Motionen eingereicht – die Anlage wurde ein Politikum. Es ist nicht besonders verwunderlich, dass mit der Bekanntgabe der Neukonzipierung des Schlachthofareals diverse Parteien und Interessengruppen ihre Ansprüche auf die zukünftige Gestaltung des 50.000 m² großen Grundstücks formulierten. Um die Tiere geht es aber niemandem von ihnen.
Im Gegenteil betont Marcel Tobler, Lokalpolitiker der Sozialdemokratischen Partei (SP): »Es geht nicht um die Tatsache, dass dort Tiere geschlachtet werden«.[11] Vielmehr wolle man das Areal für die Öffentlichkeit zugänglich und nutzbar machen und so das Quartier für die Bevölkerung ansprechender gestalten. Auch Indus-trie und Gewerbe müssen nach Meinung der SP weiterhin Platz finden. Unterstützung bekommt die SP von den Grünen: Die Stadt brauche laut Gemeinderätin Brigitte Fürer »dringend preiswerte Wohnungen, preiswerten Gewerbe-, Kunst- und Kulturraum, Schulraum und Freiräume.« Und ihr Parteikollege Markus Knauss meint, schlachten müsse man nicht unbedingt in der Stadt Zürich. Willi Wottreng von der linken Partei Alternative Liste (AL) setzt sich darüber hinaus vor allem für die Entstehung einer Kunstwandelhalle ein, in der »Kunst nicht nur angeschaut werden kann, sondern wo sie produziert und verkauft wird und wo sie [die Künstler] sich in kollektiven Aktionen präsentieren«.[12]
Die rechte Schweizer Volkspartei (SVP) hätte es lieber gesehen, wenn der Schlachthof bestehen geblieben wäre. »Es kann doch nicht sein, dass die Bauern ihr Vieh quer durch die Schweiz transportieren müssen«[13], so SVP-Gemeinderat Rolf Müller gegenüber der Limmattaler Zeitung. Und auch die FDP schreibt, dass die Schließung des Schlachthofs dem Konsumentenwunsch nach mehr Regionalität widerspreche.[14] Bei den Liberalen gibt es aber auch andere Stimmen: so bedauert Capaul zwar das Ende des Schlachthofs, doch ist es ihm vor allem wichtig, dass das Areal weiterhin für Industrie und Gewerbe nutzbar bleibt. Ihm schwebt ein »Zurich Food Cluster« vor, von dem beispielsweise auch das expandierende Zürcher Food-Start-Up »Planted« Teil sein könnte, das eine pflanzliche Alternative zu Geflügelfleisch entwickelt hat.[15] In eine ähnliche Richtung gehen die Ideen des Gemeinderats der Grünliberalen Partei, Shaibal Roy, der sich für eine Mischung aus Gewerbe und offener Nutzung ausspricht. Er sieht jedoch im Gegensatz zu FDP und SVP keine Zukunft für den Schlachthof auf dem Areal: »Der Gestank und der Verkehr sind nach wie vor eine Belastung für die Bevölkerung.«[16]
Ob sich die Lokalpolitiker nun für oder gegen den Verbleib des Schlachthofs auf dem Areal einsetzen, für mehr Platz für Kunstprojekte, Freiräume oder wirtschaftliche Diversifizierung: Keiner hat die Interessen der Tiere im Blick.
Gentrifizierung mit Zustimmung
Obendrein wird die von allen Parteien mit unterschiedlicher Ausprägung angestrebte Aufwertung des Schlachthofareals wohl zu einer Gentrifizierung mit negativen Auswirkungen auf das Quartier führen. Das Areal ist, wie Grünen-Politikerin Fürer es formuliert, ein »Filetstück«[17] der Stadt. Es ist zentral gelegen und verbindet verschiedene Viertel mit hoher Bautätigkeit im Immobilienbereich. Die Aufwertung des Quartiers durch das Verschwinden des Schlachthofs wird zwar einigen Anwohnern dienen, die lange mit seinen Emissionen leben mussten, aber es wird auch jene Entwicklung in Gang gesetzt, die sich bereits in anderen Zürcher Vierteln gezeigt hat: Die Umgebung wird attraktiver, die Wohnhäuser werden saniert oder gleich abgerissen und neugebaut, die Mieten werden steigen und viele der jetzigen Bewohner zum Wegzug gezwungen sein. Um die verschiedenen Ansprüche der heutigen Quartierbevölkerung, der auf dem Areal eingemieteten Betriebe, sowie der Parteien einzufangen, organisierte die Stadtverwaltung einen öffentlichen Mitmachprozess. Dieser beinhaltete eine Reihe von Informationsveranstaltungen sowie mehrere sogenannte Echoräume, bei denen Interessierte in den Planungsprozess einbezogen werden sollten. Allerdings ging es bei diesen Veranstaltungen nicht darum, die Teilnehmenden an einem demokratischen Entscheidungsprozess über die zukünftige Nutzung des Areals wirklich zu beteiligen. Vielmehr dienten sie dazu, die Akzeptanz verschiedener Ausrichtungen des Projekts bei der Bevölkerung einschätzen zu können und zu suggerieren, alle seien in den Entscheidungsprozess einbezogen worden. Wie es ein Stadtteilpolitiker der AL nach der Schlussveranstaltung des Prozesses im persönlichen Gespräch mit der Autorin formulierte: »Man kann dann im Nachhinein sagen, man habe mit allen geredet, man hat ja alle miteinbezogen, aber entscheiden können wir nichts«.
Teilgenommen haben an den Veranstaltungen in erster Linie Lokalpolitiker, Vertreter des Quartiervereins, Beamte der verschiedenen an der Planung beteiligten Ämter der Stadtverwaltung und einige Führungskräfte der auf dem Areal tätigen Unternehmen. So erhielt zum Beispiel Schlachthofdirektor Ronny Hornecker eine Bühne, um sich für die Interessen der Fleischindustrie einzusetzen. Arbeiter der Unternehmen, also auch des Schlachthofs, waren nicht anwesend. Sie wurden weder durch eine Gewerkschaft noch durch einen Personalverband vertreten, die es somit versäumt haben, die Interessen der Arbeiter bei diesem Prozess zu vertreten. Außer der Autorin und einer Genossin nahmen zudem auch keine Personen teil, die sich für die Tiere eingesetzt hätten.
Der von der Stadt initiierte Mitmachprozess erfüllte seinen Zweck, der Öffentlichkeit das kapitalistische Aufwertungsprojekt schmackhaft zu machen. Um eine weitere Gentrifizierung Zürichs zu verhindern, bedürfte es entschlossener Maßnahmen, die das Immobiliengeschäft im betreffenden Quartier eindämmen, der Konvertierung des Schlachthofs zu einem vernünftigen Betrieb in Arbeiterhand und der Einrichtung eines sozialen Zentrums oder ähnlichem auf dem Areal.
Das Ende des Schlachtens in Zürich: Eine gute Sache?
Unter dem Strich ist die Schließung des Zürcher Schlachthofs nicht so erfreulich, wie es auf den ersten Blick scheint. Es werden nicht weniger Tiere getötet, sie werden lediglich an anderen Orten geschlachtet. Einige von ihnen werden längere Transportwege in weiter entfernte Anlagen über sich ergehen lassen müssen. Zu Gute kommt die Schließung – vorausgesetzt, die SBZ produziert nicht an einem neuen Standort weiter – den zwei dominierenden Fleischunternehmen Bell und Micarna, die die zusätzlichen Schlachtungen aller Wahrscheinlichkeit nach übernehmen würden. Dadurch könnten diese ihre Marktmacht noch mehr stärken, die sie durch die Errichtung hochindustrialisierter Schlachtfabriken im ländlichen Raum und die zunehmende Kapitalkonzentration in der Fleischindustrie aufbauen konnten. Das Verschwinden des Zürcher Schlachthofs aus dem urbanen Raum ist als Folge dieser Entwicklung zu sehen, die an den meisten Orten schon im vorigen Jahrhundert abgeschlossen wurde.
Mit dem Verschwinden der Schlachthöfe geht eine Aufwertung der betreffenden Quartiere einher. Was an sich eine gute Entwicklung für die Anwohner wäre (so schön wie möglich wohnen sollten alle), wird im Rahmen der kapitalistischen Stadtpolitik zur Gentrifizierung, von der vor allem das Immobilienkapital profitiert. Und damit sich niemand beschwert, hat die Stadtverwaltung für ihre Pläne die Zustimmung der Bevölkerung in einem Pro-Forma-Mitmachprozess eingeholt.
Das Ende des Schlachtens in Zürich wurde weder von der Tierbefreiungsbewegung erkämpft, noch ist es das Ergebnis eines zunehmenden Bewusstseins der Öffentlichkeit über Nachhaltigkeit und Tierleid. Vielmehr ist es ein Resultat profitorientierter Fleischindustrie- und Stadtentwicklung. Für die Schweizer Tierbefreiungsbewegung geht damit eine doppelte Verschlechterung der Bedingungen im Kampf gegen die Fleischindustrie einher: Erstens wird ihr größter Gegner, das Fleischkapital in Gestalt von Bell und Micarna, gestärkt. Zweitens bedeutet die Verlagerung des Schlachtens in ländliche Gebiete eine Möglichkeit weniger, am Ort des Geschehens öffentlichkeitswirksam auf die Verbrechen der Fleischindustrie aufmerksam machen zu können.
Irina König
Ein Artikel aus dem Zirkular “Hammel & Sittich”, Ausgabe 3, Juni 2023