Zur zweiten Auflage von »Antispeziesismus« – ein Gespräch mit dem Autor Matthias Rude
Im Jahr 2013 erschien das Buch »Antispeziesismus« von Matthias Rude, in der ersten Auflage mit dem Untertitel »Die Befreiung von Mensch und Tier in der Tierrechtsbewegung und der Linken«.[1] Es sei »für alle, die für eine solidarische Gesellschaft frei von Ausbeutung und Unterdrückung kämpfen, unbedingt zur Lektüre zu empfehlen«[2], schrieb damals die in der Schweiz erscheinende sozialistische Zeitung Vorwärts. Anlässlich der Publikation der zweiten, überarbeiteten und erweiterten Auflage sprachen wir mit dem in Tübingen lebenden Autor.
Dein Buch ist gerade in der Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung breit rezipiert worden, als es das erste Mal herauskam. Aber das ist mittlerweile schon mehr als zehn Jahre her. Kannst du vielleicht für alle, die es noch nicht gelesen haben, kurz zusammenfassen, worum es geht?
Die theorie.org-Reihe des Stuttgarter Schmetterling-Verlags, in die der Band eingegliedert ist[3], soll, nach einer Zeit des Niedergangs linker Bewegungen, Zugänge zu verschüttet liegenden Teilen der linken Theorietradition eröffnen. Das Tier-Thema eignet sich dafür wie kein anderes: Kaum eine andere emanzipatorische Forderung verhallte im Gang der Geschichte immer wieder derart ungehört wie der Ruf nach der Befreiung der Tiere. Dabei existiert zur Thematik tatsächlich eine sehr weit zurückreichende Tradition.
Die Solidarität mit Tieren und Forderungen nach ihrer Befreiung reichen viel weiter zurück als gemeinhin angenommen. Allerdings handelt es sich bei dieser Geschichte der Tierbefreiung um ein Stück »geheime« – vergessene, verdrängte – Geschichte. Die Stimmen jener Menschen, die innerhalb linker Bewegungen für die Sache der Tiere eingetreten sind, wurden in einem doppelten Sinne nicht gehört: Wie Marx und Engels in »Die deutsche Ideologie« treffend bemerken, ist das, was als die herrschenden Gedanken einer Epoche erinnert wird, in erster Linie ein Widerschein der Gedanken der in ihr herrschenden Klasse. Denn diese verfügt mit den Mitteln zur materiellen auch über jene zur geistigen Produktion.[4] Damit kann sie auch die spätere Erinnerungskultur bestimmen, so dass die Rekonstruktion widerständiger Geschichte sich ohnehin schon in weiten Teilen als schwierig erweist. Hinzu kommt, dass meist ein Großteil derjenigen, die in den verschiedenen emanzipatorischen Bewegungen an der Seite von Persönlichkeiten aktiv waren, die auch für die gesellschaftliche Befreiung der Tiere eintraten, die Tiere in der menschlichen Gesellschaft nicht als Leidensgenossen an- oder auch nur erkannt haben. Mein Anliegen ist vorrangig, die Tradition des Tierbefreiungsgedankens überhaupt erst einmal wieder zugänglich zu machen. Es handelt sich also notwendigerweise um ein sehr historisches Buch. In einem Streifzug durch die Geschichte emanzipatorischen Denkens wirft der Band Schlaglichter auf Personen und Bewegungen, für die etwa Solidarität mit Arbeitstieren als ebenfalls Ausgebeutete oder die Zurückweisung des Status von Tieren als Produktionsmittel und Ware bereits als integrales Element linker, oft auch revolutionärer Theorie und Praxis fungierte.
Wo verortest du den Ursprung des modernen Tierbefreiungsgedankens?
Dort, wo der Kapitalismus begann. Nach einer Hinführung und einer kurzen Rekapitulation der Geschichte des Vegetarismus von der Antike bis zum Vorabend des Kapitalismus setzt meine eigentliche Untersuchung an dem Punkt ein, den Marx im »Kapital« als »ursprüngliche Akkumulation«[5] beschreibt: Die gewaltsame Enteignung des Grund und Bodens und der Bauernschaft entriss ihr ihre Mittel zur Selbstversorgung und machte sie zum Proletariat. Dieser Prozess ist eng mit der Entstehung der Tierindustrie verbunden: In England gab den unmittelbaren Anstoß dazu der Aufstieg der Wollmanufaktur. Das »Losungswort« war, so heißt es im »Kapital«, »Verwandlung von Ackerland in Schafweide«[6]. Das zuvor gemeinschaftlich bewirtete Land wurde eingehegt und zu Privatbesitz gemacht. In England sind oft die Zäune eingerissen und ihre Wiederaufrichtung gewaltsam verhindert worden. Auch in Deutschland regte sich mit den Bauernkriegen Widerstand. Doch letztlich wurde die widerrechtliche Aneignung im Nachhinein gesetzlich legitimiert. Aus der verarmten Landbevölkerung rekrutierte sich die Arbeiterschaft in den wachsenden Industriestädten. Auch die Arbeitskraft von Tieren wurde vermehrt in der Industrie eingesetzt. Sie mussten nicht nur eine zunehmende Zahl von Menschen mit ihrer Haut, ihrem Haar, ihrer Milch, ihren Eiern und ihrem Fleisch ernähren und kleiden. Sie wurden auch zur Arbeit in eigentlich allen Industriezweigen gezwungen. Angehörige der ausgebeuteten Klassen, die in den Bergwerken und Manufakturen schufteten, sahen Gemeinsamkeiten in der Ausbeutung von Tieren und ihrer eigenen – und genau hier liegt der Ursprung des Tierbefreiungsgedankens. Marx schreibt, die Anschauung, die unter der Herrschaft des Privateigentums und des Geldes – also im Kapitalismus – von der Natur gewonnen werde, sei »die wirkliche Verachtung, die praktische Herabwürdigung der Natur«[7]. In diesem Sinn habe es der Bauernführer Thomas Müntzer für unerträglich erklärt, dass »alle Kreatur zum Eigentum gemacht worden sei« – auch die Tiere müssten »frei werden«[8].
Welche sind die wichtigsten historischen Bewegungen, auf die das Buch Schlaglichter wirft?
Es beginnt mit radikalen Vegetariern im englischen Bürgerkrieg, also Mitte des 17. Jahrhunderts. Bereits damals war die Zurückweisung des Verzehrs von Tierfleisch Teil von Klassenkämpfen. In der Anti-Sklaverei-Bewegung spielte der Gedanke der Tierbefreiung eine Rolle. Das Bewusstsein darüber, dass Arbeitstiere Leidensgenossen sind, kommt auch oft in den Stimmen von Sklaven selbst deutlich zum Ausdruck. In der Französischen Revolution war Vegetarismus ebenfalls Teil radikaler politischer Theorie – eine Zeit lang wurde die fleischlose Ernährung der unteren Klassen sogar zum ultimativen Zeichen des Revolutionärs. Unter Pariser Kommunarden, bei 1848er-Revolutionären, in der Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung sowie in sozialen Bewegungen wie der Frauen- und Friedensbewegung gab es entsprechende Ansätze. Und mit dem Internationalen Sozialistischen Kampfbund gab es noch im Zweiten Weltkrieg ein antifaschistisches Widerstands-Netzwerk, das einen Tierrechts-Ansatz vertrat.
In den Kreisen der sozialen Protestbewegungen und der linken Subkultur, aus denen heraus sich ab den 1960er-Jahren erneut Ansätze zu einer Tierbefreiungsbewegung zu formieren begannen, gab es, wenn überhaupt, nur noch ein sehr schwaches Bewusstsein über diese weit zurückreichenden Traditionslinien. Heute ist es angesichts der fortschreitenden und sich verschärfenden Ausbeutung von Menschen, Tieren und Natur wichtiger denn je, diese Tradition wiederzuentdecken und, auf diesem Fundament aufbauend, eine neue klassenkämpferische, revolutionäre Theorie und Bewegung zu entwickeln. Dazu soll mein Buch ein Beitrag sein – es soll die Traditionslinien aus ihrem Schattendasein holen, um schon einmal gemachte Ansätze zur theoretischen Begründung einer Bewegung zur Befreiung von Menschen und Tieren heutigem kritischen Denken zugänglich zu machen und sie zur Diskussion zu stellen.
Was ist das Neue an der zweiten Auflage?
Der grundsätzliche Aufbau des Buches ist geblieben, ich habe es aber vollständig durchgesehen und an vielen Stellen Änderungen vorgenommen. So habe ich etwa in den letzten zehn Jahren noch einige weitere historische Beispiele ausgegraben, die ich ergänzt habe. Außerdem habe ich mir angeschaut, was seit 2013 an neuer Literatur zum Thema erschienen ist und diese, insofern sie für meine Fragestellung relevante Inhalte aufwies, in den Text integriert. Um einiges eingehender als beim Schreiben der ersten Auflage konnte ich mich in der Zwischenzeit mit der Situation in der Sowjetunion und der DDR beschäftigen, dieses Kapitel habe ich mit am stärksten überarbeitet. Beispielsweise habe ich die Auseinandersetzung Lenins mit Tolstoi und den vegetarischen und veganen Bewegungen, die sich auf den Schriftsteller beriefen, studiert und mit eingearbeitet. Als ein Beispiel dafür, wie Solidarität mit Tieren in der Sowjetunion künstlerisch zum Ausdruck kam, habe ich den Dichter Wladimir Majakowski genannt, über den auch von »Marxismus und Tierbefreiung« in den letzten Jahren einige Veröffentlichungen erschienen sind[9], auf die ich mich im Buch beziehe. Und natürlich ist im letzten Jahrzehnt auch einiges im gesellschaftlichen Bereich und in der Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung, was fürs Thema relevant ist, geschehen, weshalb ich weite Strecken des letzten Teils des Buches neu geschrieben habe.
Wie fällt deine Bilanz zur Lage der Tiere in der DDR und der Sowjetunion aus? Einerseits tobt sich im deutschen Sprachraum auch bei diesem Thema der Antikommunismus aus. Andererseits gab es auch dort industrielle Tierausbeutung in der Fleischproduktion.
Insgesamt muss man feststellen, dass die Frage nach der Stellung der Tiere in der Gesellschaft im real existierenden Sozialismus leider eine ebenso marginalisierte Rolle gespielt hat wie im kapitalistischen Westen. Hüben wie drüben galten effizientere Tierausbeutung in erster Linie als Fortschritt und Fleischkonsum als Gradmesser des Wohlstands und steigenden Lebensstandards. In der Sowjetunion war Vegetarismus mit dem Makel des religiösen Sektierertums behaftet und spielte allenfalls noch als wissenschaftliche Utopie in der Ernährungsforschung und in der Literatur eine Rolle. In der DDR kam man auf staatlicher Ebene nie über Tierschutz-Positionen hinaus. Wie wir etwa aus sogenannten Eingaben wissen – eine Möglichkeit, schriftliche Beschwerden oder Anregungen an staatliche Stellen zu übergeben, die verpflichtet waren, darauf zu reagieren –, gab es aber durchaus Personen, die versuchten, sich für die Tiere einzusetzen, auch mit Verweis auf sozialistische Prinzipien. Auf Hinweise zur Reduzierung des Fleischkonsums in den Eingaben wurde 1989 standardmäßig geantwortet, solche Auffassungen stünden im Widerspruch zur Meinung der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung, man orientiere aber seit einigen Jahren »systematisch auf eine gesunde Ernährung unter Reduzierung von tierischem Fett und tierischem Eiweiß«. Man kann nicht wissen, wie die Entwicklung weiter verlaufen wäre – klar aber muss sein, dass bei einem erneuten Anlauf, den Sozialismus aufzubauen, dieser Aspekt von vornherein viel mehr Beachtung finden sollte, schlicht auch aus Gründen der Effektivität, der Schonung von Ressourcen und dem Schutz der Umwelt und des Klimas. Leider sind wir davon momentan weit entfernt – die Phase des historischen Niedergangs der Linken nach dem Ende des Realsozialismus ist alles andere als überwunden, und auch die Ansätze zur Formierung einer linken Tierbefreiungsbewegung, die es danach gab, haben sich zum großen Teil wieder in Wohlgefallen aufgelöst.
Wie ordnest du die Entwicklung in den letzten zehn Jahren ein?
Leider hat der Kapitalismus die entstehende Bewegung gewissermaßen im Keim erstickt. Veganismus hatte nennenswerte Verbreitung und Akzeptanz ab den 1990er-Jahren zunächst lediglich im linksautonomen und subkulturellen Bereich gefunden – mit all den Problemen und Unzulänglichkeiten, die mit der in weiten Teilen bürgerlichen Ideologie dieser Szene einhergingen. Dies änderte sich ziemlich schlagartig um das Jahr 2014 herum, als vegane Ernährung im Mainstream ankam. Seither etabliert sie sich zunehmend als ernstzunehmender Wirtschaftsfaktor. Anders ausgedrückt: Der Kapitalismus hat, wie er es zuvor mit anderen gegenkulturellen Bewegungen schon erfolgreich getan hat, den Widerstand gegen Tierausbeutung weitgehend ins System integriert und ihn damit neutralisiert – gleichzeitig schlägt er noch Profit aus ihm. Die autonomen Gruppen, deren politische Praxis oft nicht über Appelle an eine Änderung von Konsumgewohnheiten hinausgereicht hat, wurden durch diese Entwicklung überrumpelt und obsolet gemacht, eine Tierbefreiungs- oder »Antispe«-Gruppe nach der anderen, von denen zur Zeit der Abfassung der ersten des Buches in fast jeder größeren Stadt eine existierte, löste sich auf.
Welche Einschätzung hast du von den Resten dessen, was einmal die Tierbefreiungsbewegung werden wollte?
Der Tierbefreiungskongress 2016 – nach den Tierbefreiungstagen 2012 in Hamburg das erste größere Treffen der deutschsprachigen Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung nach Einsetzen des »Vegan-Hypes« – wurde seinem Motto »Eine starke Bewegung« alles andere als gerecht. Insgesamt vollzog sich eine Öffnung ins bürgerliche Lager, Theoriebestände, die zuvor mühsam erarbeitet worden waren, wurden über Bord geworfen. 2021 und 2023 wurden sogenannte Tierrechtskongresse abgehalten, beide im Leipziger alternativen Kulturzentrum Conne Island, einem Treffpunkt der von rechter Ideologie durchdrungenen »antideutschen« Szene. Beim ersten Kongress war in den Vorträgen sogar noch von »Tierbefreiung« und »Veganismus im Kapitalismus« die Rede – beim zweiten ging es nur noch um Dinge wie »Diversity« oder »vegane Hundeernährung«. Ebenfalls 2023 fand in Dresden im Rahmen der »Libertären Tage« ein »Antispe-Camp« statt, dessen Programm ausschließlich identitätspolitische Themen wie etwa »Intersektionalität« beinhaltete. Theoretische Ansätze, die sich überhaupt noch mit Kapitalismus und Klassenkampf auseinandersetzen, werden immer seltener. Hierin spiegelt sich sicher auch die allgemeine desaströse politische Lage wider. Doch ohne revolutionäre Theorie kann es auch keine revolutionäre Praxis, keine revolutionäre Bewegung geben. Umso wichtiger ist die Arbeit von Organisationen wie »Marxismus und Tierbefreiung«, die – trotz alledem – an dem Ziel festhalten, eine klassenkämpferische Bewegung für Mensch und Tier aufzubauen.
2019 hat sich allerdings auch das Bündnis »Gemeinsam gegen die Tierindustrie« gegründet. Der Zusammenschluss hat einige beachtliche Protestaktionen auf die Beine gestellt, zuletzt am und im Tönnies-Hauptquartier in Rheda-Wiedenbrück. Es hat auch eine lesenswerte Studie zur staatlichen Subventionierung des Fleischkapitals veröffentlicht.[10] Wie sind diese Anstrengungen einzuordnen?
Sie zeigen, dass die Praxis der Tierbefreiungsbewegung effektiv antikapitalistisch ist, wenn sie sich nicht auf die individuelle Sphäre des Konsums beschränkt, sondern ihre Aktivitäten vielmehr direkt gegen die ökonomische Basis der Ausbeutung richten, indem Konzerne, die von ihr profitieren, unter Druck gesetzt, angegriffen oder sabotiert werden. Was das angeht, kann diese kleine Bewegung für so manche andere linke Strömung sogar inspirierend sein, denn ihre Methoden zeigen durchaus Wirkung, wie auch der enorme Repressionsapparat, der von Seiten des Staates und der Industrie in den letzten Jahren gegen die vergleichsweise kleine Bewegung aufgefahren worden ist, deutlich macht. Das wiederum macht auch deutlich, gegen welch massive ökonomische Interessen man zu kämpfen hat, wenn man das Ziel der Tierbefreiung verfolgt. Auch deshalb braucht es eine revolutionäre Strategie und Praxis
Ein Artikel aus dem Zirkular “Hammel & Sittich”, Ausgabe 6, Januar 2025