Nieder mit eurer Tierausbeutung!

Einleitendes zum Dichter Wladimir Majakowski und den Mensch-Tier-Elementen seiner kulturrevolutionären Poesie

Man könne »die Rolle des Tiers in Majakowskis Poesie nicht durch eine sentimental-moralische Analyse nach dem Motto ›Sei nett zu Tieren‹«[1] verstehen. Das behauptet zumindest Lawrence L. Stahlberger in seinem 1964 erschienenen Buch »The Symbolic System of Maykovsky«. Stahlberger war Professor für Slawistik an der Stanford University und eine von wenigen prägenden Figuren in der englisch- und deutschsprachigen Rezeption des futuristisch-kommunistischen Poeten Wladimir Majakowski nach dem Zweiten Weltkrieg.

In jener Zeit, der Hochphase des humanistischen Marxismus im Westen, las nicht nur Stahlberger die Tiere, von denen es in den Werken Majakowskis nur so wimmelt, als Ausdruck menschlicher Entfremdung, als Platzhalter für Menschen und ihre Erfahrungen. Manche Passagen lassen sich gewiss so deuten, insbesondere wenn, was häufig vorkommt, ein Alter Ego des avantgardistischen Künstlers in seinen Gedichten auftaucht und sich in ein Tier verwandelt oder gleich als Tier auftritt. Mal als Strauß, mal als Gans oder auch als Eisbär.

Aber es gibt darüber hinaus in den Gedichten, Poemen, (fiktionalen) Reiseberichten, Theaterstücken und anderen Einlassungen des Dichters, der 1893 im heute georgischen Bagdadi geboren wurde und sich 1930 in Moskau das Leben nahm, Einlassungen zu Tieren, die sich einer solchen Interpretation nicht beugen lassen. Zu den bisher bekanntesten zählt Majakowskis »Ode an die Revolution«, eine Lobpreisung der sozialistischen Oktoberrevolution 1917 in Russland. Darin beschreibt er unter anderem, wie revolutionäre Seeleute, obgleich sie sich mitten im militärischen Kampf befinden, eine Katze von einem untergehenden Schiff retten.[2]

Dass Majakowski, der stets in Ergänzung der politischen und ökonomischen Revolution für eine solche des kulturellen Alltagslebens eintrat, in seinem Werk das Mensch-Tier-Verhältnis grundlegend reflektiert, ist aus mehreren Gründen bemerkenswert. Kunstgeschichtlich und -theoretisch, weil er als ein Vertreter des Futurismus in Russland, den er in den 1910er-Jahren noch unter zaristischer Knute als junger Künstler mit entwickelte, animalische Repräsentanten der klassischen, bürgerlichen Lyrik ebenso wie Naturromantik zutiefst verabscheute. Nachtigallen, Pfauen und Tauben waren ihm zuwider. Er bevorzugte Kultur-, Gesellschafts- und Kapitalismuskritik in neuen Worten und Reimen. Politisch stand Majakowski zudem der Produktivkraftentwicklung und Technik ausgesprochen aufgeschlossen gegenüber. Im Poem »Der Fliegende Proletarier« trinkt man in der von ihm darin entworfenen utopischen Gesellschaft der Zukunft Milch, die aus Wolken gewonnen und nicht Kühen abgepresst wird.

Schließlich hat sich Majakowski auch dem kommunistischen Aufbau in der Sowjetunion verschrieben. Er legte mit »Mysterium Buffo« das erste sowjetische Theaterstück nach der Revolution vor. Sein erstes Poem nach 1918, »150 Millionen«, ist den revolutionären Massen gewidmet. Er arbeitete als Texter und Designer für die sowjetische Nachrichtenagentur ROSTA. Auf Reisen in den Westen trat er de facto als sowjetischer Kunstbotschafter auf. Vor allem aber schrieb und reimte Majakowski, diskutierte und rezitierte vor riesigen Zuschauermengen. Er bezog öffentlich Stellung zu Kontroversen der Kunstentwicklung und zur staatlichen Kunstpolitik. Anfang Mitte der 1920er-Jahre war er eine Art sowjetischer Popstar. Noch 1928, als er schon mit den Behörden wegen seiner Kunst und ihrer Kunstpolitik über Kreuz lag und dazu übergegangen war, offen die Bürokratie, die Einengung der Kunst und die Kontinuität des spießbürgerlichen Alltagsleben in der Sowjetunion zu kritisieren, hieß es in seiner kurz gehaltenen Autobiographie, dass die Oktoberrevolution immer noch »meine Revolution«[3] sei.

Für viele seiner Genossen in Kunst und Politik war in so einem Projekt nicht unbedingt Platz für Tiere. Bei Majakowski war das anders. Im Bericht von seiner Nord- und Mittelamerikareise schildert er mit Entsetzen den Horror der Chicagoer Schlachthöfe. Einem Stier, der in einer mexikanischen Arena von Toreros malträtiert wird, wünscht er effektivere Waffen als seine Hörner, um seine Angreifer ausschalten zu können.

Ein paar Stufen subtiler, aber nicht weniger kritisch, geht es im Gedicht »Wolkenkratzer im Längsschnitt« zu. Dem darin entwickelten Bild der kapitalistischen US-Gesellschaft nach bleiben Tieren bestenfalls die Krümel zum Leben, die vom Tisch der bürgerlichen Menschenwelt herunterfallen, während Fleischkapitalisten auf ihre Kosten Riesengewinne machen. Im bereits erwähnten Poem »150 Millionen« kämpfen – in für Majakowskis Kunst durchaus charakteristischer Übertreibung – nicht nur die Proletarier für den Sozialismus. Tiere und Maschinen gehen ihnen zur Hand.

Eines der wenigen Gedichte, bei denen selbst den hart gesottenen humanistischen Interpreten Majakowskis, seien sie nun liberal oder marxistisch, Zweifel gekommen sind, dass die Tiere in dessen Zeilen lediglich Menschen symbolisieren, ist aus dem Jahr 1918. Sein Titel: »Gute Behandlung der Pferde«. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass mit ihm ein Bild für eine sozialistische Ethik der Mensch-Tier-Beziehungen geschaffen wird.

Im Gedicht fällt ein Pferd auf einer vereisten Moskauer Straße hin. Während die umstehenden Menschen darüber lachen, tritt eines von Majakowskis lyrischen Doubles auf das Tier zu, um Trost zu spenden und es wieder aufzurichten. Dabei spricht er folgende Verse: »Mein Pferd, nicht weinen, / Ich kenne die Beschwerde – / Wer sagt Ihnen denn, Sie sei’n weniger wert? / Kindchen, / wir alle sind ein wenig Pferde, / jeder von uns ist auf seine Art Pferd.«[4]

Sogar Stahlberger muss eingestehen, dass hier das »Leiden des gefallenen Pferds das Leiden aller Kreaturen umfasst – von Mensch und Tier«[5]. Es scheint also auf, was der Literaturhistoriker und einstige Mitherausgeber der Gesamtausgabe von Majakowskis Werken in der Sowjetunion, Wiktor Duwakin, schon in den 1970er-Jahren mit Bezug zu einem Auszug aus dem Poem »Pro Eto« als »Verwandtschaftsempfinden« zwischen Menschen und Tieren bezeichnet, als »ein Gefühl des Beteiligtseins an allem Lebendigen«[6].

Ein solches Verwandtschaftsempfinden ist sicher nicht das letzte Wort eines Sozialismus für die Befreiung der Tiere und es unterscheidet sich auch von einer Seid-Nett-Zu-Tieren-Haltung. Vor allem ist es aber gewiss kein schlechter Startpunkt – eine Gemeinsamkeit zwischen Majakowski und Luxemburg, wie der kritische Gesellschaftstheoretiker Moshe Zuckermann dargelegt hat[7] –, um für den Sozialismus einzutreten. Zumal es in Majakowskis Œuvre, wie angedeutet, nicht dabei bleibt, die Einheit von Mensch und Tier im Leiden an der gegenwärtigen Gesellschaft zu konstatieren.

In Hammel & Sittich werden wir in den kommenden Ausgaben Gedichte und Auszüge aus Majakowskis Arbeiten dokumentieren. Zum einen wollen wir damit überhaupt einer deutschen Leserschaft die Lektüre ermöglichen. Zum anderen wollen wir damit dazu beitragen, Linien aufzuzeigen, entlang derer der Aufbau einer proletarischen Gegenkultur zur Befreiung der Tiere verlaufen könnte.

Raul Lucarelli
für die Hammel-&-Sittich-Redaktion

Ein Artikel aus dem Zirkular “Hammel & Sittich”, Ausgabe 4, Dezember 2023