Eine Ideologiekritik
Laut Fokus Fleisch, einer Initiative der Fleischbranche in Deutschland, ist »Fleisch als Motor der menschlichen Evolution«[1] anzusehen. Erst der Verzehr von Fleisch »lieferte dem Menschen damals [die] wichtige Energie, die seine körperliche sowie geistige Entwicklung begünstigte«. Dass der ideologische Apparat des deutschen Fleischkapitals das so in die Welt hinausposaunt, ist nicht weiter verwunderlich. Solche Ansichten über die angeblich zentrale Rolle des Fleischessens in der Evolution des Menschen beschränken sich jedoch nicht nur auf den medialen Arm des tierindustriellen Komplexes.
Ende des 19. Jahrhunderts, in seiner Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften in den fragmentarisch gebliebenen Manuskripten der »Dialektik der Natur«, hat sich sogar der Mitbegründer des historischen Materialismus Friedrich Engels dementsprechend geäußert. In seinem 1896 veröffentlichten Artikel über den »Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen« wandte er gegenüber den »Herren Vegetarianern« ein, dass »der Mensch […] nicht ohne Fleischnahrung zustande gekommen«[2] sei. Engels‘ Vorstellung, dass die ausgedehnte karnivore Lebensweise »einen wesentlichen Schritt zur Menschwerdung« darstellt, ist auch noch heute weit verbreitet – sowohl unter Linken als auch in den bürgerlichen Wissenschaften.
Doch wie erscheint diese Annahme im Lichte der neuesten paläoanthropologischen Forschung? Und was bedeuten deren Erkenntnisse für die Ansichten und politischen Strategien der Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung sowie marxistischer Organisationen in der Gegenwart?
Fleischkonsum und die Evolution des Menschen
Der Homo erectus – wörtlich »der aufgerichtete Mensch« – taucht vor etwa zwei Millionen Jahren in Afrika auf.[3] Mit der Entwicklung dieser Art treten etliche Merkmale und Eigenschaften, die als spezifisch menschlich respektive menschenähnlich gelten, erstmals auf. So zeichnen sich die Mitglieder dieser Spezies in Abgrenzung zu anderen Hominini unter anderem durch ihre erhöhte Körpergröße, einen kürzeren Darm, kürzere Arme und, was als entscheidend gilt, durch ein größeres Hirnvolumen aus.[4, 5, 6] Doch was waren die entscheidenden Faktoren, die diese evolutiven Veränderungen hervorgebracht beziehungsweise ermöglicht haben?
Die wahrscheinlich noch immer gängigste Erklärung unter Paläoanthropologen bietet die sogenannte Meat-Made-Us-Human-Hypothese (»Fleisch hat uns menschlich/zum Menschen gemacht«).[7] Ihr zufolge war es die erhöhte Fleischaufnahme, die das Zustandekommen gewisser ausschlaggebender Schritte in der menschlichen Evolution wie die Ausbildung ihres größeren Hirnvolumens ermöglicht hat. Nur durch die veränderten Ernährungsgewohnheiten, so die Annahme, habe die Zufuhr einer gesteigerten Menge an gewissen Nährstoffen bewerkstelligt werden können, die für die Entwicklungssprünge in der menschlichen Evolution benötigt worden seien.
Archäologische Funde aus Afrika scheinen diese These zu stützen. Einige Entdeckungen – insbesondere Werkzeugspuren an Tierknochen – weisen darauf hin, dass Hominini bereits vor 2,5 Millionen Jahren Fleisch oder Knochenmark zu sich genommen haben, das heißt schon vor dem Erscheinen des Homo erectus. Für den Zeitraum, der seinem Auftauchen folgt, scheint das Ausmaß solcher Indizien jedoch signifikant zuzunehmen. Die Beweislage legt nahe, dass ein rapider, massiver und dauerhafter Anstieg des Fleischkonsums durch menschliche Vorfahren vor etwa zwei Millionen Jahren stattgefunden hat.
Die Ausdehnung der karnivoren Lebensweise fällt demnach zeitlich und räumlich mit der Entstehung des Homo erectus zusammen. Die Schlussfolgerung, die sich daraus ziehen lässt, ist laut Henry T. Bunn, einem führenden Repräsentanten der Meat-Made-Us-Human-Hypothese und Professor für Afrikanische Paläoanthropologe an der Universität Wisconsin-Madison, klar: Es sei »die Beschaffung und die Konsumption von Fleisch durch frühe Vertreter des Homo erectus« gewesen, die »einen Selektionsdruck für die Evolution des menschlichen Verhaltens«[8] hervorbrachten.
Zweifel an den Beweisen
Eine Anfang des letzten Jahres in den Proceedings of the National Academy of Sciences publizierte Studie mit dem Titel »No sustained increase in zooarchaeological evidence for carnivory after the appearance of Homo erectus« (»Keine anhaltende Zunahme der zooarchäologischen Beweise für Fleischkonsum nach dem Auftreten des Homo erectus«) wirft allerdings erhebliche Zweifel an dieser Hypothese und dem damit verbunden Narrativ auf.[9]
Die Forschungsgruppe um die in Washington arbeitenden Anthropologen Andrew Barr und Briana Pobiner führte die Resultate von Funden mehrerer Ausgrabungsstätten in Ostafrika, die auf den Fleischverzehr in der Zeit zwischen 2,6 und 1,2 Millionen Jahren vor unserer Zeit hindeuten, zusammen und wertete diese neu aus. Im Unterschied zu den meist sehr lokalen Untersuchungen war ihre regionale quantitative Analyse der archäologischen Hinweise an Tierknochen räumlich und zeitlich umfassender angelegt. Sie beschäftigte sich daher mit der Frage, ob die Beweise nicht nur im Einzelnen, sondern auch in ihrer Gesamtheit für einen dauerhaft stark angestiegenen Fleischkonsum mit der Herausbildung des Homo erectus sprechen.
Einerseits zeigt ihre Auswertung, dass die effektive Anzahl dieser Art von Hinweisen vor etwa zwei Millionen Jahren in der Tat stark zunimmt. Andererseits argumentieren die Autoren jedoch, dass die Dinge in einem anderen Licht erscheinen, wenn man berücksichtigt, wie viel Aufwand für die Probennahme an den verschiedenen Ausgrabungsstätten betrieben wurde, beziehungsweise in welchem Umfang an jeweiligen Orten Beweismaterial gesammelt wurde. Nachdem das Team um Barr und Pobiner die Daten um diesen Faktor bereinigt hatte, sprachen die Funde nicht länger für eine signifikante Änderung des Fleischkonsums im untersuchten Zeitraum.
In anderen Worten, die Häufung von Hinweisen auf den Fleischkonsum nach dem Auftauchen des Homo erectus gibt kein adäquates Bild der Realität wieder. Man hat bisher überdurchschnittlich viel an jenen Orten gegraben und gesucht, an denen man Artefakte für den jüngeren Zeitraum nach der Entstehung des Homo erectus gefunden hatte. Gleichzeitig haben Ausgrabungsstätten, die Hinweise auf die Lebensweise seiner Vorgänger enthielten, meistens weniger wissenschaftliche Beachtung gefunden. Der Studie zufolge ist die Zunahme an Beweisen für den menschlichen Verzehr von Fleisch vor rund zwei Millionen Jahren eher als ein Nebeneffekt der archäologischen Praxis anzusehen und nicht als Beleg für die Meat-Made-Us-Human-Hypothese.
Natürlich reicht diese rein quantitative Datenanalyse nicht aus, um die Meat-Made-Us-Human-Hypothesis ein für alle Mal zu verwerfen. Trotzdem steht die lang- und weitverbreitete Vermutung, dass der Mensch in seiner evolutionären Entwicklung auf einen ausgedehnten Fleischverzehr angewiesen war, mit dieser Studie – die bis jetzt leider noch allein dasteht – plötzlich auf wackligen Beinen. »Unsere Beobachtungen untergraben evolutionäre Erzählungen«, so Barr, Pobiner und ihre Koautoren, »die anatomische und verhaltensbezogene Merkmale mit dem erhöhten Fleischkonsum bei Homo erectus in Verbindung bringen, was darauf hindeutet, dass andere Faktoren für das Auftreten seiner menschenähnlichen Merkmale verantwortlich sind.«[10]
Eine genauere Untersuchung der Fundstellen, die Beweise für den Fleischkonsum von Vorgängern des Homo erectus enthalten, könnte zur weiteren Klärung der Frage beitragen, ob tatsächlich keine Steigerung des Fleischessens mit einem evolutiven Sprung einherging. Auch müssten die vorgeschlagenen Alternativen für die entscheidenden Faktoren der Menschwerdung genauer unter die Lupe genommen werden. Ein Kandidat dafür könnte das Kochen sein. Doch bislang gibt es noch keine archäologischen Hinweise dafür, dass sich die Nutzbarmachung des Feuers durch unsere Vorfahren bereits vor zwei Millionen Jahren ereignete.[11]
Ein Platz im Naturhistorischen Museum
Es wäre wahrscheinlich übertrieben, der Nutzung von tierischen Produkten in der menschlichen Evolution jegliche Bedeutung abzusprechen. Viel eher kann man sagen, dass die Studie ein verzerrtes Bild über unsere Vergangenheit geraderückt. Wissenschaft kann, mit der Realität an ihrer Seite – die sich aber nur vermittelt, und im Falle der Paläoanthropologie nur äußerst bruchstückhaft erfahren und verstehen lässt –, ideologische Vorstellungen infrage stellen. Im betrachteten Fall die Ansicht, dass für die Entwicklung des Menschen der Fleischverzehr zentral, notwendig und in einem evolutiven Sinn auch fortschrittlich war.
Doch, selbst wenn sich die Meat-Made-Us-Human-Hypothese als wahr herausstellte, hätte das keine Bedeutung für die Frage, ob wir heute Fleisch zu uns nehmen müssen oder nicht. Der eingangs zitierten Behauptung der Public-Relations-Außenstelle der deutschen Fleischindustrie liegt nämlich – wie zahlreichen ähnlichen Aussagen von Apologeten der Tierausbeutung – der Trugschluss zugrunde, dass die möglicherweise einstige evolutive Wirkung des Fleischs die Notwendigkeit oder Rechtfertigung seines Konsums heute begründet. Dafür gibt es aber keine sachliche Grundlage.
Was damals der menschlichen Entwicklung geholfen haben könnte, muss es heute nicht tun. Der gegenwärtige Stand der Produktivkräfte – das Wissen, unter anderem über die nötigen Nährstoffe für den Menschen, und die technischen Mittel des 21. Jahrhunderts – sowie ihre weitere Entwicklung haben dem Fleischkonsum einen Platz im Naturhistorischen Museum zugewiesen. Die Menschen haben ihre Fähigkeiten weit über ihre evolutive Grundausstattung hinaus erweitert und sie haben heute die Möglichkeit, sich rein pflanzlich und im Frieden mit den Tieren und der Natur zu ernähren.
Außerdem, darauf sollte man in diesem Zusammenhang auch hinweisen, hat sich bis ins 18. Jahrhundert »der Mensch in der Hauptsache von Pflanzenkost«[12] ernährt, wie der französische Sozial- und Wirtschaftshistoriker Fernand Braudel im ersten Band seines Hauptwerks »Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhunderts« schreibt. Ihm zufolge habe sich die Menschheit schon sehr früh »in zwei Gruppen« geschieden: »die wenigen Fleischesser und die Unzahl derer, die sich von Brot, Mus und gekochten Wurzeln und Knollen ernähren«[13]. Die Ernährung eines Menschen hat also schon von Beginn an eher »[ge]zeigt, welchen sozialen Rang er bekleidet«[14], als dass sie über irgendwelche ökotrophologischen Notwendigkeiten Auskunft gäbe, die sich seit der Frühgeschichte des Menschen durchhalten.
Ob nun der etwaige ausgedehnte Fleischkonsum des Homo erectus in der Frühgeschichte des Menschen oder die in unserer Zivilisationsgeschichte dominierende landwirtschaftliche Arbeit und pflanzliche Ernährung – all diese historischen Umstände sind noch keine Argumente für oder gegen eine bestimmte Wirtschaftsweise, Ernährung oder für den Umgang mit Tieren in der Gegenwart. Mit den heutigen weit entwickelten Mitteln der gesellschaftlichen Produktion und Reproduktion ist es möglich, die Lebenspraxis der Menschen anders zu organisieren, als es in der Vergangenheit der Fall war.
Dazu müssten die Fragen des Zusammenlebens zwischen den Menschen und zwischen Menschen, Natur und Tieren unter den gegebenen sozialen, ökonomischen und politisch-kulturellen Bedingungen demokratisch diskutiert, durch- und umgesetzt werden. Die Konversion hin zu einer nachhaltigen, gerechten und rein pflanzenbasierten Produktions- und Lebensweise ist gegenwärtig nicht nur prinzipiell machbar, sondern dringend notwendig – für die sozial gerechte Entwicklung der Verhältnisse der Menschen zueinander, zur Natur und zu den Tieren. In der Gegenwart stehen dieser Forderung natürlich in erster Linie die kapitalistischen Produktions- und Eigentumsverhältnisse im Weg.
Gegen die Naturalisierung des Fleischkonsums
Für die Gestaltung der gegenwärtigen und zukünftigen gesellschaftlichen Nahrungsmittelproduktion ist die Ernährungsweise unserer Vorfahren also keineswegs entscheidend. Das heißt aber nicht, dass es der Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung egal sein kann, was für ein Bild der Menschheitsgeschichte verbreitet wird. Wenn »Fleisch als Teil unserer Geschichte« dargestellt wird, wie das Fokus Fleisch und andere machen, um uns glauben zu lassen, dass »sich der Mensch ohne den Verzehr von Fleisch niemals so fortschrittlich entwickelt«[15] hätte, so haben die Adepten der Fleischindustrie längst begriffen, wie wichtig dieses Feld der Auseinandersetzung ist.
Heutzutage herrscht eine Fleischhegemonie.[16] Die Überausbeutung der Tiere zur Produktion von Fleisch wird von großen Teilen der Bevölkerung akzeptiert oder gar verteidigt. Mit materiellen und politisch-ökonomischen Zugeständnissen, zum Beispiel mit Tierschutzgesetzen, erkauft sich die Fleischindustrie das unausgesprochene Einverständnis zur Tierausbeutung durch politisch aktive Gruppen der Gesellschaft. Dieser Konsens wird auch über bestimmte Denkformen und Ideologien etabliert und gefestigt. Dazu zählt unter anderem auch das Verständnis von der Funktion des Fleischs in unserer Geschichte. Die Sicht auf unsere Vergangenheit formt die Vorstellungen davon, was gegenwärtig möglich ist und wie eine Zukunft aussehen könnte. Den Fleischkonsum als wesentliche überhistorische Notwendigkeit menschlicher Entwicklung auszugeben, ist eine Form, das Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnis zu Tieren zu naturalisieren: Wenn »wir« das Tierfleisch für »unsere« Evolution gebraucht haben, liegt der Fleischkonsum wohl in der Natur des Menschen.
Indem der Fleischkonsum vom Tierkapital als notwendig, fortschrittlich und natürlich dargestellt wird, kann die Fleischindustrie ihre blutige Praxis in den Schlachtfabriken rechtfertigen. Denn darum geht es letztendlich: Die Bevölkerung soll hinnehmen, dass zum Zwecke des Profits Tiere getötet werden. »Unser grundsätzlicher Ernährungsstil ist nun also seit Millionen Jahren bewährt«[17], erzählt uns Fokus Fleisch. Wobei zudem ignoriert wird, dass der massenhafte Fleischkonsum, wie er heutzutage verbreitet ist, ein erst neuzeitliches Phänomen ist und zudem starke geographische Unterschiede aufweist. Die karnivore Ernährungsweise, so kann man zusammenfassen, soll also keinesfalls angetastet werden. Davon hängen schließlich die Absatzzahlen des Fleischkapitals ab.
Schlussendlich gilt es, das Bild des heutigen Menschen als Resultat des Fleischkonsums auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse zu hinterfragen. Barr und Pobiners Studie hat dazu einen neuen Anstoß gegeben. Gleichzeitig muss die Verknüpfung zwischen Vergangenheit und Gegenwart relativiert werden. Gleich zu welchem Ergebnis die paläoanthropologische Forschung kommen sollte, das Insistieren auf der karnivoren Lebensweise unter heutigen sozialökonomischen Bedingungen ist geschichtlich überholt, unvernünftig und antifortschrittlich. Die ideologische Behauptung, der mutmaßliche Sprung in der Evolution infolge des Fleischkonsums sei ein Argument dafür, heute Fleisch zu essen, hat die Funktion, den Status quo der Tierausbeutung zu erhalten. Unabhängig von frühgeschichtlichen Prämissen muss unter den heutigen materiellen Verhältnissen für eine rein pflanzliche und sozialistisch organisierte Lebensmittelproduktion gekämpft werden – für realen Fortschritt und den nächsten Sprung nach vorn in der Geschichte der Menschheit.
Daniel Hessen
Ein Artikel aus dem Zirkular “Hammel & Sittich”, Ausgabe 4, Dezember 2023