»Besatzungspolitik und Veganismus sind unvereinbar«

Tierrechtsarbeit in Palästina – ein Gespräch mit Ahlam Tarayra
(english translation here)

Wie sieht die politische Arbeit für Tiere unter den Bedingungen des israelischen Okkupationsregimes in Palästina aus – gibt es so etwas überhaupt? Die Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung ist zwar aus gutem Grund ein wichtiges Thema nicht zuletzt für internationalistische und antiimperialistische Linke. Über die Situation der Tiere sowie den Einsatz für ihre Interessen in Palästina ist im deutschsprachigen Raum allerdings nicht allzu viel bekannt. Anlass genug für uns, darüber mit Ahlam Tarayra vom Baladi Palestine Animal Rescue Team zu sprechen, das im Westjordanland arbeitet. Im Interview für unser Zirkular gibt sie Auskunft über die Rettung und Versorgung von Straßentieren im Westjordanland und in Gaza, den Einsatz für progressive Anliegen unter Bedingungen der Besatzung und das »Veganwashing« der israelischen Politik. Zudem erklärt sie, warum der Kampf gegen das Okkupationsregime auch die Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung etwas angeht – wie die jüngste israelische Militäroffensive einmal mehr gezeigt hat.

Ahlam Tarayra lebt in Ramallah und ist Gründungsmitglied von Baladi. Sie ist außerdem Geschäftsführerin von MUSAWA – The Palestinian Center for the Independence of the Judiciary and the Legal Profession.

Hinweis: Wir rufen zur finanziellen Unterstützung sowohl für Baladi als auch für die Organisation Sulala auf, die in Gaza für die Versorgung und Rettung von Tieren arbeitet.

Ahlam, wir haben uns eigentlich getroffen, um ein Interview über Tierrechtsarbeit unter der Militärbesatzung in Palästina zu führen. Lass uns angesichts der jüngsten Ereignisse aber mit der Situation in Gaza und der israelischen Militäroffensive anfangen. Zum jetzigen Zeitpunkt – es ist Mitte November – sind bereits fast 12.000 Menschen insbesondere im Norden des Gazastreifens getötet und große Teile der Infrastruktur durch israelische Bombardierung zerstört worden. Tausende von Menschen wurden in den Süden von Gaza vertrieben und die humanitäre Lage verschlimmert sich zusehends. Im Moment scheint es unmöglich vorherzusagen, wie sich die Situation insgesamt – militärisch, politisch und humanitär – entwickeln wird. Wie hast Du die letzten Wochen erlebt?

Wie allen anderen in Palästina geht es mir nicht gut. Für die Schwachen scheint diese Welt immer dunkler zu werden. Die meiste Zeit habe ich das Gefühl, dass wir alle Hoffnung verloren haben. Die Qual, nicht selber mitzuerleben, was unser Volk in Gaza – menschliche ebenso wie nicht-menschliche Angehörige – erleidet, während es von der Welt abgeschnitten ist, ist unerträglich. Ich schäme mich dafür, im Westjordanland Zugang zu Elektrizität, Trinkwasser und einem Dach über dem Kopf zu haben und schnell Brot aus dem nächstgelegenen Laden holen zu können – grundlegende Privilegien, die den Menschen in Gaza seit dem 7. Oktober verwehrt werden. Ich schäme mich, den Schrecken der Bombardierungen nicht ebenfalls zu erleben. Der Schmerz über die Komplizenschaft der westlichen Regierungen in diesem Genozid ist überwältigend. Ebenso die krasse Wut darüber, dass sie die Bombardierung von Krankenhäusern zulassen, alles im Namen der Selbstverteidigung, während es in Wirklichkeit die Verteidigung der Besatzung und von ethnischer Säuberung ist. Es ist ein Trauma, das uns für immer verfolgen wird.

Die Aggressionen beschränken sich nicht auf den Gazastreifen: Auch im Westjordanland kommt es vermehrt zu Attacken durch das israelische Militär und bewaffnete rechte Siedler. Wie ist die Lage dort?

Ich kann mit meiner Geschichte als Palästinenserin aus dem Westjordanland beginnen, um zu veranschaulichen, was hier passiert. Ich war für eine Nacht in Jordanien und sollte am 7. Oktober nach Hause zurückkehren – dem Morgen, an dem die palästinensischen Kämpfer ihren Angriff auf die israelischen Militärstützpunkte in der sogenannten »Gaza-Hülle« rund um Gaza begannen. Ich saß acht Nächte lang in Jordanien fest, da Israel die Grenzen blockierte. Jeden Tag versuchte ich erfolglos, nach Hause zurückzukehren, bis es mir gelang, die Grenzen zu überqueren. Aber das bedeutete, dass ich die Nacht unter miserablen Bedingungen auf der Straße verbringen musste, zusammen mit Tausenden von Palästinensern, die in derselben Notlage waren. Trotz der irreführenden Ankündigung, die Grenzen seien den ganzen Tag über offen, erlaubte Israel in dieser Woche täglich nur 1000 Palästinensern die Einreise über die jordanischen Grenzen. Diese Situation war schmerzhaft und äußerst frustrierend, und das tief verwurzelte intergenerationelle Trauma, nie wieder nach Hause zurückkehren zu können, hat mir und meinem Verstand wirklich zugesetzt. Als ich schließlich nach Hause zurückkehren konnte, kam mir das wie ein Wunder vor. Deshalb habe ich mich erst gar nicht darüber beschwert, dass ich zwei Stunden lang an einem israelischen Kontrollpunkt festsaß, nachdem es bereits 18 Stunden gedauert hatte, nur die Grenze zu überqueren.

Der Aufruhr im Westjordanland ist derzeit anders gelagert als in Gaza: Es gibt israelische Razzien bei Tag und Nacht in palästinensischen Städten und Dörfern, Massenverhaftungen, Bombenanschläge in Jenin und Tulkarm, extralegale Hinrichtungen und Angriffe durch Siedler, die auch zu Vertreibungen aus Gebieten im Süden Hebrons geführt haben. Diese Vorfälle haben auch viele Bauern im Westjordanland davon abgehalten, ihre Oliven zu ernten, was zu einem erheblichen Anstieg der Olivenölpreise geführt hat. Auch die seit dem 7. Oktober andauernden Schließungen und Blockaden von Stadteingängen beeinträchtigen die Region weiterhin.

Was vermutest Du, wie die Gesamtsituation sich entwickeln wird? Und worauf zielt das israelische Vorgehen ab?

Israels Ziel ist ethnische Säuberung. Das ist ganz offensichtlich und wird durch die koloniale Politik und Praxis der Besatzung in den letzten 76 Jahren klar ersichtlich. Wie sich die Dinge entwickeln werden, weiß derzeit niemand. Viele Menschen verlieren ihre Arbeit und ihren Lebensunterhalt, und Ungewissheit ist das Einzige, was jetzt gewiss ist. Wir wollen, dass die Aggression gegen Gaza aufhört, dass die Besatzung vollständig beendet wird und dass die vertriebenen Menschen wieder nach Hause zurückkehren können. Der Winter hat begonnen, und wir sehen Vertriebene in Gaza, die Gott darum bitten, den Regen zu stoppen, weil sie buchstäblich unter freiem Himmel leben. Wie viele andere hoffe ich, dass diejenigen, die Kriegsverbrechen und Gräueltaten gegen mein Volk begangen haben, zur Rechenschaft gezogen und strafrechtlich verfolgt werden.

Unter der Besatzung leiden nicht nur Menschen, sondern auch Tiere – für deren Belange Du Dich ebenfalls einsetzt: Du hast unter anderem 2020 das Baladi Palestine Animal Rescue Team mitgegründet. Wie wird man in Palästina zur Tierrechtsaktivistin?

Ach, ich glaube genauso wie an anderen Orten auch! Man hat immer wieder Momente des Mitgefühls und der Solidarität mit Tieren, und irgendwann entschließt man sich, diesen Impulsen nachzugehen und Taten folgen zu lassen. Meine Eltern waren Kleinbauern, die erst Schafe züchteten und später eine kleine Hühnerfarm betrieben. Ich habe dort immer mitgeholfen und dabei selbst miterlebt, was es für die Tiere bedeutet, dass kleine Bauern unter ökonomischem Druck stehen und konkurrenzfähig sein müssen. Das war zwar normal für mich, aber es hat sich auch immer falsch angefühlt, Tiere für den Verkauf und die Schlachtung zu züchten. Später, nachdem ich für mein Studium nach England gehen konnte und dort industriell verpackte Teile von Hühnern sah, hatte ich bereits große Hemmungen, Hühnerfleisch zu essen. Es gab aber ein besonders prägendes Erlebnis: Meine Eltern hatten lange noch einige Schafe, und der älteste Schafbock war ihr Anführer und hatte einen Namen. Er entwickelte irgendwann aggressive Verhaltensweisen und verletzte meinen Vater, weshalb dieser befand, dass es nicht mehr halal sei, ihn zu verkaufen. Also ließ er ihn schlachten. Er organisierte ein Grillfest, und als ältestes Kind meiner Familie war ich gezwungen, als erste von dem Fleisch zu essen. Ich konnte aber keinen Bissen herunterbekommen, und bei dem Gedanken, den Schafbock zu essen, mit dem ich so lange gelebt hatte, musste ich mich fast übergeben. Das war das letzte Mal, dass ich rotes Fleisch gegessen habe. Ich begann erst später, vegan zu leben, aber von da an konnte ich schon kein Schaffleisch mehr essen, weil mich alle Schafe an den Schafbock meiner Familie erinnerten. Dass ich noch nicht vegan lebte, hatte eher soziale Gründe – ich wollte meinen Freunden und meiner Familie keine Umstände bereiten. Ich fing damals aber bereits an, mich bewusster mit Veganismus und Tierschutz zu beschäftigen. Irgendwann wurde ich dann schließlich in der Rettungsarbeit aktiv. In dieser Zeit beschloss ich, vegan zu leben und mich aktiv für Tierrechte einzusetzen.

Du hast 2020 außerdem den Zusammenschluss Vegan in Palestine (ViP) mit ins Leben gerufen. Wie sieht dessen Arbeit aus, was macht ihr?

Vegan in Palestine ist der Zusammenschluss, innerhalb dessen Baladi arbeitet. Unser Ziel mit ViP ist es, Bewusstsein für den Veganismus als mitfühlende und verantwortungsvolle Antwort auf ethische Fragen in Bezug auf Tiere, Umwelt und Gesundheit zu fördern. Wir organisieren Veranstaltungen, um vegane Versionen von traditionellen und beliebten Lebensmitteln vorzustellen. Wir haben zum Beispiel die erste vegane Version des traditionellen Frischkäses Labneh in Palästina auf den Markt gebracht, die der milchhaltigen Variante in nichts nachsteht. Darüber hinaus wollen wir die Praxis des Schlachtens von Tieren im Allgemeinen und bei religiösen Anlässen infrage stellen, da wir sie als überholte Norm oder Praxis ansehen, die durch empathische und solidarische Ansätze ersetzt werden kann.

Baladi arbeitet vor allem mit Tieren auf der Straße: Ihr vermittelt »Adoptionsdienste, bezuschusste Tierarztbesuche für Straßentiere« und klärt über »Tierrechte und Sicherheitsmaßnahmen in Palästina auf«, wie ihr schreibt. In den palästinensischen Städten leben insbesondere viele Hunde auf der Straße, und das unter oftmals sehr schlechten Bedingungen. Wieso ist das der Schwerpunkt eurer Arbeit?

Weil das hier praktisch die Hauptfrage ist. In der westlichen Welt kann die Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung den Schwerpunkt auf die Tiere legen, die für die Industrie gezüchtet und getötet werden, weil die Fleischindustrie der zentrale Akteur ist. Und für Hunde und Katzen zum Beispiel, die auf der Straße leben, gelten zumindest Tierschutzgesetze, aufgrund derer sie etwa nicht gegessen werden dürfen oder die ihre Misshandlung verbieten. In Palästina, wie an anderen Orten der Erde, ist die Situation anders. Von der Tierindustrie abgesehen gibt es hier vor allem ein großes Problem mit der Misshandlung von Katzen und Hunden. Für Katzen und insbesondere Hunde auf der Straße ist die Situation sehr schlecht. Rechtlich gibt es hier nahezu keinen Schutz für Straßentiere. Ihre Misshandlung wird nur sehr unspezifisch unter Strafe gestellt, und für die Misshandlung eines Tieres droht eine Strafe von bloß fünf jordanischen Dinar, das sind umgerechnet sieben US-Dollar – sofern jemand die Misshandlung überhaupt anzeigt. Es gibt daher insgesamt kaum Mitgefühl für Straßentiere. Dies wird von kulturellen und religiösen Faktoren verstärkt, weil vor allem Hunde in der arabischen Kultur als unreine Tiere gelten. Hinzu kommt noch, dass es dementsprechend eine weitverbreitete Ansicht ist, das angebliche Problem der Straßenhunde »lösen« zu können, indem man sie einfach erschießt oder anders tötet. Das wurde und wird leider auch von fast allen Autoritäten, inklusive der Palästinensischen Autonomiebehörde, so propagiert.

Das klingt, als ginge es euch auch darum, ein anderes Bewusstsein für die Straßentiere zu schaffen.

Genau. Aus Perspektive der Tierrechtsbewegung kann man sich hier nicht unmittelbar der Fleischindustrie widmen und dabei die Frage der Straßentiere übergehen. Außerdem bietet ihre Lage mehr Möglichkeiten, überhaupt ein Alltagsbewusstsein für die Belange der Tiere zu schaffen: Viele Leute sind hier etwa der Ansicht, die Bedingungen der Farmzucht von Tieren seien gut und in gewisser Weise »natürlicher«. Wir machen deutlich, dass das nicht stimmt und Tiere dabei wie Arbeitswerkzeuge behandelt werden. Ihre Haltung und Schlachtung sind außerdem von einem religiösen Standpunkt gesehen nicht so halal, wie viele meinen. So versuchen wir, Mitgefühl und ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass Tiere Mitgeschöpfe sind. Daher auch unser Name: »Baladi« kann mit »ländlich« oder »einheimisch« übersetzt werden und macht auf die Verbundenheit von Natur, Mensch und Tier aufmerksam. Der Einsatz für Straßentiere ist für uns ein Schlüssel, die Tierfrage hier überhaupt zum Thema zu machen.

Nun kann man auch über die Arbeit mit Tieren in Palästina nicht sprechen, ohne über die Unterdrückung durch die israelische Besatzung zu sprechen. Sie ist allgegenwärtig, und es gibt keinen Aspekt des Alltags, der nicht in irgendeiner Form politisch, historisch oder materiell von ihr geprägt wäre. Welche Auswirkungen hat das Besatzungsregime auf die Situation der Tiere und eure Arbeit im Westjordanland?

Durch die Militärbesatzung fehlen generell viele Ressourcen für die alltägliche Arbeit etwa mit Straßentieren. Das betrifft sowohl uns selbst, aber auch zum Beispiel Veterinärmediziner hier im Westjordanland. Aufgrund der Checkpoints, und weil die Einfuhr mancher Medikamente verboten ist, mangelt es etwa an Medikamenten für Tierärzte oder an Material und Beruhigungsmitteln, die wir bräuchten, um zum Beispiel panische Straßentiere einsammeln und behandeln zu können. Es fehlt an Wissen, Material, Infrastruktur und Räumlichkeiten. Viele, die die Chance dazu haben, schicken ihre Tiere zur Behandlung nach Israel, weil die Versorgungslage dort viel besser ist.

Ist »reine« Tierrechtsarbeit unter diesen Bedingungen überhaupt möglich?

Nein, das ist sie aus mehreren Gründen nicht. Lass mich mit einem kleinen historischen Beispiel beginnen: Eine Freundin schickte mir vor einiger Zeit einen Auszug aus einem Buch, in dem eine palästinensische Organisation dokumentiert war, die schon in den 1920er-Jahren, also bemerkenswert früh, in Jaffa gegründet wurde und sich für die Belange der Tiere einsetzte – etwas, das unter den heutigen Umständen unvorstellbar erscheint. Wenn man das der heutigen Situation gegenüberstellt, wird allein daran deutlich, was die Tragödie der Kolonisierung Palästinas hier alles verändert hat: Sie hat progressive Ansätze massiv zurückgeworfen und erschwert den Einsatz für sie bis heute – das gilt für die Tierfrage genauso wie für andere fortschrittliche Anliegen.

Viele würden jetzt wahrscheinlich sagen: Man muss sich erst einmal um die Besatzung kümmern, alles andere kommt später.

Ja, aber ich halte so eine Vorstellung für falsch. Die Besatzung überformt alle progressiven und emanzipativen Anliegen zum einen ganz direkt, also – wie in unserem Fall – durch politische und materielle Einschränkungen. Zum anderen überformt sie sie politisch, weil sie zur zentralen Frage wird, angesichts derer viele Leute meinen, andere politische Anliegen erst einmal hintanstellen zu müssen: Es heißt dann, man könne Geschlechtergerechtigkeit nicht thematisieren, solange die Besatzung da sei, man könne Kapitalismus nicht thematisieren, solange die Besatzung da sei, man könne ohne ein Ende der Besatzung nicht über LGBTIQ-Anliegen oder andere fortschrittliche Anliegen sprechen. Dem stimme ich nicht zu. Wir stehen durch diese Situation aber vor der Aufgabe, fortschrittliche Anliegen mit dem Kampf für das Ende der Besatzung zu verbinden. Progressive Ziele zurückzustellen und aufzuschieben, halte ich jedoch für den falschen Weg.

Du sagtest, viele würden ihre Tiere nach Israel bringen, weil die Versorgung dort besser sei. Baladi arbeitet aber aus Prinzip nicht mit NGOs aus Israel zusammen. Warum?

Weil wir Abhängigkeiten und Asymmetrie abbauen wollen. Aus unserer Sicht ist das Beste, das Tierschutz- und Tierrechtsorganisationen in Israel angesichts der Umstände, die ich gerade geschildert habe, tun können, sich politisch gegen die Besatzung zu wenden, um die Situation der palästinensischen Organisationen zu verbessern. Sie sollten ihren Teil dazu beitragen, dass Organisationen wie wir weniger oder gar nicht mehr abhängig von der Unterstützung aus Israel sind. Es geht uns mit dieser Politik also um Selbstermächtigung und darum, palästinensische Organisationen in die Lage zu versetzen, eigenständig agieren zu können. Ich verurteile allerdings niemanden, der den Kontakt zu israelischen Organisationen und NGOs sucht, um das Beste für sein Tier zu tun. Das ist völlig nachvollziehbar, und die Mangelsituation hier bringt uns alle immer wieder in Dilemmata.

Wie ist die Situation in Gaza? Im Moment ist schwer abzusehen, wie sich alles entwickeln wird. Auch vor der jüngsten Eskalation und der Bombardierung Gazas durch Israel war die humanitäre Versorgungslage durch die Blockade und Abriegelung bereits katastrophal. Wie ist die Situation für die Tiere?

Ich habe glücklicherweise im Rahmen eines Projekts in Partnerschaft mit einer UN-Organisation bislang viermal eine Einreisegenehmigung für Gaza bekommen und mir selbst ein Bild machen können. Insgesamt ist die Situation der Tiere, auch für Straßentiere, in Gaza leider extrem schlecht. Das ist maßgeblich eine Folge der Blockade. Sie führt neben einem Mangel an Medikamenten und Material unter anderem dazu, dass mehr Tiere, zum Beispiel Esel, von den Menschen als Arbeitstiere eingesetzt werden – und die Bedingungen, die ich dabei beobachten musste, waren teilweise wirklich schwer zu ertragen. Die Tiere sind in teils äußerst kritischem Zustand, aber das ist praktisch kein Thema, weil es eben der Alltag dort ist und die Umstände auch oft nichts anderes zulassen. Ich sah zum Beispiel einen Esel, der völlig ausgehungert und schlecht versorgt, aber zugleich völlig mit Transportgütern überbepackt war. Solche Dinge passieren, weil viele Menschen keinen Zugang zu Benzin haben – die Einfuhr wird von Israel stark eingeschränkt – oder es nicht bezahlen können, und auch der Strom wird für viele regelmäßig abgestellt. Es ist generell so, dass es in Gaza kaum eine klassische Mittelschicht gibt. Es gibt einige, die sehr reich sind, aber die überwiegende Mehrheit ist sehr arm. Viele können sich eine gute Versorgung der Tiere darum nicht leisten und setzen sie außerdem aus Gründen des Mangels als Arbeitstiere ein.

Ich habe in Gaza aber auch das Team von Sulala kennengelernt, das ist meines Wissens die einzige Organisation in Gaza, die sich für Tiere einsetzt. Und obwohl die Situation in Gaza generell katastrophal ist, ist die Arbeit von Sulala sogar weiter entwickelt und umfassender als die, die wir im Westjordanland machen. Bei Baladi legen wir den Fokus auf die verletzten und schwächsten Tiere, die wir finden. Sulala wiederum verfolgt den Ansatz, wirklich ausnahmslos alle Tiere, die in Not sind, zu retten, obwohl ihre Ressourcen wirklich sehr begrenzt sind. Wenn jemand anruft und eine Notlage meldet, was einige tun, kommen sie und tun ihr Bestes. Ich war wirklich beeindruckt, wie gut sie unter den Bedingungen der Abriegelung mit den Tieren arbeiten, obwohl das Team größtenteils nicht aus gelernten Tierpflegern besteht. Sie konnten sogar die lokale Verwaltung in ihrer Gemeinde davon überzeugen, die Politik des Vergiftens und Erschießens von Straßentieren einzustellen. Sie hatten von der Verwaltung auch ein Stück Land bekommen, auf dem sie gerettete Tiere – Hunde, Katzen, aber auch Esel – unterbringen und versorgen konnten. Während der jüngsten israelischen Militäroffensive musste Sulala das Gebiet aber verlassen und fliehen, und wir haben aktuell leider keinen Kontakt zu dem Team. Ein Mitarbeiter von Sulala wurde am ersten Tag der Aggression bei einem israelischen Bombenangriff getötet.

Die anhaltende israelische Aggression gegen den Gazastreifen fordert ihren Tribut von allen Lebewesen, einschließlich Straßen-, Nutz- und Arbeitstieren. Man kann mit Gewissheit sagen, dass alle Gebiete im Gazastreifen bombardiert wurden, einschließlich der Wohngebiete, in denen einige Menschen Tiere bei sich leben haben. Da die Treibstoffversorgung des Gazastreifens seit Beginn der Offensive ganz unterbrochen ist, werden zunehmend Arbeitstiere wie Esel, Maultiere und Pferde eingesetzt, um vertriebene Familien und Verletzte in Krankenhäuser zu transportieren. Die von Tieren gezogenen Karren werden nun auch als Leichenwagen verwendet. Als sich israelische Panzer dem Al-Shifa-Krankenhaus in Gaza-Stadt näherten und schwere Schießereien und Bombardierungen stattfanden, berichtete ein Arzt, dass Straßenhunde und Katzen zusammen mit Tausenden von belagerten Palästinensern Zuflucht im Krankenhaus suchten. Zahlreiche Vertriebene wurden auch dabei beobachtet, wie sie ihre Haustiere mitbrachten, aber es ist wahrscheinlich, dass viele andere ihre Tiere während der Evakuierung zurücklassen mussten.

Israels Regierung bemüht sich stark, Israel als »veganes Paradies« zu promoten, um ein fortschrittliches und besonders tolerantes Image zu pflegen – eine Praxis, die analog zum »Pinkwashing« auch als »Veganwashing« bezeichnet wird. Beispielsweise wird offiziell damit geworben, dass die israelische Armee die »veganste Armee der Welt« sei und die Soldaten etwa mit veganen Lederschuhen ausgestattet werden könnten.

Ja, das ist natürlich eine propagandistische Maßnahme, um Sympathien von der veganen Bewegung sowie generell liberal und fortschrittlich eingestellten Menschen zu bekommen. Aus diesem Grund kooperiert die israelische Regierung auch mit veganen Influencern. Dabei geht die Bezeichnung als »veganes Paradies« letzten Endes eigentlich nur darauf zurück, dass es in Tel Aviv besonders viele vegane Essensgelegenheiten gibt. Das ist natürlich schön, aber so gesehen ist die Westbank ebenfalls ein Vegan-Paradies – schließlich gibt es Falafel hier an jeder Straßenecke, das ist hier ganz normales Streetfood!

Wenn man Veganismus aber nicht nur als Ernährungsform oder Lifestyle versteht, sondern als Konsequenz einer solidarischen und auf die Abschaffung von Ausbeutung und Unterdrückung aller Lebewesen gerichteten Politik, dann steht er grundlegend im Widerspruch zu staatlicher Unterdrückungspolitik. Es ist völlig lächerlich, auf der einen Seite eine Politik zu unterstützen, bei der Menschen unterdrückt und regelmäßig kaltblütig erschossen werden, und sich dann gleichzeitig Sorgen darum zu machen, ob die Soldaten dabei vegane Mahlzeiten bekommen oder vegane Lederschuhe tragen. Besatzungspolitik und Veganismus sind unvereinbar.

Wir müssen also ein Bewusstsein dafür schaffen, dass Israel den unpolitischen Lifestyle-Veganismus vieler Menschen instrumentalisiert. Entgegen der »Veganwashing«-Propaganda wird in Israel übrigens auch sehr viel Fleisch und Milch konsumiert, die Fleischindustrie ist überaus stark, und das Beispiel unserer Arbeit zeigt ja schließlich, dass die Tiere ebenfalls unter der Besatzung leiden. Es reicht aber natürlich nicht, sich als Veganer und Tierrechtsaktivist dann nur für die Belange der Tiere in Palästina einzusetzen: Wer es wirklich ernst meint mit dem Kampf gegen Leiden und Unterdrückung, der muss sich auch für die unterdrückte palästinensische Bevölkerung einsetzen.

Ich frage mich, was unpolitische Veganer jetzt über die veganen israelischen Soldaten denken, die bei der gegenwärtigen Aggression Palästinenser bombardieren, sowohl Menschen als auch nichtmenschliche Tiere. Ich frage mich wirklich, wie es für einen Menschen überhaupt möglich ist, sich selbst als Veganer zu bezeichnen und dennoch wahllos hilflose und unschuldige Lebewesen zu töten – und mit Lebewesen meine ich sowohl Menschen als auch Tiere. Online habe ich den Post eines israelischen Veganers gesehen, der sich sehr besorgt über den Mangel an veganen Mahlzeiten für seine Soldaten in Gaza äußerte. Wir wissen zwar, dass diesen Leuten die Palästinenser egal sind und dass sie uns auf jede erdenkliche Weise entmenschlichen, um zu rechtfertigen, dass wir umgebracht werden. Aber es ist beunruhigend zu sehen, wie entschlossen sie sind, die Fassade eines veganen Israels aufrechtzuerhalten, während sie tatsächlich jeden Tag Tiere bei ihrer Aggression gegen Gaza töten.

Du hast die israelische Fleischindustrie erwähnt. Es ist insgesamt bekannt, etwa aus Publikationen von Gewerkschaftsorganisationen oder der International Labour Organization, dass palästinensische Arbeiter in der israelischen Ökonomie teilweise besonders krass ausgebeutet werden, weil sie aufgrund unsicherer Aufenthaltstitel einen besonders prekären Status haben, geringere Löhne hinnehmen müssen und schlechtere Möglichkeiten der Interessensvertretung haben. Weißt du, ob es so etwas auch in Israels Fleischindustrie gibt?

Leider nicht! Über die israelische Fleischindustrie ist, soweit ich weiß, nicht besonders viel bekannt, und von israelischen Tierrechtsaktivisten gibt es dazu bisher keine investigativen Recherchen. Das, was du hinsichtlich der Situation palästinensischer Arbeiter beschreibst, kann ich aber insgesamt bestätigen. Wer eine Arbeitserlaubnis für israelische Unternehmen haben will, muss in der Regel sehr viel Geld an Mittelsmänner bezahlen, um sie zu bekommen, und das haben natürlich nur die wenigsten. Viele sind daher illegal dort, um zu arbeiten, und sie müssen extreme Ausbeutungsverhältnisse hinnehmen: Sie werden unterhalb des israelischen Mindestlohns bezahlt, müssen harte Arbeiten verrichten und längere Arbeitszeiten akzeptieren. Außerdem sind sie permanent erpressbar, weil die Unternehmer sie damit unter Druck setzen können, sie auffliegen zu lassen und ihnen dann Strafen oder sogar Gefängnis und mehrere Jahre Einreiseverbot für Israel drohen. Dieses System schafft auch fragmentierte Gruppen innerhalb der palästinensischen Lohnabhängigen, deren jeweilige Stellung in der palästinensischen Ökonomie sich unterscheidet. Über die israelische Fleischindustrie kann ich dabei aber leider wie gesagt nur spekulieren. Bedauerlicherweise ist es auch in Israel so, dass sich große Teile der Tierrechtsbewegung ausschließlich für Tiere einsetzen, und dabei nicht zwischen den Arbeitern der Industrie und deren Bossen unterscheiden – weshalb die Situation und Interessen der Arbeiter nicht berücksichtigt werden.

Abgesehen von Spenden und finanzieller Förderung: Was ist der beste Weg, eure Arbeit zu unterstützen? Was erwartet ihr von der internationalen Tierrechtsbewegung?

Natürlich sind finanzielle Zuwendungen hilfreich. Darüber hinaus hilft uns vor allem, wenn Leute auf unsere Arbeit aufmerksam machen. Ich denke, je vernetzter und bekannter wir sind, desto mehr können wir bewegen und ausrichten. Wir sind ein kleines Team, und gegenwärtig sind wir noch dabei, unsere Arbeit aufzubauen. Je besser wir dabei aufgestellt sind, desto mehr Menschen können wir auch hier vor Ort erreichen. Es geht uns auch darum, die Arbeit mit Tieren als einen Beitrag zur Befreiung Palästinas zu stärken. Von der Tierrechtsbewegung erwarten wir, dass sie sich diesem Anliegen nicht verschließt, sondern den Kampf gegen die israelische Besatzung und für die Befreiung Palästinas als einen begreift, der sie etwas angeht und den sie unterstützen muss. Man kann sich nicht für die Befreiung von Mensch und Tier stark machen und zur Kolonisierung Palästinas schweigen.