Umrisse eines grün-sozialdemokratischen Tierrechtsprojekts

Reviewessay zu den Büchern »Streicheln oder Schlachten« und »Anders satt«

Ende des Jahres 2022 sind kurz nacheinander die Bücher zweier langjähriger Kader der Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung in Deutschland erschienen. Der Hamburger Sozialwissenschaftler Marcel Sebastian versucht in seiner soziologisch-kulturwissenschaftlichen Abhandlung »Streicheln oder Schlachten«, die »Ambivalenz«[1] im Verhältnis zwischen Menschen und Tieren zu erklären, also warum Menschen manche Tiere töten und konsumieren, andere wiederum gut behandeln. Die Berliner Philosophin Friederike Schmitz zeigt in »Anders satt« überzeugend, warum die Tierindustrie Menschen, Natur und Tieren Schaden zufügt, und skizziert darauf aufbauend ein weniger triftiges »radikal-realistisches«[2] Programm zur »Transformation von Landwirtschaft und Ernährung«[3].

Nicht nur der inhaltliche Zuschnitt der Bücher ist verschieden. Auch die Autoren unterscheiden sich im Auftreten und in der Formwahl. Sebastian spricht die Leser als unabhängiger wissenschaftlicher Experte an. Er will »unterschiedliche Perspektiven systematisch in den Blick«[4] nehmen und zum Behuf der Volksaufklärung sachlich-objektiv Argumente abwägen. Anders Schmitz. Sie macht keinen Hehl aus ihrer Haltung oder daraus, dass sie Aktivistin ist und für eine bestimmte Agenda wirbt. Stilistisch erinnert Sebastians Darstellung stark an eine deutsche Variante der Ratgeberliteratur für Mittelklasse-Wohlfühlökos im Stil von Jonathan Safran Foers »Tiere essen«. Schmitz’ Darbietung ähnelt indes wissenschaftlich fundiertem, parteiischem Journalismus, wie ihn Naomi Kleins »Kapitalismus vs. Klima« verkörpert: nah dran an konkreten Bewegungen, Projekten und ihren Protagonisten, die immer wieder ausführlich zu Wort kommen.

Auf den ersten Blick sind auch einige Gemeinsamkeiten zwischen den Büchern erkennbar. Beide Verfasser legen die negativen Folgen der Tier- und insbesondere der Fleischproduktion für das Klima, die menschliche Gesundheit und die Tiere dar – bei Sebastian als Konsequenz aus der »menschlichen Herrschaft über die Tiere«[5], bei Schmitz als Begründung für den notwendigen Exit aus der Tierindustrie. Sie diskutieren zudem beide die Bedeutung neuer Technologien, mit denen etwa Fleisch im Reaktor hergestellt wird, und kommen relativ einmütig zu dem Schluss, dass sie nützlich sein könnten, wenngleich technische Innovationen kein Allheilmittel sind.

Die wesentlichen politischen Gemeinsamkeiten der beiden Publikationen liegen aber woanders. Die Bücher sind, unterschiedlich akzentuiert, Beiträge zur Formierung eines grünliberalen sozialdemokratischen Projekts in Zivilgesellschaft und Staat unter Berücksichtigung der Tiere. In diesem Sinne sind sie zum einen Bewerbungsschreiben an andere soziale Bewegungen, vor allem an die Klima- und Kleinbauernbewegung (Schmitz), sowie an die linksliberale Öffentlichkeit (Sebastian), das Anliegen der Tierrechtsbewegung als berechtigt anzuerkennen und Bündnisse zu bilden. Zum anderen sind die Monographien natürlich auch Vorschläge für die politische Orientierung der Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung und ihrer Aktivisten.

Elemente zur Ausbildung und Durchsetzung eines solchen gesellschaftlichen Projekts, die sich in den Arbeiten finden lassen, sind erstens ein liberaldemokratisches und antispeziesistisches Verständnis des Mensch-Tier-Verhältnisses, zweitens eine auf staatliche Maßnahmen orientierte Programmatik und drittens eine auf subjektive Veränderung, Alternativkultur und Bewegungspolitik ausgerichtete, radikal reformerische Strategie. Wenig überraschend treffen sich Schmitz’ und Sebastians Ideen in diesen Punkten mit vergleichbaren Ansätzen der deutschen Bewegungslinken, etwa in der Bewegung gegen den Betrieb von Kohlekraftwerken.

Anthropologische Kultursoziologie und Psychologie statt historisch-materialistischer Gesellschaftskritik

Schmitz verzichtet in ihrem Buch generell auf einen kohärenten theoretischen Bezugsrahmen. Sie bedient sich pragmatisch und zugleich eklektisch je nach Bedarf und Gegenstand der Psychologie, der Politikwissenschaft, der Ethik und auch vereinzelt ökonomischer Überlegungen, um ihre Argumente zu untermauern. Die »Ausnutzung«[6] der Tiere führt sie maßgeblich auf psychologische Mechanismen wie »Strategien der ›moralischen Entkoppelung‹«[7] und »kognitive Dissonanz zwischen Werten und Verhalten«[8] sowie auf kulturelle Phänomene der Normalisierung und Naturalisierung der Tiernutzung zurück. »Unsere gesamte Gesellschaft«[9] verdingliche Tiere, indem »viele von uns« in ihnen »nur Waren und Produkte«[10] sähen.

Sebastian verfolgt hier einen in sich stimmigeren Zugang. Für ihn ist »unser Verhältnis zu Tieren das Ergebnis sozialer Konstruktionen«[11]. Damit ist gemeint, dass Menschen auf Basis ihrer kulturellen Werte und Ideale sowie ihrer Interessen und ihrer Macht »kollektive Vorstellungen über Tiere« und »den Sinn der Beziehungen zwischen Menschen und Tieren«[12] entwickeln, die ausschlaggebend dafür sind, wie Tiere behandelt werden. Das Mensch-Tier-Verhältnis ist für ihn also »Ausdruck einer bestimmten Kultur«[13]. Allerdings sei die soziale Wahrnehmung der Tiere umstritten. Es gäbe gesellschaftliche »Deutungskonflikte«[14], bei denen diejenigen die Oberhand behielten, denen es gelinge, ihre Ideen, Interessen – die Sebastian anthropologisch fasst – und Macht am besten zu kombinieren und dadurch Mehrheiten in der Gesellschaft zu überzeugen. Die »Ordnung der Gesellschaft basiert«, so der Autor, »auf den Geschichten, die sich Menschen gegenseitig immer wieder erzählen«[15].

Auf diesen kulturtheoretischen Ansatz gründet Sebastian auch die Strukturierung seines Buchs, in dem er zunächst der Kultur des Tiere-Essens sowie dem Verhältnis der Menschen zu Tieren in der Fleischproduktion und zu Haustieren nachgeht und versucht, die »Ambivalenz« zu erfassen, die sich in den Mensch-Tier-Beziehungen ausdrückt. Überzeugend ist das aber nicht. Das unterschiedliche Verhalten der Menschen zu den Tieren könnte man plausibler aus der historisch besonderen Form der Konsumtion von Tieren als Waren erklären. Denn unabhängig davon, ob sie nun Schlachtvieh oder heimischer Freund sind, werden sie als Waren genutzt. Deren Gebrauchswert unterscheidet sich allerdings dahingehend, dass die einen zur Profitakkumulation von Unternehmen »produktiv«, während die anderen von Endverbrauchern »individuell« konsumiert werden, das heißt, als Partner, Freunde, Begleiter und so weiter fungieren. Die kulturwissenschaftliche Interpretation der Konflikte um »die Suche nach einem neuen Mensch-Tier-Verhältnis«[16], der zweite große Teil in Sebastians Buch, weist ähnliche Schwächen auf. Wo politisch-ökonomische und kulturelle Klassenkämpfe um das gesellschaftliche Verhältnis zu Tieren ausgetragen werden, sieht er lediglich einen »Kulturkampf über Tiere«[17].

Freilich wäre es verkehrt, die Bedeutung der Psychologie oder auch der politischen Kultur für die Ausbeutung der Tiere und der Herrschaft über sie zu verneinen. Die beiden Autoren erheben sie jedoch zu deren Ursachen und fassen das Mensch-Tier-Verhältnis maßgeblich mit ihren Kategorien. Deswegen hat man es bei Schmitz und Sebastian mit psychologistischen und kulturalistisch-idealistischen Erklärungen sozialer Relationen und Praxis zu tun. In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass es in den Traditionen kritischer Gesellschaftstheorie durchaus schon Ansätze gibt, mit denen Psychologie und Kultur in eine historisch-materialistische Theorie der Tierausbeutung integriert werden, etwa mit Bezug zum Freudomarxismus der Frankfurter Schule oder zur Hegemonietheorie des italienischen Marxisten Antonio Gramsci. Aber beide Autoren verzichten darauf, diese Fäden aufzunehmen und weiter zu spinnen.

Ihr psychologistischer und kulturalistischer Reduktionismus korrespondiert damit, dass sie das Mensch-Tier-Verhältnis tatsächlich als eines zwischen »Menschen« und »Tieren« begreifen. Demnach treten anthropologisch, als anderen Tieren gegenüber besondere Kulturwesen verstandene Menschen individuell und im gesellschaftlichen Verbund in Beziehungen zu Tieren. Entsprechend kann Sebastian zum Beispiel behaupten: »Menschen kontrollieren jeden Lebensaspekt der Nutztiere«[18, Herv. R.L.]. Große und kleine Tierkapitalisten, die tatsächlich jeden Lebensaspekt sogenannter Nutztiere kontrollieren, sind natürlich auch Menschen. Aber sie beuten zum Beispiel Hühner nicht aus, weil sie Menschen sind, sondern weil sie Kapitalisten sind, also Personifikationen historisch und sozial besonderer sozioökonomischer Relationen. Eben jene sozialen Klassenverhältnisse zwischen den Menschen scheinen für die Autoren nicht zu existieren – ganz zu schweigen von den Beziehungen zwischen den Klassen, ihren Interessen und den existierenden kulturellen Ideen, Werten und Diskursen. Schmitz’ und Sebastians Sicht auf das Mensch-Tier-Verhältnis ist die des radikaldemokratischen Bürgers, Mitglied der Zivilgesellschaft und Marktsubjekt, der im Kopf seiner Mitbürger und ihrer politischen Kultur den Grund dafür sieht, dass das Freiheitsversprechen der bürgerlichen Gesellschaft für die Tiere noch nicht gilt.

Ein Programm zur tierfreundlichen Modernisierung der Landwirtschaft

Nun geht es Schmitz, anders als in ihren früheren Büchern, gar nicht groß um die theoretische Diskussion. Eines ihrer Anliegen ist es zu zeigen, dass eine »neue Landwirtschaft«[19] möglich ist, mit der CO2-Emissionen deutlich verringert, die Böden geschützt und verbessert und gesunde Lebensmittel erzeugt werden können und die dazu möglichst ohne Tiernutzung auskommt. Hier liegt die große Stärke ihres Buchs. Mit zahlreichen Beispielen dekliniert sie durch, wie »veganer Ökolandbau«[20] ohne chemische Pestizide und Kunstdünger funktionieren kann, wie Düngung ohne Tiermist gelingt, wie man Böden ökologisch pflegt, bestimmte Hülsenfrüchte wieder anbaut, Grünland landwirtschaftlich nutzt und organische Abfälle sinnvoll verwertet. Ihr Plädoyer ist nicht nur weitgehend überzeugend, sondern auch eine alltagstaugliche Handreichung fürs Handgemenge mit Repräsentanten der großen und kleinen, konventionellen und alternativen Landwirtschaft, die behaupten, ohne Tierausbeutung ginge die Herstellung von Lebensmitteln nicht.

Stellt sich die Frage, was es braucht, um das Agrarbusiness durch eine klimafreundliche, ökologisch nachhaltige und vegane Landwirtschaft zu ersetzen. Schmitz umreißt in zwei Kapiteln ein Art Programm für die »Ernährungswende«[21] und eine »gerechte Transformation«[22] der Landwirtschaft. Sebastian erwähnt zwar einige von Schmitz’ Vorschlägen auch beiläufig[23]. Insgesamt hat er aber deutlich weniger Programmatisches beizutragen.

Eckpfeiler der Ernährungswende sind Schmitz zufolge, pflanzliches Essen beitragsfrei in Kitas und Schulen anzubieten, eine Erhöhung der Mehrwertsteuer auf Tierwaren und eine Senkung für Obst, Gemüse und Hülsenfrüchte. Da Konsumsteuern asozial sind, erwägt die Autorin zudem eine sogenannte Lenkungssteuer, wie sie etwa eine CO2-Steuer darstellt. Zur »Demokratisierung des Ernährungssystems«[24] befürwortet sie »Beteiligungsformate«[25] nach dem Vorbild des »Bürgerrat Klima«, der 2021 Forderungen für den Umgang mit der Klimakrise erarbeitet hat. Sie sympathisiert schließlich mit der Idee, »›wahre Preise‹«[26] für Lebensmittel einzuführen, das heißt deren »Gesundheits- und Umweltkosten«[27] einzupreisen. Weitere Ansatzpunkte für die Ernährungswende seien die Veränderung sozialer Normen und »eine große neue Erzählung«[28]. Damit ist, so lässt Schmitz den Soziologen Sebastian in ihrem Buch erklären, eine Kommunikationsstrategie gemeint, die neue Werte vermittelt, die an das Welt- und Selbstverständnis der Menschen anknüpfen und die das Positive einer Umstellung auf eine nachhaltige und tierleidfreie Ernährung für die Gesellschaft als erstrebenswert zum Ausdruck bringen.

Für die Transformation der Produktion schlägt Schmitz zusätzlich vor, dass ein »neuer Gesellschaftsvertrag« für eine »klimafreundliche, ethisch vertretbare, gesundheitsförderliche Landwirtschaft«[29] geschlossen werden soll. Die Gesellschaft schaffe dann faire Bedingungen für die Umstellung, die Landwirte wiederum setzten die nötigen Veränderungen um. »Ähnlich wie der Kohleausstieg könnte der Ausstieg aus der Tierindustrie einem klaren Schritt-für-Schritt-Plan folgen.«[30] Die dafür nötigen Maßnahmen umfassen zum Beispiel Entschädigungen oder Entschuldungen für Bauern, die ihren Betrieb aufgeben. Außerdem schlägt Schmitz einen Baustopp für Tierproduktionsanlagen, Umschulungsprogramme für Landarbeiter, die Umleitung von Subventionen und Fördergeldern aus der Tierindustrie in bessere Formen der Landwirtschaft sowie neue Umwelt- und Klimaabgaben vor. Ferner befürwortet sie schärfere Gesetze, eine ernstzunehmende Durchsetzung des rechtlichen Status quo, beispielsweise des Tierschutzgesetzes, sowie die Schaffung neuer Rechtsnormen wie eines Verbandsklagerechts.

Als Appendix zu diesem konkreten Forderungskatalog wirft Schmitz die Frage auf, ob es »eine andere Art der Organisation, eine andere Art des Wirtschaftens«[31] gerade in der Landwirtschaft bräuchte. Sie favorisiert kleine, regionale und gemeinschaftsbasierte Produktionseinheiten »nach dem Vorbild der Solidarischen Landwirtschaft«[32], nur ohne Tiere. Um eine solche durchzusetzen, hält sie es nicht für ausgeschlossen, bestehende Unternehmen sogar zu enteignen und zu vergesellschaften.

Das Kernproblem an diesem Programmentwurf ist, dass er verkehrt herum angelegt ist. Er beinhaltet eine Vielzahl kleinteiliger Reformen, die innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft umgesetzt werden und zur Modernisierung ihrer Agrarökonomie und Ernährung beitragen können. Der Bruch mit den kapitalistischen Eigentums-, Produktions- und Verteilungsverhältnissen wird nicht als notwendiger Ausgangs-, sondern als möglicher Endpunkt der Transformation beziehungsweise als ein Schritt unter vielen präsentiert. Dadurch fehlt der Programmatik nicht nur eine dem Problem der kapitalistischen Tierproduktion und Landwirtschaft adäquate Hierarchisierung der Forderungen und der Bezug zum gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang der Ausbeutung und Herrschaft, wie er durch die Produktions- und Verteilungsverhältnisse hergestellt wird. In den Forderungen ist auch das Ziel einer anderen Gesellschaft nicht anwesend. Insbesondere die Ideen für den Umbau der Produktion sind deshalb nicht falsch. Ausstiegsprogramme für Landwirte oder ein Verbot des Neubaus von Tierhaltungsanlagen sind unbedingt zu unterstützen. Aber unter der Voraussetzung, dass die Produktionsverhältnisse bleiben, wie sie sind, führte die Umsetzung der Forderung bestenfalls zu einer durch Steuergelder finanzierten Diversifizierung der Landnutzung, zur Reduktion der Tierproduktion und zu etwas besseren Haltungsbedingungen. Außerdem träte dem Rest der Gesellschaft außerhalb der Landwirtschaft deren Transformation lediglich als kulturelle Modernisierung der eigenen Lebensweise gegenüber. Die Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnisse in den anderen Sektoren der Ökonomie blieben aber bestehen, obwohl sich ja nicht nur in der Landwirtschaft und Ernährung etwas für die Subalternen ändern sollte.

Ein zweites, ähnlich gelagertes Problem zeigt sich am naiven Verständnis des bürgerlichen Staates, wie es in Schmitz’ Programmskizze zum Ausdruck kommt. Einerseits will die Autorin alle staatlichen Instrumente für die Ernährungswende und für einen gerechten Übergang in der Landwirtschaft nutzen. Zahlreiche ihrer Reformvorschläge könnten auch tatsächlich von einer grün-sozialdemokratischen Regierung problemlos umgesetzt werden. Andererseits verwahrt sich Schmitz unter Verweis auf die DDR gegen die Verstaatlichung von Unternehmen, stellt aber deren Vergesellschaftung in Aussicht. Nur: Der bürgerliche Staat ließe die Vergesellschaftung von Privatunternehmen und deren Konversion in biovegane, gemeinschaftsbasierte und an der Bedürfnisbefriedigung der Gesellschaft orientierte Produktionseinheiten nicht zu. Lediglich Druck aus der Zivilgesellschaft wird nicht dafür ausreichen, dass der Staat Maßnahmen durchsetzt, die so weitgehend sind, dass sie eine nachhaltige und biovegane Landwirtschaft gewährleisten. Er ist nun einmal der kapitalistische Klassenstaat und nicht nur ein neutraler Vermittler oder lediglich das Terrain für die politischen Auseinandersetzungen. Er ist neben den bürgerlichen Produktions- und Eigentumsverhältnissen das zweite Bollwerk, das kapital- und herrschaftskonforme Modernisierung zulässt, aber eine Versöhnung von Gesellschaft, Natur und Tieren verhindert. Der Umgang mit dem Energiekonzern RWE ist dafür ein augenfälliges Beispiel. Warum der Staat und die sich in ihm organisierende herrschende Klasse im Falle der Landwirtschaft und insbesondere des Tierkapitals anders handeln sollten, erklärt Schmitz nicht.

Dazu kommt drittens, dass einige der sofort umsetzbaren Forderungen schlicht so niedrigschwellig sind, dass sie selbst innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft keine Fortschritte bedeuteten, sondern das Bestehende nur modernisierten. Der »Bürgerrat Klima« zum Beispiel: Abgesehen vom Auswahlverfahren seiner Mitglieder, das eine Gesellschaft der Individuen ohne Herrschafts- und Klassenverhältnisse unterstellt, hat der Rat selber keine reale Macht. Bürger dürfen miteinander parlieren, lernen, Wünsche formulieren und diese der Bundesregierung vorlegen. Und dann? Wie auch bei anderen Mitmachformaten der neoliberalen Demokratie ist dabei sein alles.

Die Idee eines echten Preises für Lebensmittel wiederum ist grün-konservativ. Indem man die Natur, und sei es auch nur negativ, also die Naturzerstörung bepreist, macht man den Bock zum Gärtner, akzeptiert man doch die Inwertsetzung und den marktvermittelten Zugang zur Natur. Warum zwingt man nicht einfach die Profiteure von Umweltzerstörung und Tierausbeutung, also die Klasse der Kapitalisten, dazu, die Transformation der Landwirtschaft aus ihren Gewinnen zu bezahlen?

Eine Antwort auf diese Frage könnte in Schmitz’ Vorstellung eines »neuen Gesellschaftsvertrags mit der Landwirtschaft«[33] liegen. In der sozialökologischen Intention durchaus nachvollziehbar glaubt sie offenbar, dass der Staat mit Agrarunternehmen eine Art Zielvereinbarung abschließen sollte, an deren Ende eine nachhaltige Landwirtschaft ohne Tiere stehen könnte. Das Problem ist nur, dass »die Landwirtschaft« eine Fiktion ist. Natürlich sollte man den kleinen und mittleren Landwirten den Ausstieg aus der Tierproduktion ermöglichen. Aber wenn man eine solche Übereinkunft nur mit den kleinen und mittleren Betrieben schlösse, könnte man die Probleme der Landwirtschaft nicht wirklich lösen. Ein Pakt mit den Agrarkonzernen wiederum widerspräche nicht nur Schmitz’ grundsätzlich richtigem Diktum, »nur gegen die Konzerne«[34, Herv. i.O.] könne »grundlegender Systemwandel«[35] durchgesetzt werden. Diese moderne Form der Klassenkooperation hätte auch in etwa dieselben Erfolgsaussichten wie die Kohlekommission.

Apropos »Kohleausstieg«, dessen realer Verlauf sollte eigentlich Warnung genug sein, die Idee eines schrittweisen Ausstiegs aus der Tierproduktion zu propagieren. In diesem Zusammenhang zeigt sich besonders, dass der Bruch mit den bürgerlichen Eigentums- und Produktionsverhältnissen für ein Übergangsprogramm kein Nice-to-have ist, sondern dessen Dreh- und Angelpunkt sein muss. Denn der Kohleausstieg mag bestenfalls das Ende eines spezifischen Produktionsprozesses sein – der Herstellung von Energie mittels fossiler Energien. Aber er bedeutet keineswegs notwendig eine nachhaltige, sozial gerechte und an den Bedürfnissen der Gesellschaft orientierte Energieproduktion. Ja, in seiner gegenwärtigen Form garantiert er nicht einmal, dass die Kohle in der Erde bleibt oder dass alle Dörfer bleiben (siehe Lützerath). Was er hingegen gewährleistet, ist die Einbindung eines Teils der sozialen Bewegungen und deren Spaltung entlang der Haltung zu minimalen Zugeständnissen von oben, die das Wesentliche nicht berühren.

Tierbefreiung durch Sozialismus oder integrative Anerkennung der Tiere?

Im letzten Kapitel ihres Buchs beschreibt Schmitz eine Strategie, um das von ihr umrissene Programm durchzusetzen. Dabei sollen auf der einen Seite Reformen und Transformation ineinandergreifen und auf der anderen Seite auf den Staat gerichtete und in der Zivilgesellschaft agierende Akteure mit abgestuften Vorgehensweisen interagieren. Für ersteres beruft sich Schmitz auf das »Konzept der revolutionären Realpolitik«[36], wie es die Kommunistin Rosa Luxemburg entwickelt hat. Unglücklicherweise unterschlägt sie aber in ihrer Luxemburg-Rezeption nicht nur, dass es der KPD-Gründerin darum ging, die sozialen Konflikte der bürgerlichen Gesellschaft als Klassen-, nicht nur als politische Kulturkämpfe sozialer Bewegungen auszufechten. Es ging der Marxistin auch nicht um »›nicht-reformistische Reformen‹, die von oben umgesetzt werden können« oder um »eine Strategie der kleinen Schritte«[37]. Luxemburg beabsichtigte Reformen, die eine politische Revolution gegen die herrschenden Kräfte im Staat und eine ökonomische gegen das Kapital in sich tragen und diese daher ermöglichen und vorbereiten sollen. Die »Umstellung öffentlicher Kantinen«[38], die »Einpreisung externer Kosten bei Tierprodukten«[39] oder die »umfassende Öffentlichkeitsarbeit über die Vorteile pflanzlicher Ernährung«[40] erfüllen solche Kriterien nicht einmal ansatzweise.

Um einen »Systemwandel«[41] zu erreichen, schlägt Schmitz ferner vor, realpolitische Maßnahmen, wie sie etwa von Tierrechtsbewegten bei den Grünen, der SPD und der Partei Die Linke vertreten werden und wie sie NGOs, zum Beispiel ProVeg oder die Albert-Schweitzer-Stiftung, praktizieren, mit konfrontativem Massenaktivismus und »gegenkulturellen Gemeinschaften«[42] oder »Nowtopias«[43] in der Zivilgesellschaft zusammen wirken zu lassen. Während es ersteres und letzteres bereits gäbe, fehle bisher eine Massenbewegung, »die wirklich das Ernährungssystem transformieren kann«[44]. Das eine solche Massenbewegung tragende Bündnis, so Schmitz’ Gedanke, sollte von einer Koalition aus Kleinbauernorganisationen, Klima- und Tierrechtsgruppen getragen werden. Zu seiner Realisierung müssten Tierrechtler allerdings »Kompromisse eingehen«. Schmitz meint ausdrücklich, »die Forderung, alle Tierhaltung zu beenden«, sei »zunächst zurückzustellen«[45], so wie es das Bündnis Gemeinsam gegen die Tierindustrie mache.

Dieser Plan für eine Strategie gesellschaftlichen Wandels weist zahlreiche Probleme auf, die charakteristisch für Ansätze aus dem Milieu der Bewegungslinken sind. Zunächst ist die Strategie politisch-kulturell angelegt. Sie ist weder in der Ökonomie oder in der sozioökonomisch bestimmten Klassenstruktur der Gesellschaft verankert noch auf die Veränderung der Eigentums- und Produktionsverhältnisse ausgerichtet. Stattdessen baut Schmitz auf kulturell-politischen Wandel in der nicht-ökonomischen Zivilgesellschaft und im Staat. Dessen Trägerschaft soll sich zweitens aus progressiv-liberalen und radikal-demokratischen Kräften zusammensetzen. In diesem Fall bedeutet das, Tierschutz-NGOs, die teils sogar mit Tierausbeutungsunternehmen kooperieren, und Tierrechtsaktivisten, die auf der Straße gegen selbige protestieren, mögen an einem Strang ziehen. Wieso dieses Bündnis überhaupt einen »Systemwandel«[46] wollen sollte, ist ebenfalls nicht ersichtlich, lehnt doch mindestens einer der Partner den Kapitalismus gar nicht ab. Drittens sollen die radikaleren Tierrechtler ihre Forderung nach Tierbefreiung aufgeben und sie durch einen schrittweisen Ausstieg aus der Tierindustrie ersetzen, um bündnisfähig zu sein. Nun ist für Tierbefreier eine Zusammenarbeit mit Kleinbauernorganisationen gar nicht per se falsch. Aber es ist nicht ersichtlich, warum man die eigenen Ziele – Tierbefreiung – zugunsten eines Bündnisses aufgeben sollte. Es gibt durchaus auch niedrigschwelligere Kooperationsformen, die ohne solche weitreichenden Zugeständnisse auskommen und die den unterschiedlichen Zielen Rechnung tragen können.

Der Soziologe Sebastian lässt sich erst gar nicht zu politischen Abwägungen hinreißen, wie Schmitz sie vornimmt. Er begnügt sich im finalen Kapitel seines Buchs »Jetzt sind Sie dran!«[47] weitgehend damit, Ratschläge für das Verhalten des Subjekts auszugeben, namentlich das seiner Leser. Zum Beispiel empfiehlt er ihnen, »achtsam zu essen«[48], ihre Meinung einzubringen, das »Netz der kulturellen Ideen«[49] mitzuknüpfen oder gut darüber nachzudenken, »was Sie kaufen«[50]. Außerdem legt er dem geneigten Leser nahe, »sich auch als politisches Subjekt zu verstehen«[51], »unsere Rolle als aktive Bürger*innen«[52] wahrzunehmen und bei »Verfahren der Bürger*innenbeteiligung«[53] mitzumachen. »Soziale Bewegungen« und »die Zivilgesellschaft«[54] werden als positive Orte von »Demokratien« angepriesen, an denen man sich engagieren kann. Diese »Demokratien« werden in Abgrenzung zu Autokratien respektive »autoritären Regimen« [55] rundheraus affirmiert. Offener als Schmitz spricht Sebastian aus, dass es ihm – eine logische Konsequenz aus seinem eingangs erwähnten Zugang zu den Beziehungen zwischen Menschen und Tieren – um einen »Kulturkampf über Tiere«[56] geht, der sich im Staat und in der Zivilgesellschaft abspielt. Sebastians weitreichendstes Modell für eine konkrete »Utopie«, das sich in seinem Buch findet, ist die Idee, Haus- und Nutztiere »als Staatsbürger«[57] anzuerkennen. Gewiss erscheint dieser Vorschlag, der schon seit einiger Zeit durch die Human-Animal-Studies geistert, einem breiten politischen Spektrum der gegenwärtigen Gesellschaft abstrus. Aber gleichzeitig gleicht er Schmitz’ konkreter Strategie darin, dass die Utopie die Grenzen der bürgerlichen Gesellschaft gar nicht transzendiert. Sebastian will dem Tier lediglich eröffnen, wovon liberale Demokraten seit jeher träumen: dass alle Individuen vollwertige, wenn auch nicht gleiche, politische Mitglieder einer demokratisierten kapitalistischen Gesellschaft sind. Der zoopolitische Kosmopolitismus ist nach der integrativen Anerkennung der überausgebeuteten und marginalisierten Menschen des Linksliberalismus letztes Wort, um bürgerliche Freiheit auszudehnen, ohne die Herrschaft des Kapitals anzutasten. Er verstellt die Befreiung der Tiere (sowie der Arbeiter und der Natur) von ökonomischer Ausbeutung und politischer Herrschaft und die Möglichkeit, dadurch in einem veganen Sozialismus eine gänzlich neue politische Gemeinschaft überhaupt erst zu schaffen. Aber sicherlich würde Schmitz hier Sebastian zur Seite springen und solche Vorstellungen als »unerreichbare Utopien« [58] disqualifizieren, von denen sie auch ihre eigene »Vision«[59] nach links abgrenzt.

Raul Lucarelli

Ein Artikel aus dem Zirkular “Hammel & Sittich”, Ausgabe 3, Juni 2023