Marx’ Anmerkungen zum Tierschutz

Ein Gastbeitrag von Ryan Gunderson

In den letzten beiden Jahrzehnten beschäftigt man sich wieder vermehrt mit dem marxschen Verständnis von Ökologie und Umwelt in der marxistischen Soziologie, politischen Ökonomie und in der Philosophie. Eine Debatte über Marx’ Bedeutung für die ökosoziale Kritik ist entstanden. Es ist wenig überraschend, dass die Standpunkte in dieser Diskussion weit auseinandergehen. Sie reichen von der Auffassung, Marx sei völlig anti-ökologisch gewesen und seine sozialökologische Position korrespondiere mit der stalinistischen Praxis, bis zur Annahme, Marx und Engels seien »die einzigen Autoren, die eine Wissenschaft entwickelt haben, die es heute erlaubt, die Umweltfragen adäquat zu verstehen« (Dickens 1992, xiv). (Für einen Überblick über die entsprechenden »Lager« der Marx-Natur-Debatte vgl. Foster 1999, 371–2; zu den verschiedenen Ansätzen siehe Dickens 1992; Benton 1996; O’Connor 1998; Burkett 1999; Foster 2000.)

Einer der Hauptkritikpunkte an Marx’ angeblich anti-ökologischer Haltung ist, dass er »anthropozentrisch« oder »speziesistisch« gewesen sei, also die menschliche Freiheit rigoros auf Kosten von Tieren habe realisieren wollen (vgl. Foster 2000, 9–10 zu den wichtigsten Anschuldigungen und ebd., 16–20 für eine überzeugende Widerlegung des Anthropozentrismusvorwurfs). Dieser Vorwurf wird mit zwei Argumenten begründet. Zum einen wird behauptet, Marx habe einen unüberbrückbaren, antagonistischen konzeptionellen und politischen Bruch zwischen Menschen und Tieren konstruiert (Benton 1993; Perlo 2002). Zum anderen wird Marx nachgesagt, er habe sich negativ über den Tierschutz geäußert (Eckersley 1996; Best 2006). Die erste Behauptung wurde bereits ausführlich analysiert, kritisiert und widerlegt. Die zweite ist jedoch bisher weitgehend unerforscht geblieben, obwohl Marx’ Äußerungen zum Tierschutz ein Element seiner politischen Ökologie veranschaulichen. Im Folgenden wird die Debatte über die marxsche Mensch-Tier-Differenzierung kurz nachgezeichnet und anschließend der Hintergrund von Marx’ kritischen Statements zum Tierschutz sowie deren Gültigkeit dargelegt.

Menschen und Tiere in den »Ökonomisch-philosophischen Manuskripten aus dem Jahre 1844«

Zunächst erscheint mir eine kurze und bündige Zusammenfassung der Diskussion über die Mensch-Tier-Unterscheidung bei Marx hilfreich. Benton postuliert, dass Marx’ Unterscheidung zwischen Menschen und Tieren, wie er sie in den »Ökonomisch-philosophischen Manuskripten aus dem Jahre 1844« (Marx 1968) vornimmt, »dualistisch« (Benton 1993, 34) sei. Anders ausgedrückt, Marx soll geglaubt haben, Menschen und Tiere besäßen zwei einander ausschließende Naturen. Seine Kritik des Privateigentums, seine Darstellung des einzigartigen menschlichen »Gattungswesens« und seine Analyse der entfremdeten Arbeit sowie ihrer wünschenswerten Aufhebung, so Benton, beruhten auf einer grundsätzlich oppositionellen Gegenüberstellung von Menschen und Tieren. Denn laut Marx verkümmere der Kapitalismus die menschlichen Potentiale zu »unmittelbaren« oder »tierischen« Bedürfnissen und Funktionen (Benton 1993, 23, 26). Andere Autoren haben diese Einschätzung übernommen und sie noch weiter zugespitzt. Sie brandmarken Marx’ Position als »ideologische Gewalt gegen Tiere« (Perlo 2002, 304). Viele der von Marx getroffenen Aussagen waren jedoch eher metaphorischer als empirischer Natur. Er erkannte an, »dass wir als Menschen diese ›tierischen Funktionen‹ ebenfalls besitzen«, und »verwehrte sich lediglich gegen die Vorstellung, dass diese alles sind, was den Menschen ausmacht« (Sztybel 1997, 172). Von noch größerer Bedeutung ist, dass »Marx’ Argument, Tiere lebten unter der Herrschaft unmittelbar physischer Bedürfnisse, nicht nach sich zieht, dass ihre Bedürfnisse nicht respektiert werden müssten« (Wilde 2000, 45). Sayers erinnert uns schließlich daran, dass Marx’ Unterscheidung zwischen menschlicher und tierischer Produktivität als eine graduelle verstanden werden kann (Sayers 2003, 109). Eine solche qualitative Differenzierung kann weder als »Dualismus« verstanden werden noch impliziert sie einen politischen Widerspruch zwischen Menschen und Tieren.

Letztendlich glaube ich, dass die Anschuldigungen gegen Marx zum einen die postmoderne Obsession mit einer politisch korrekten und sensiblen Sprache widerspiegeln, die mit Marxens teils barschem Stil kollidiert. Zum anderen zeigen die Vorwürfe, dass viele Tierbefreier meinen, jede Form der Diskontinuität zwischen Mensch und Tier werte das Projekt Tierbefreiung ab. Dabei ist Marx’ Darstellung der menschlichen Einzigartigkeit auf Basis bewusster und kreativer Arbeit mit der Fähigkeit zur rationalen, geplanten Produktion die adäquateste Begründung dafür, dass Menschen das Potential haben, die Tiere eines Tages wirklich zu befreien. Gleichzeitig bietet seine Kritik der ausschließlich utilitaristischen Logik von Expansion, Profitmaximierung und Akkumulation die beste Erklärung dafür, dass Tiere unter den gegenwärtigen Bedingungen landwirtschaftlicher Produktion in so barbarischem Ausmaß gequält werden.

Marx über den Tierschutz

Meines Wissens nach gibt es nur zwei Passagen, in denen Marx den Tierschutz kritisiert. Eine findet sich im ersten Band des »Kapital« (Marx 1962) und die andere im »Manifest der Kommunistischen Partei« (Marx & Engels 1977). Beide richten sich gegen die Royal Society for the Prevention of Cruelty to Animals (RSPCA)[2], die älteste und selbsternannte »führende Wohltätigkeitsorganisation für Tierschutz« (RSPCA 2010). Es sollte angemerkt werden, dass der Terminus »Tierschutz« hier in einem weiten Sinne die Praxis des Tierschutzes meint, Tieren mit Mitgefühl zu begegnen, während sie weiter für menschliche Zwecke genutzt werden. Der Tierschutz lehnt die Nutzung von Tieren also nicht generell ab. Mit anderen Worten handelt es sich um die Ideologie jener, die »den Großteil der Tiernutzung akzeptieren, aber eine Minimierung des Leidens und der Schmerzen anstreben« (Jasper & Nelkin 1992, 8). Die RSPCA steht hier stellvertretend für diese Praxis und kann durch jedwede andere Tierschutzorganisation ausgetauscht werden.

Tierschutz als bürgerliche Heuchelei

Im ersten Band des »Kapital« zitiert Marx den Appell eines Arbeiters an einen Kapitalisten, die Länge seines Arbeitstags zu verkürzen. Der Appell basiert auf einer Erklärung der 1859–60 streikenden Londoner Bauarbeiter: »Du magst ein Musterbürger sein, vielleicht Mitglied des Vereins zur Abschaffung der Tierquälerei und obendrein im Geruch der Heiligkeit stehn, aber dem Ding, das du mir gegenüber repräsentierst, schlägt kein Herz in seiner Brust. Was darin zu pochen scheint, ist mein eigner Herzschlag. Ich verlange den Normalarbeitstag, weil ich den Wert meiner Ware verlange, wie jeder andre Verkäufer.« (Marx 1962, 248–9)

Die Aussage über die RSPCA zu deuten, ist simpel, sollte aber nicht vulgarisiert werden. Marx sagt hier nicht, dass das Leiden der Tiere nur eine Angelegenheit für die Bourgeoisie sei, sondern dass das Engagement eines Kapitalisten für Tierschutz inhärent heuchlerisch und ironisch ist. Wie bereits erwähnt hat das Komitee der Londoner Bauarbeiter »eine Erklärung, die halb und halb auf das Plädoyer unsres Arbeiters hinausläuft«, veröffentlicht. »Die Erklärung spielt nicht ohne Ironie darauf an, daß der Profitwütigste der ›building masters‹ – ein gewisser Sir M. Peto – im ›Geruch der Heiligkeit‹ stehe.« (Marx 1962, 249) »Geruch der Heiligkeit« meint hier »hübsch und gut – eine altgriechische Bezeichnung für einen Aristokraten« (Marx 1962, 249).[3] Aus Marx’ Formulierung geht also hervor, dass die Bourgeoisie vorgibt, sich edel zu verhalten, indem sie etwa Tierschutzorganisationen beitritt, während sie gleichzeitig Arbeiter ausbeutet. Marx’ Wiedergabe der Erklärung der Londoner Bauarbeiter kann in diesem Zusammenhang als ein klassenbewusster und weniger kruder Vorläufer der Kritik Nietzsches an Voltaire und Schopenhauer interpretiert werden. Nietzsche hielt den beiden Autoren vor, ihren »Hass gegen gewisse Dinge und Menschen als Barmherzigkeit gegen Thiere zu verkleiden« (Nietzsche 1999, 456).[4]

Tierschutz als sozialer Reformismus

Im dritten Abschnitt des »Manifest der Kommunistischen Partei« unterziehen Marx und Engels andere Sozialismen einer Kritik. Es werden drei Varianten verhandelt: »der reaktionäre Sozialismus« (Marx & Engels 1977, 482), »der konservative oder Bourgeoissozialismus« (ebd., 488) und »der kritisch-utopistische Sozialismus und Kommunismus« (ebd., 489). Der konservative oder Bourgeoissozialismus wird maßgeblich für seinen sozialen Reformismus kritisiert, also als Sozialismus, der »den gegenwärtigen Status quo« (Draper 1990, 176) aufrechterhält. In diese Kategorie des Sozialismus gehören laut Marx und Engels »Ökonomisten, Philanthropen, Humanitäre, Verbesserer der Lage der arbeitenden Klassen, Wohltätigkeitsorganisierer, Abschaffer der Tierquälerei, Mäßigkeitsvereinsstifter, Winkelreformer der buntscheckigsten Art« (Marx & Engels 1977, 488). Es handelt sich also um eine Zusammenstellung sozialer Reformisten, die »die bestehende Gesellschaft mit Abzug der sie revolutionierenden und sie auflösenden Elemente« (ebd.) wollen. In Marx’ und Engels’ Auslegung ist der Tierschutz also reformistisch, da das Ziel seiner Vertreter nur eine oberflächliche Veränderung der sozialen Verhältnisse unter Beibehaltung der bestehenden gesellschaftlichen Bedingungen und Strukturen ist. Sie »wollen die Lebensbedingungen der modernen Gesellschaft ohne die notwendig daraus hervorgehenden Kämpfe und Gefahren« (ebd.).

Aufgrund dieser Passage zu argumentieren, Marx habe sich für das Leiden der Tiere im Kapitalismus nicht interessiert, weil er »die Abschaffer der Tierquälerei« zu den konservativen oder Bourgeoissozialisten zählt, wäre ebenso unlogisch wie die Behauptung, er habe sich nicht um das Leiden der Arbeiter im Kapitalismus geschert, weil er die »Verbesserer der Lage der arbeitenden Klassen« (ebd.) ebenfalls als solche einordnet. Reformen sind von Marxisten niemals abgelehnt worden. Reformismus – also die Verbesserung der sozialen Ordnung bei ihrer gleichzeitigen Aufrechterhaltung – haben sie hingegen schon immer abgelehnt.[5] Der entscheidende Punkt ist hier also, dass die sozialen Verhältnisse, wie sie heute existieren, revolutioniert und durch andere ersetzt werden müssen, anstatt sie zu bewahren. Ich sehe keinen Grund, aus dem unsere Beziehungen zu Tieren davon ausgenommen sein sollten.

Schlussfolgerung

Aus den beiden genannten kritischen Randbemerkung zum Tierschutz kann nicht einfach geschlussfolgert werden, dass Marx »anthropozentrisch« oder »speziesistisch« argumentiere oder dass er Kritik an Tierquälerei als eine bürgerliche Angelegenheit abgetan habe. Vielmehr kritisiert er offensichtlich die bürgerliche Heuchelei und den Reformismus. Mensch-Tier-Forscher und -Aktivisten sollten nicht voreilig die marxistische Theorie als einen theoretischen und methodologischen Zugang ausschließen und die marxistische revolutionäre Praxis als legitime Option für eine fundamentale Verbesserung unserer Verhältnisse zu Tieren zurückweisen. Allerdings sollten Marxisten auch nicht die drängende und schwierige »Tierfrage« umgehen, wie es etwa bei der Wiederentdeckung der marxistischen Ökologie geschehen ist.[6]

Ryan Gunderson [7]

Übersetzt von Raul Lucarelli

Ein Artikel aus dem Zirkular “Hammel & Sittich”, Ausgabe 2, November 2022

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Anmerkungen

[1] Anmerkung des Übersetzers: Der vorliegende Aufsatz ist erstmals in englischer Sprache in der wissenschaftlichen Zeitschrift »Rethinking Marxism« (Band 23, Nr. 4, 543–8) im Jahr 2011 erschienen. Wir danken dem Autor für die Erlaubnis, den Text in der Übersetzung hier veröffentlichen zu dürfen. Die Anmerkungen, sofern nicht ausdrücklich anders vermerkt, stammen vom Autor. Wir haben das Literaturverzeichnis des Autors auf unserer Homepage dokumentiert. Sofern deutsche Übersetzungen für Zitate vorlagen, haben wir sie aus den entsprechenden Veröffentlichungen übernommen. Dies betrifft vor allem die Passagen aus den Werken von Karl Marx und Friedrich Engels, aber auch das Nietzsche-Zitat. Die Quellenangaben haben wir entsprechend überarbeitet. In der Literaturliste sind dennoch auch die englischen Quellen angeführt. Zitate, für die keine professionellen Übersetzungen vorliegen, hat der Übersetzer selbst aus dem Englischen ins Deutsche übertragen.

[2] Anmerkung des Übersetzers: Royal Society for the Prevention of Cruelty to Animals heißt wörtlich übersetzt Königliche Gesellschaft zur Verhütung von Grausamkeiten gegen Tiere.

[3] Anmerkung des Übersetzers: Gunderson bezieht sich hier auf eine Erläuterung des Begriffs »Geruch der Heiligkeit«, die in der englischen Übersetzung des Kapitals (New-Left-Review-Ausgabe) an der entsprechenden Stelle gegeben wird, im deutschen Text des »Kapital« der Marx-Engels-Werke (Marx 1962) aber nicht enthalten ist. Im Original der englischen Übersetzung lautet die Erklärung: »›Handsome and good‹: ancient Greek expression for an aristocrat.« (Marx 1977, 344)

[4] In Anlehnung an Schopenhauer hat Max Horkheimers kritische Sozialphilosophie, die auch als »Schopenhauerscher Marxismus« bezeichnet wird, einiges zur Lösung des Tierproblems in der marxistischen Tradition zu bieten. Denn Horkheimers Betonung des Mitleids und des Mitgefühls mündet häufig in Barmherzigkeit gegenüber Tieren (Vandenberghe 2009, 164).

[5] Interessanterweise teilen viele Tierrechtler und Tierbefreier Marx’ Kritik des Tierschutzes als Form des Reformismus. Gleichwohl suggerieren ihre Betonung individueller Lifestylepolitik (zum Beispiel ethisch begründeter Vegetarismus) und, unter radikaleren Kräften, die Akzentuierung direkter Aktionen und Eigentumszerstörung, dass die Unterwerfung der Tiere innerhalb des Kapitalismus aufgehoben werden könne. Marxistische revolutionäre Praxis wäre eine wertvolle Alternative dazu. Wenn die Aufhebung des bürgerlichen Privateigentums die »Theorie« (Marx & Engels 1977, 475) der Kommunisten ist, was würde dies in der Umsetzung für die Tiere bedeuten? Ich glaube, dass Marx’ Position in einem Satz des revolutionären Bauern Thomas Müntzer zum Ausdruck kommt. Marx erklärt nämlich mit Müntzer, es sei »unerträglich, ›daß alle Kreatur zum Eigentum gemacht worden sei, die Fische im Wasser, die Vögel in der Luft, das Gewächs auf Erden – auch die Kreatur müsse frei werden‹« (Marx 1981, 375).

[6] Die jüngsten ökomarxistischen Publikationen gehören zu den wichtigsten und anregendsten Arbeiten marxistischer Autoren in den letzten zwei Jahrzehnten. Unglücklicherweise haben diese die Chance nicht genutzt, die Entwertung der Tiere durch das Kapital von einem marxistischen Standpunkt aus zu theoretisieren und zu kritisieren. Wie Perlo zu Recht anmerkt, »kann es dem Leser bei der Lektüre dieser [ökomarxistischen; R.G.] Autoren so vorkommen, als ob der Planet überwiegend von Menschen, Pflanzen und Mineralstoffen bewohnt wäre, während nur hin und wieder einmal ein (vom Aussterben bedrohtes oder vergiftetes) Tier seine Nase durchs Gebüsch steckt« (2002, 312). Diese Lücke in den marxistischen Arbeiten könnte zumindest zum Teil von den moralischen Pflichten gegenüber Tieren herrühren – der drängenden und schwierigen »Tierfrage«.

[7] Ryan Gunderson ist ein US-amerikanischer Soziologe, aktuell Associate Professor für Soziologie und soziale Gerechtigkeit am Lehrstuhl für Soziologie und Gerontologie sowie Affiliate am Institut für Umwelt und Nachhaltigkeit der Miami University. Informationen zur Person und zu seinen Publikationen finden sich auf Gundersons persönlicher Homepage und auf der Website der Miami University.