Mit Lenin die Tiere befreien

Ein Diskussionsbeitrag zu »Was tun?«

Trotz einiger Erfolge gelingt es der Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung bis dato nicht, genügend Schlagkraft zu entwickeln, um der Tierausbeutungs- und Fleischindustrie ausreichend Widerstand entgegenzusetzen. Diese Schwäche im Kampf für die Befreiung der Tiere ist allerdings keine isolierte Erscheinung. Vielmehr steht sie exemplarisch für die Schwierigkeiten, vor denen soziale Bewegungen heute im Allgemeinen stehen. Gleichzeitig geht die hiesige marxistische Linke, welche die prinzipiellen Mittel für das Verständnis dieses Misslingens besäße, in annähernder Bedeutungslosigkeit unter.

Die gemeinsame Auseinandersetzung mit Lenins Schrift »Was tun?« in einer Lesegruppe unseres Bündnisses führte angesichts solcher Probleme zu einem Interpretationsversuch dieses 1902 verfassten Beitrags zur Organisationsfrage für die derzeitige Situation. Obwohl das Werk des marxistischen Theoretikers und russischen Revolutionärs in den heutigen westlichen Kontext gesetzt werden muss, da es zur Zeit des Zarismus geschrieben wurde, lassen sich Ideen für die Ausrichtung und Organisation politischer Arbeit aus der Lektüre mitnehmen. Die Vergegenwärtigung von Lenins Auffassungen in »Was tun?« lohnt sich nicht nur für Aktivisten sozialer Bewegungen wie der Tierbefreiungsbewegung, sondern genauso für marxistische Linke, welche den desolaten Zustand ihrer eigenen Strömung überwinden wollen. Zuerst wird auch betrachtet, was marxistische Linke heute über die bekannten Kernaussagen Lenins hinaus aus »Was tun?« lernen könnten.

Die Tierfrage als Feld der Agitation

Die Anliegen gewisser sozialer Bewegungen wie der feministischen oder der Klimabewegung besitzen gegenwärtig enormes Mobilisierungspotential. Viele junge Menschen sind auch hierzulande bereit, gegen bestimmte Auswüchse des Kapitalismus auf die Straße zu gehen. Mehr als einige Zugeständnisse, die an das Wesentliche nicht heranreichen, trotzen sie den Herrschenden jedoch bislang nicht ab. Die marxistische Linke wiederum, die explizit die Überwindung des Kapitalismus anstrebt, ist politisch marginalisiert. Wie geht das zusammen?

Neben offensichtlichen anderen gewichtigen Gründen lässt sich diese Konstellation zumindest zum Teil aus der Art und Weise erklären, wie sich Marxisten zu den sozialen Bewegungen und deren Forderungen verhalten. Entweder werden die Bewegungen unterstützt, deren Kernbotschaften hochgehalten und damit auch ihre stellenweise liberalen Inhalte übernommen, oder es wird bei einem wohlwollenden, zumeist aber praktisch nicht existierenden Verhältnis belassen. Jedenfalls tun sich marxistische Linke nicht gerade als Wortführer der jüngeren sozialen Bewegungen hervor. Anstatt tonangebend in der Kritik konkreter Erscheinungen der kapitalistischen Widersprüche zu sein, hinkt die marxistische Linke in ihrer Positionsfindung den real existierenden gesellschaftlichen Forderungen in mancherlei Fragen hinterher. So auch in der Tierfrage.

Lenin, der mit seiner Schrift in die strategischen Debatten der (damals noch sozialdemokratisch genannten) sozialistischen Bewegung intervenierte, hielt nichts von einer vorschnellen »Einengung des politischen Kampfes«.[1] Die Agitation ausschließlich auf bestimmte Themenfelder zu beschränken, ergab für ihn keinen Sinn: Es galt, alle Widersprüche zwischen den Klassen einer Gesellschaftsformation, jeden aufkeimenden Protest aufzugreifen. Auf »alle Erscheinungen der Willkür und Unterdrückung, wo sie auch auftreten mögen, welche Schicht oder Klasse sie auch betreffen mögen«, sollte laut Lenin reagiert werden, um »an allen diesen Erscheinungen das Gesamtbild der kapitalistischen Ausbeutung zu zeigen«.[2] In diesem Sinn muss das unmittelbare Ziel sozialistischer Agitation auch heute noch sein, Aktivisten aus allen progressiven Bewegungen für den Kampf zur Überwindung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung zu gewinnen – auf allen Feldern des Klassenkampfs und auf dem Boden eines revolutionären Programms. Daher Lenins Aufforderung, »sich aktiv in jede ›liberale‹ Frage einzumischen« und »die sozialdemokratische Stellung zu dieser Frage zu bestimmen«.[3]

Mit Lenin findet man somit ein Argument dafür, warum marxistische Linke ihre eigene, eine sozialistische Position in der Tierfrage und damit zur Fleischindustrie als Verdichtung der Tierausbeutung entwickeln müssten. Darüber hinaus lassen sich seiner Schrift Hinweise darauf entnehmen, wie ein entsprechender Umgang mit den sozialen Bewegungen wie der Tierbefreiungsbewegung und ihren Anliegen aussehen könnte: Die Empörung über das Elend der Tiere und das Treiben der Fleischindustrie sollte als Ausgangspunkt für die Agitation gegen den Kapitalismus genommen werden. Sozialistische Organisationen müssten sich ihrer »Aufgabe bewusst« werden, »alle Erscheinungen der Unzufriedenheit auszunutzen«[4], und die aus diesem spezifischen Widerspruch hervorgehende Bewegungspraxis nicht einfach zu unterstützen, sondern in eine aktive Beteiligung am Klassenkampf gegen das Kapital zu überführen. Dies schließt insofern die Erneuerung und Erweiterung der eigenen Programmatik ein, als dass der Widerspruch zwischen Kapital und Tieren zum Feld der eigenen Auseinandersetzung gemacht werden und das sozialistische Befreiungsprojekt sich auch auf die Interessen der Tiere erstrecken müsste. Nimmt sich die marxistische Linke dieser Aufgabe nicht an, so wird der Kampf gegen die Ausbeutung der Tiere von bürgerlichen und anderen Kräften vereinnahmt. Damit verliert sie mit dem Zugang zu Menschen und Bewegungen zugleich ein potentielles Feld der Agitation.

Integrationsfalle Movementismus

Eine Ursache des Unvermögens der Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung wiederum, eine politische Praxis hervorzubringen, die kapitalistische Tierausbeutung wirklich infrage stellen kann, ist nicht zuletzt das in ihr vorherrschende movementistische Bewusstsein. Es zeichnet sich unter anderem durch eine Single-Issue-Orientierung, wie hier der ausschließliche Fokus auf die Tierfrage, und die Ansicht, dass Bewegungspolitik – gegenüber anderen, größeren Organisationsformen – der einzig gangbare oder zumindest der Königsweg sozialer Veränderung sei. Die oftmals dominante Ausrichtung darauf, eine Gesellschaft durch kulturelle Verhaltensänderungen der Individuen zu transformieren, kann zudem die ideologische Vorstellung bestärken, Bewegungen seien kein Mittel zum Zweck, sondern Selbstzweck.

Beim Versuch zu verstehen, wie movementistische Ansichten überwunden werden könnten, kann uns eine Beobachtung Lenins weiterhelfen. Ausgehend von seinen Erfahrungen mit der russischen Arbeiterbewegung stellt er fest, »dass die Arbeiterklasse ausschließlich aus eigener Kraft nur ein trade-unionistisches [gewerkschaftliches] Bewusstsein hervorzubringen vermag«.[5] Eine politische Auffassung sämtlicher Facetten der Gesellschaft ist selbstverständlich auf die praktischen Klassenkämpfe in den Betrieben angewiesen, erwächst ihm zufolge aber nicht spontan aus diesen. Folglich sei es, so Lenin, Aufgabe der Sozialdemokratie, das ökonomistische (auf Kämpfe um bessere Löhne und Arbeitsbedingungen verengte) in ein sozialistisches Bewusstsein zu überführen, das die Produktions- und Eigentumsverhältnisse sowie alle Fragen der politischen Herrschaft umfasst.

Die Sachlage ist für unseren Kontext heute sicher anders als zu Lenins früher Schaffenszeit. Die Feststellung, dass sich ein gefestigtes sozialistisches Bewusstsein nicht herausgebildet hat, gilt jedoch nicht nur für die junge Arbeiterbewegung im zaristischen Russland, sondern lässt sich auf viele der sogenannten Neuen Sozialen Bewegungen nach 1968 sowie den heute an sie anschließenden Bewegungen ausdehnen. In diesen steht das Problem komplementär zum Ökonomismus. Es dominiert im Kern eine Form des linksliberalen Politizismus, also ein auf politisch-kulturelle Veränderungen des Denkens, der Subjekte, der Lebensweise und der staatlichen Regulierungen verengtes Bewusstsein. Eigentums-, Produktions- und Klassenverhältnisse bilden bestenfalls einen Zusatz.

Wie es Lenin einst für rein gewerkschaftliche Auffassungen der Arbeiterbewegung vorgeschlagen hat, so müsste dieses movementistische Bewusstsein sozialer Bewegungen in ein sozialistisches umgeformt werden. Da dies für ihn nicht als spontaner Prozess gedacht werden kann, kann es nur durch die sozialistische Bildung, das heißt systematische theoretische und politische Schulung der Aktivisten, erreicht werden. Zugegeben, die bestehenden Zustände sind dabei nicht gerade förderlich, aber was dabei auf dem Spiel steht, sind nicht einfach irgendwelche Fragen der Einheitlichkeit der politischen Ansichten. Orientiert sich die Praxis nicht bewusst an kritischer Gesellschaftstheorie, richtet sie sich unbewusst an den gegenwärtig gesellschaftlich hegemonialen Positionen aus. Damit haben soziale Bewegungen wie die Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung aber den Integrationsbestrebungen der herrschenden Klasse inhaltlich nichts Substanzielles entgegenzusetzen.

Alles eine Frage der Organisation

Der Mangel an sozialistischem Bewusstsein lässt sich mit Lenin nicht nur als eine Folge von falsch akzentuierten Kapazitäten oder als Beschäftigung mit der falschen Theorie begreifen, sondern auch als ein Problem der Organisation. Das Handeln heutiger Bewegungsakteure wird immer noch von einem Muster geprägt, das Lenin mit Blick auf die Praxis der russischen Arbeiterbewegung an der Jahrhundertwende als »Handwerklerei« kritisiert hat. Er beschreibt das Phänomen paradigmatisch wie folgt: Über das ganze Land versprengt und voneinander weithin isolierte sozialdemokratische Gruppen beginnen Arbeiter bei Betriebskämpfen zu unterstützen und zu agitieren. Die Arbeiter organisieren sich – entlang der ökonomischen Kämpfe – politisch. Die Arbeiterbewegung erhält Zulauf und es kommt zu ersten größeren Konfrontationen. Damit setzt staatliche Repression ein. Die politischen Organisationen werden zerschlagen und deren Köpfe inhaftiert. Damit beginnt der Prozess wieder von vorn, »eben weil diese Kampfhandlungen nicht das Resultat eines systematischen Planes für einen langen und hartnäckigen Kampf waren«.[6]

Die Ähnlichkeit mit dem Verlauf der internationalen Stop Huntingdon Animal Cruelty-Kampagne oder der Repressionsgeschichte der österreichischen Basisgruppe Tierrechte ist verblüffend. In dieser Abstraktheit prägt Lenins Beschreibung des naturwüchsigen Entstehungs- und Verfallsprozesses – ob nun aufgrund von Repression, materieller Zugeständnisse oder schlicht frustrierender Ohnmacht – die politische Landschaft sozialer Bewegungen bis heute. Diskontinuität politischer Arbeit, die lokale Begrenzung der Organisation und die Isoliertheit der Kämpfe werfen Bewegungen wie die Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung stets zurück auf Start. Die fehlende organisatorische Kontinuität behindert nicht nur die Ausbildung eines sozialistischen Bewusstseins und einer entsprechenden politischen Programmatik. Sie schwächt auch die Kampfkraft und -fähigkeit gegenüber dem politischen Gegner im Allgemeinen und dem Tierkapital im Besonderen.

Eine Möglichkeit, aus der Kreisbewegung herauszutreten, sah Lenin im planmäßigen Aufbau einer sozialistischen und bewegungsübergreifenden Organisation. Sie kann – gerade in nicht-revolutionären Zeiten – erstens den Fortbestand kämpfender Bewegungen sichern, indem sie Aktivisten fortwährend theoretisch und politisch bildet sowie neuen Mitkämpfern einen Anlaufpunkt bietet. Zweitens kann sie die verschiedenen Kämpfe auf der Basis einer revolutionären Perspektive praktisch verbinden. Drittens ist sie imstande, in neu entstehende politische Auseinandersetzungen strukturierend einzugreifen.

Die zur Überwindung der Handwerklerei notwendige Organisationsform erwächst aber weder zwingend noch spontan aus den sozialen Bewegungen oder ihren Kämpfen. Offensichtlich könnte der Aufbau einer solchen Struktur gegenwärtig nicht unmittelbar oder nur unter erheblich erschwerten Bedingungen angegangen werden, unter anderem weil dafür benötigte politische Kräfte marginalisiert sind. Gleichwohl kann die Idee zur Orientierung beitragen. Das Bündnis Gemeinsam gegen die Tierindustrie versucht etwa, die verschiedenen Gruppen der Tierrechts- und Tierbefreiungs- sowie der Klimabewegung durch gebündelte Aktivitäten gegen einzelne Exponenten der Fleischindustrie zusammenzuführen. Es bleibt jedoch eine offene Aufgabe, den Anschluss an die Arbeiter, die Arbeiterbewegung und die marxistische Linke herzustellen sowie sozialistische Positionen zur Tierindustrie zu entwickeln, welche die bestehende Gesellschaftsordnung als Ganze infrage stellen. Würde dieses Vorhaben effektiv angegangen, käme man nicht nur dem Ziel der Befreiung der Tiere ein Stück näher.

Keine rosige Ausgangslage

Man kann mit Blick auf die Schwäche marxistischer Organisationen bei gleichzeitiger vergleichsweiser Stärke Neuer Sozialer Bewegungen aus der Lektüre von Lenins »Was tun?« dreierlei mitnehmen. Erstens sollte die marxistische Linke sämtliche Widersprüche des Kapitalismus zum Gegenstand ihrer Agitation und politischen Praxis machen. Das würde mit Bezug zur Tierausbeutung zunächst bedeuten, eine marxistische Position zur Tierfrage zu entwickeln, diese in der bestehenden Bewegung theoretisch zu vertreten und sich praktisch in ihr einzubringen. Die Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung müsste sich wiederum zweitens aktiv den theoretischen und drittens den organisatorischen Anforderungen des Kampfs für Tierbefreiung als Klassenkampf stellen. Will sie eine schlagkräftige und widerstandsfähige Praxis entwickeln, muss sie ihre movementistische Orientierung mithilfe sozialistischer Bildung und durch die Arbeit hin auf den planmäßigen Aufbau einer sozialistischen Organisation, die die Abschaffung der Tierausbeutung als Teil ihres Kampfes für den Sozialismus begreift, ihre Handwerklerei überwinden.

In letzterem Vorschlag sowie in der Notwendigkeit zur Erneuerung der eigenen Politik treffen sich die Interessen der marxistischen Linken und historisch jüngerer sozialer Bewegungen wie der Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung. Die Bedingungen dafür sind unter den gegebenen Verhältnissen nicht gerade rosig. Während die Arbeiterbewegungsorganisationen größtenteils sozialpartnerschaftlich ausgerichtet sind, vertreten die sozialen Bewegungen mehrheitlich liberale Standpunkte. Der bescheidene Beitrag einer Auseinandersetzung mit Lenins »Was tun?« vermag vor diesem Hintergrund nicht zuletzt darin zu liegen, relevante Fragen und Probleme für Aktivisten der marxistischen Linken und der sozialen Bewegungen überhaupt wieder auf die Tagesordnung zu setzen.

Daniel Hessen

Ein Artikel aus dem Zirkular “Hammel & Sittich”, Ausgabe 1, Mai 2022