Ein Kommentar zum Aufruf »Befreiung hört nicht beim Menschen auf!«
Mitte Januar 2022 erschien in den Zeitungen Oxi – Wirtschaft anders denken[1] und Neues Deutschland[2] ein Interview zum Aufruf »Befreiung hört nicht beim Menschen auf«. Die Interviewten – Trans*-Beraterin und Bildungsarbeiterin Hannah Engelmann[3], die promovierte Philosophin Friederike Schmitz[4] und das Mitglied im aktuellen Bundesvorstand der Partei Die Linke (PdL) Didem Aydurmuş[5] – gaben Auskunft über den von ihnen initiierten Appell[6,7], der wenige Tage später publiziert wurde.
Dessen Hauptanliegen besteht darin, die »politische Linke« dazu zu bewegen, »die moderne Nutzung von Tieren« in Kritik und Praxis zu berücksichtigen. Dazu wird dargelegt, was den nicht-menschlichen Tieren in der kapitalistischen »Tierindustrie« angetan wird. Ferner wird erklärt, wie es dazu kommt und warum Tiere als »Jemand« und nicht als »Etwas« Solidarität verdienen. Darauf folgen vier Forderungen und acht Fragen, über die nach Meinung der Erstunterzeichner zwischen Tierbewegten und anderen Linken zu diskutieren wäre. Die grundsätzliche Intention, die deutschsprachige Linke dazu zu bewegen, sich der Tiere als Befreiungsobjekt anzunehmen, ist natürlich richtig. Gleichwohl stellt sich die Frage, wer eigentlich genau der Adressat ist. Geht es darum, den linken Flügel des bürgerlichen Blocks, sprich Teile der real existierenden Sozialdemokratie oder des grünen Liberalismus inner- und außerhalb der Parteien und Parlamente zu überzeugen? Oder wird mit dem Aufruf das Ziel verfolgt, mit den Kräften ins Gespräch zu kommen, für die Sozialismus nicht ein Papiertiger oder ein Relikt aus der jüngeren Vergangenheit ist?
Da die Strömungen um Kevin Kühnert, Luisa Neubauer oder Janine Wissler auf die Modernisierung des Kapitalismus setzen, im Aufruf aber zu Recht von »Befreiung« die Rede ist, bleibt eigentlich nur die zweite Option. In diesem Fall fragt man sich allerdings, warum die Linke der Einladung zur Debatte überhaupt nachkommen sollte. Die ebenso banalen wie grauenhaften Tatsachen aus Mastanlagen, Laboren und Schlachtfabriken sind – überwiegend dank engagierten Tierrechts- und Tierbefreiungsaktivisten – hinlänglich bekannt. Wenn Linke dennoch ihre Ignoranz, bürgerliche Kälte, ihre Lust am Kotelett oder gar ideologische Komplizenschaft mit der Ausbeutung der Tiere durch das Tierkapital nicht ablegen, müsste man sie unter Druck setzen. Hier wäre ein Mix aus Kritik und Konfrontation sowie eigener Stärke das Mittel der Wahl. Nur wenn die Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung selber etwas zu bieten hat – etwa eine elaborierte Theorie, Positionen zu anderen Widersprüchen des Kapitalismus, einen hohen Organisationsgrad, politische Erfolge –, werden Linke sie ernst nehmen. Ohne solche Pfründe verhallt jeder noch so gute Appell ungehört.
Aber selbst die sozialistische Linke, die tendenziell für das Anliegen offen und zumindest ansatzweise mit der Kultur der Bewegungslinken vertraut ist, wird dieser Aufruf leider kaum überzeugen. Er ist letztlich Ausdruck von Single-Issue- und Identitätspolitik zur demokratischen Anerkennung von Tieren, wie sie die Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung in Deutschland mehrheitlich seit Ende der 1980er-, Anfang der 1990er-Jahre vertritt. Dazu passt die popularisierte Form der Herrschaftskritik, die im Aufruf als Leitideologie fungiert und hinter der sich nicht zufällig radikalliberale Moralphilosophen, Libertäre und bewegte Sozialdemokraten versammeln können. Die Überausbeutung der Tiere wird als ein Resultat ihres Anders-Seins bzw. Anders-Gemacht-Werdens begriffen (»Das Tier als Prototyp des Anderen«), nicht als Folge der historisch besonderen Form kapitalistischer Eigentums- und Klassenverhältnisse und des Interesses des Tierkapitals, Profit zu akkumulieren.
Mit diesem theoretischen Ballast könnten sich einige Linke sicher auch noch irgendwie arrangieren, würde er nicht mit den entsprechenden Vorstellungen über politische Strategie, Forderungen und Bündnisse einhergehen. Besonders bemerkenswert ist, dass die Erstunterzeichner scheinbar »Veganismus« als zentrale Strategie zum Ausstieg aus der Tierausbeutung wieder entdeckt haben. Dabei sollte mittlerweile angekommen sein, dass (subkulturelle) Lebensweisen für sich genommen oder als vermeintlicher Königsweg der Gesellschaftsveränderung im neoliberalen Kapitalismus mehr zur Integration sozial Bewegter und zur Formierung neuer Märkte leisten als zum Widerstand gegen die herrschende Klasse. Ohne Einbettung in eine sozialistische Strategie des Klassenkampfs für die Befreiung der Tiere und gegen die Kapitalisten ist eine vegane Lebensweise bestenfalls etwas fürs gute Gewissen oder eben, was im Appell in Abrede gestellt wird, »eine individuelle Lifestyle-Entscheidung«.
Auch ein Großteil der im Aufruf formulierten Forderungen (drei von vier) sind nicht nur nach innen gerichtet und ausschließlich (sub-)kultureller Natur. Sie sind vor allem auch vage. Was soll es bedeuten, »Tiere in unsere Analyse und Kritik stets« einzubeziehen, oder »die Ablehnung von Gewalt und Ausbeutung gegenüber fühlenden Lebewesen als gemeinsame politische Praxis« zu leben? Und vor allem: Reichte es wirklich aus, wenn Linke diese Anforderungen irgendwie erfüllten? Wäre es nicht eigentlich das Ziel, dass sie Schlachthofblockaden unterstützten oder in Parlamenten für eine Welt ohne Fleischfabriken einstünden? Natürlich, es wird auch »eine antikapitalistische Agrarwende« gefordert. Was das aber heißt und wie man dabei auch »für die Tiere« kämpfen soll, wird leider nicht konkretisiert.
Hier wären eher Forderungen angebracht, die tagespolitisch aktuell sind, aber nicht reformistisch vereinnahmt werden können, und die zugleich an die Wurzel der sozialen Probleme gehen und eine revolutionäre Perspektive aufzeigen – »Fleischindustrie enteignen!« zum Beispiel. Das gäbe Orientierung, was den politischen Gegner betrifft, und zugleich über den Kampf für die Befreiung der Tiere hinaus. Man könnte sie zusätzlich problemlos um eine zweite Forderung erweitern, etwa »Konversion zu veganer Lebensmittelproduktion!«. Mit einer solchen Kombination könnte man die Linke dazu nötigen, Stellung zu Tierbefreiungspositionen zu nehmen, anstatt schlicht »Tiere« als eine weitere unterdrückte Gruppe in Flyern aufzuführen und veganes Essen bei Workshops und Straßenfesten zur Norm zu machen, ohne dass dies weitere Konsequenzen über die subkulturelle Szene- und Lebenswelt hinaus hätte.
Bemerkenswert ist die Ausrichtung des Aufrufs auch deshalb, weil sie hinter bisherige Entwicklungen in der Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung, beispielsweise den verstärkten Fokus auf die Tierindustrie insgesamt, zurückfällt. Aber es mag auch sein, dass einige der Erstunterzeichner Schwierigkeiten damit gehabt hätten, etwa klipp und klar den »Ausstieg aus der Tierindustrie« zu verlangen, geschweige denn zu kritisieren, dass Parteien wie SPD, Grüne und die Mehrheit der Linkspartei nicht einmal für die »Befreiung des Menschen« kämpfen. Hinter unverbindlichen Absichtsklärungen und ein bisschen Veganisierung des eigenen Milieus hingegen können sich SPD-, Grüne- und Linkspartei-Mitglieder und zivilgesellschaftliche Bewegungslinke, deren Herz aufrichtig für Tiere schlägt, versammeln. Entsprechend ist die Trägerschaft des Appells zusammengesetzt. Damit gewinnt man zwar keinen Blumentopf bei der ernstzunehmenden Restlinken und nützt den Tieren kaum – aber vielleicht mittelfristig mal einem rot-rot-grünen Parteienbündnis.
Raul Lucarelli
Ein Artikel aus dem Zirkular “Hammel & Sittich”, Ausgabe 1, Mai 2022