Ein Diskussionsbeitrag zur Strategie der Tierbefreiungsbewegung als Teil der revolutionären Linken

In der jüngeren Vergangenheit hat man in der deutschsprachigen Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung einen bemerkenswerten Prozess beobachten können. Wiederholt haben einzelne Bewegungsakteure oder Bündnisse Anstrengungen unternommen, politische Forderungen für die gegenwärtigen Kämpfe zur Befreiung der Tiere zu entwickeln und damit gezielt an die Öffentlichkeit zu gehen. Diese sind bewegungsspezifisch, gehen also von der Ausbeutung von und der Herrschaft über Tiere aus. Sie besitzen zudem mittel- bis langfristigen, also strategischen Charakter und zeigen konkrete Reformschritte auf. Zu nennen wären dabei insbesondere die 40 Forderungen des Bündnisses für gesellschaftliche Tierbefreiung (BGT) anlässlich der Coronakrise [1] und die sechs Forderungen des Bündnis Gemeinsam gegen die Tierindustrie (BGGT) [2].

Die naheliegenden, aus der unmittelbaren Bewegungspraxis herrührenden Erwägungen, solche Forderungskataloge zu erstellen, sind vielfältig. Diese dienen dazu, in bestimmte politische Diskurse zu intervenieren, einen möglichen Weg für Veränderungen aufzuzeigen und einen kollektiven Willen einzelner Akteure, in der Tendenz auch der gesamten Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung, zu formulieren. Sie erhöhen die Sichtbarkeit der Ziele und der Bewegung als kollektiver politischer Akteur in der Öffentlichkeit. Außerdem können sich neu politisierte Aktivisten, andere Bewegungen oder die interessierte Öffentlichkeit sowie bewegungsinterne Diskussionen an den Forderungen orientieren.

Über diese Argumente unmittelbarer Nützlichkeit für die Praxis hinaus gibt es in der gegenwärtigen historisch-gesellschaftlichen Konstellation mindestens drei gute Gründe dafür, ein Bewegungsprogramm zu entwickeln: einen ideellen, einen strategischen und einen organisatorischen. Erstens kann ein Bewegungsprogramm dazu dienen, in konkreten Klassenkämpfen das objektiv notwendige Ziel politischer Praxis – die revolutionäre Befreiung von kapitalistischer Ausbeutung und bürgerlicher Herrschaft – wieder im Bewusstsein der Lohnabhängigen und politisch Aktiven zu verankern. Zweitens wäre es möglich, mit einer Programmatik zwischen den Kämpfen für Reformen und Revolution zu vermitteln, erstere also als an sich unzureichendes Hilfsmittel im Kampf für letztere zu begreifen, ohne deshalb auf Auseinandersetzungen zu verzichten, die auf Reformen abzielen. Schließlich könnte ein Programm drittens die Perspektive eines übergreifenden und mittelfristigen revolutionären Organisationsprozesses aufzeigen, der die engen Grenzen von Bewegungs- und Subkulturpolitik ebenso überschreitet wie die »roter« Identitäts- und Kleinparteienpolitik. Ein Bewegungsprogramm richtete sich also an das Subjekt des Klassenkampfs von unten, d.h. die lohnabhängigen Massen, an die bereits organisierten Aktiven der Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung und an die revolutionär-sozialistischen Kräfte. Der Zweck ist die Entwicklung des Klassenkampfs ausgehend vom gegenwärtigen Ist-Zustand der objektiven und subjektiven Bedingungen eines revolutionären Bruchs.

Nicht alle Forderungen oder Programmatiken werden automatisch solchen Maßstäben gerecht. Forderungen sind nicht gleich Forderungen. Betrachtet man die Geschichte der Tierschutz-, Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung, unterscheiden sich deren Postulate teils erheblich. Zwar lehnen sie alle die aktuelle Praxis der Tierindustrien im Großen und Ganzen ab. Aber diese Gemeinsamkeit nivelliert nicht die Differenzen zwischen den Bewegungsakteuren in der Konfrontation mit dem Fleischkapital und seinen politischen Repräsentanten. Sie verfolgen unterschiedliche Agenden, Taktiken und Ziele.

Idealtypisch gibt es, analog zu anderen sozialen Bewegungen, mindestens drei verschiedene Strömungen: eine liberale, eine radikalreformerische und eine revolutionär-sozialistische. Die liberale setzt unverhohlen auf die tierpolitische Modernisierung der bürgerlichen Gesellschaft durch veganen Konsum, durch Veränderungen des individuellen Bewusstseins und der Ethik sowie durch Kooperation mit (Tierausbeutungs-)Unternehmen und Staatsapparaten. Der radikalreformerische Teil der Tierbewegungen verfolgt ein kulturrevolutionäres Programm. Durch soziale Bewegungen und präfiguratives Handeln – also indem Konflikte mit den Tierausbeutern ausgetragen und Forderungen an Staat und Gesellschaft formuliert werden sowie gleichzeitig das gute vegane Leben im Hier und Jetzt geführt wird – versucht diese Strömung, Herrschaft über die Tiere zu beseitigen. Die revolutionär-sozialistische Strömung hingegen orientiert darauf, die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse (inklusive des Privateigentums an Tieren) sowie die mit ihnen korrespondierende bürgerliche Herrschaft, die die über die Tiere einschließt, zu beseitigen – und zwar durch den Kampf der Arbeiterklasse, die auch marginalisierte Gruppen und politisierte Individuen umfasst, gegen das Kapital und den Staat.

Die negativ bestimmte Einheit der Tierbewegungen in Bezug auf die Tierausbeutung entpuppt sich also als porös, wenn positiv bestimmt wird, wer kämpft, wie gekämpft werden soll und wofür genau. Diese Unterschiede zeigen sich auch, wenn man die konkreten Vorschläge für Bewegungsprogramme untersucht, die das Bündnis für gesellschaftliche Tierbefreiung und das Bündnis Gemeinsam gegen die Tierindustrie vorgelegt haben.

Eine radikalreformerische Roadmap

Die sechs Postulate, die das BGGT formuliert hat, zählen zweifellos zu den am weitesten entwickelten Entwürfen für Bewegungsforderungen. Sie enthalten zahlreiche Ideen, die sich Tierrechts- und Tierbefreiungsorganisationen zu eigen machen sollten: etwa, dass für Beschäftigte in der Tierhaltung und den Schlachthöfen »gute Alternativen« geschaffen oder dass Werbekampagnen für Tierprodukte eingestellt werden müssen. Selbstverständlich sollte man sich auch dafür aussprechen, dass »Erweiterungen und Neubauten von Ställen nicht mehr stattfinden«.

Die Forderungen unterscheiden sich untereinander stark darin, wie weit sie gehen, wie leicht und wann sie sich verwirklichen lassen. Einerseits setzt sich jede einzelne der sechs Hauptforderungen aus einem Bündel weiterer, teils äußerst kleinteiliger Forderungen zusammen, die »realistisch und zeitnah« umsetzbar sein sollen. Andererseits wird verlangt, »Großkonzerne zu vergesellschaften und in pflanzenverarbeitende Betriebe unter Selbstverwaltung der Arbeiter*innen umzuwandeln«. Letzteres mag noch nicht der letzte Schritt zur befreiten Gesellschaft sein. »Realistisch und zeitnah« implementier- und durchsetzbar ist die Vergesellschaftung Tönnies’, Vions oder PHWs aber gewiss auch nicht.

Ein Spannungsverhältnis zwischen derzeit realistischen und zeitnah umsetzbaren sowie langfristig durchzusetzenden Forderungen ist also vorhanden. Aber es bestimmt die politische Ausrichtung des Forderungskatalogs nicht. Die Vergesellschaftungsforderung ist darin eher die Ausnahme, welche die Regel bestätigt. Ihre Reichweite und ihr Geist sind nicht charakteristisch für die sechs Kernforderungen. Sie firmiert lediglich als ein Unterpunkt der »Guten Alternativen für Beschäftigte«.

Das Gros des Sextetts ist zwar durchaus ambitioniert, aber letztlich realpolitisch ausgerichtet. Dies gilt insbesondere für die zentrale Forderung nach dem sozial gerechten »Abbau von mindestens 80 Prozent der aktuellen [Tier-]Bestände bis 2030«, die in dieser Form von der Klima- beziehungsweise Antikohlebewegung inspiriert zu sein scheint. Die Forderungen, so heißt es im erklärenden Outro, seien »als Einstieg [Herv. MuTb] in eine sozial gerechte und ökologische Agrar- und Ernährungswende« angelegt. Diese soll »Teil eines umfassenden Systemwandels hin zu einer solidarischen und ökologischen Produktions- und Organisationsweise« sein, »die nicht auf Kosten anderer fühlender Individuen erfolgt und nicht am Gewinn orientiert« ist.

Mit anderen Worten: Zwar wird der Anspruch auf eine Veränderung des gegenwärtigen »Systems« (welches nicht näher, zum Beispiel als »Kapitalismus«, spezifiziert wird) vage (»Wandel« statt »Revolution«) formuliert. Aber im programmatischen Teil des Forderungskatalogs, der dem politischen Eingriff in die heutigen sozialen Auseinandersetzungen dient, verzichtet das BGGT auf explizit genannte Ziele wie Tierbefreiung oder Sozialismus. Potentielle Mittel einer Revolution, wie zum Beispiel die »Enteignung« des Tierkapitals, die der »Vergesellschaftung« vorausgehen müsste, oder auch die Rolle der politischen Macht gehen ebenso wenig aus den sechs Postulaten hervor.

Trotzdem sind die Ansprüche des Bündnisses vor dem Hintergrund der sozioökonomischen Ausbeutungs- und Herrschafts- sowie der gegenwärtigen politischen Kräfteverhältnisse in den westlich kapitalistischen Zentren natürlich »radikal«. Nicht jedoch, weil sie »an die Wurzeln« gehen. Der radikale Reformismus zeichnet sich vielmehr dadurch aus, die weitestgehenden progressiven Reformen innerhalb der aktuellen politisch-ökonomischen Rahmenbedingungen im Sinne eines Kampfes um die Hegemonie als Vorstufe zu einem »Systemwandel« durchzusetzen. »Radikal« sind die Reformen gemessen am politischen Status quo und was in diesem von links noch als »legitim« und »verhandelbar« zu gelten scheint, nicht aber gemessen an den Ursachen kapitalistischer Ausbeutung und Herrschaft. Radikal also nicht im Sinne des Nötigen, sondern angesichts des derzeit politisch scheinbar Möglichen. Der »Systemwandel« ist dadurch als Ziel nicht anwesend in den Mitteln. Reformen und »Systemwandel« sind nicht miteinander vermittelt.

Diese Kritik bedeutet keineswegs, dass man alle »reformistischen« Forderungen aufgeben sollte. Nur müssen sie in eine revolutionär-realpolitische Strategie und Programmatik eingebettet sein. Es ist zum Beispiel richtig, das Ende der staatlichen Finanzierung von Fleischwerbekampagnen und der Exportförderung für Fleischwaren zu fordern. Aber für sich genommen sind diese Vorschläge keine Indikatoren für ein Programm zur Befreiung von Arbeitern, Natur und Tieren. Sie könnten auch problemlos in ein ökomodernistisches oder öko-keynesianistisches Projekt Eingang finden.

Die Sammlung von Reformideen und ihr radikalreformerischer Charakter korrespondieren mit dem politisch-strategischen Design des BGGT-Forderungskatalogs. Er ist als eine Art Roadmap für zivilgesellschaftliche Bewegungen angelegt, die durch Konflikte mit der Regierung und spezifischen Sektoren der Wirtschaft einzelne Veränderungen im politisch-ökonomischen Gefüge aushandeln sollen (»nachhaltige« statt »fossile« Energieproduktion, »vegane« Lebensmittel- statt »Tierproduktion«). Die strategische Gestaltung bietet wenige Anknüpfungspunkte für eine breitere, revolutionäre Bewegung und Organisation oder für ein Programm, das dem Ziel, die kapitalistische Gesellschaft zu überwinden, bewegungsübergreifend Ausdruck verleihen könnte. Auch scheint es sich nicht explizit an ein bestimmtes soziales Subjekt zu richten, das als Träger eines revolutionären Bruchs mit den Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnissen der bürgerlichen Gesellschaft infrage käme (wie Marcuses »Randgruppen plus Intellektuelle« oder eben Marxʼ »Proletariat«). Vielmehr wird unter Abstraktion vom Klassenwiderspruch aus einer allgemeinen Menschheitsperspektive für Veränderungen auf einem bestimmten Politikfeld (»Landwirtschaft und Ernährung«) an die Gesellschaft sowie an die organisierten politischen Kräfte in Zivilgesellschaft und Staat appelliert.

Diese radikalreformerische Strategie (man könnte sie theoretisch als »Strategie des erweiterten Etatismus« bezeichnen) geht normalerweise mit einer politischen Ausrichtung auf Selbstveränderung und subkulturelle Projekte (»präfigurative« Praxis) sowie mit einem stärkeren Bezug auf eine (oder mehrere) identitätslogisch bestimmte Gruppe(n) – Tiere, Frauen, Migranten usw. – einher. Sie ist das bewegungspolitische Pendant zum »Tradeunionismus« (gesellschaftliche Veränderungen durch gewerkschaftliche Reform der Arbeits- und Lohnverhältnisse) und zur (Sozial-)Staatsfixierung klassisch linkssozialdemokratischer Kräfte. In der Vergangenheit haben intersektionalistisch ausgerichtete Strategien – ebenso wie traditionelle sozialdemokratische Partei- und Gewerkschaftspolitik – zu fortschrittlichen Modernisierungen der bürgerlichen Gesellschaft beigetragen, aber gleichzeitig Fraktionen der Subalternen, also der Ausgebeuteten und Beherrschten, durch eben jene Modernisierungen integriert.

Zwischen den Stühlen – vom Partei- bis zum »Ten-Point Program«

Die Kritik an den sechs BGGT-Forderungen sollte nicht als Argument missverstanden werden, das Instrument programmatischer Bewegungsforderungen zu verwerfen. Deren Nützlichkeit wurde eingangs bereits grob skizziert. Um aber dessen Zweck und Grenzen zu sondieren, kann ein Vergleich mit anderen Formaten und ein Blick in die Geschichte helfen. Schauen wir uns also die Schnittmengen und Unterschiede der Forderungskataloge des BGT und des BGGT mit den bisher üblichen Formen an.

In der Geschichte revolutionärer Bewegungen der letzten rund 150 Jahre ist das (Partei-)Programm der Klassiker unter den Formen, politische Leitlinien zu artikulieren. Darin werden in der Regel die Grundsätze einer sozialistischen oder kommunistischen Organisation dargelegt, die historisch spezifische Entwicklungsepoche der kapitalistischen Gesellschaft in ihren Hauptlinien analysiert und die Aufgaben der Organisation darin bestimmt. Aus der Vermittlung dieser drei Aspekte werden dann die Ziele und Mittel, die Strategie und das revolutionäre Subjekt benannt sowie die nächsten Forderungen für die aktuelle Phase des Klassenkampfs abgeleitet. Ein Beispiel wäre das Gründungsprogramm der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) von 1918/19. [3]

Die BGGT- und BGT-Initiativen entsprechen am ehesten dem Teil der »nächsten«, das heißt tagespolitischen Forderungen solcher Programme, wobei diese von Parteien üblicherweise nicht auf ein Politikfeld begrenzt werden. Allerdings finden sich auch zu den anderen Charakteristika eines (Partei-)Programms teils explizit, teils implizit Überlegungen im BGGT-Forderungskatalog. Im Falle der 40 »Forderungen des Bündnisses für gesellschaftliche Tierbefreiung anlässlich der Coronakrise« ist offenkundig die Interpretation einer historisch-gesellschaftlichen Entwicklung als Grundlage der formulierten Forderungen besonders relevant. Auch wenn die historischen und sozialökologischen Bedingungen (»Coronakrise«) nicht profund untersucht werden – es gibt allerdings rahmende Begleittexte zum Forderungskatalog [4] –, stellen die BGT-Forderungen unzweideutig eine unmittelbare Intervention in einer neuen historisch-sozialen Konstellation dar.

Gleichzeitig gehen die BGGT- und BGT-Dokumente über die üblichen, schriftlich fixierten Selbstverständnisse politischer Akteure der westlichen Bewegungslinken jenseits sozialistischer oder kommunistischer Parteiorganisationen sowie über die Zielsetzungen von Kampagnen hinaus. Diese Art Selbstverständnisse sind in aller Regel darauf beschränkt, kurz und bündig darzulegen, wer man ist, wie man sich organisiert und welche Ziele man allgemein verfolgt. Sie sind als eine Art kleinster gemeinsamer Nenner autonomer Gruppen der außerparlamentarischen Opposition oder der Partner in einem Bündnis eher eine Erscheinung der neuen, projektorientiert arbeitenden Linken. Kampagnen wiederum werden meist von ihren Trägern auf pragmatische, realpolitisch umsetzbare Einzelforderungen begrenzt. Klassische Beispiele sind die Freilassung eines politischen Gefangenen (»Freiheit für Mumia Abu-Jamal!« [5]) oder, im Falle der Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung, die Forderung an Modeunternehmen, den Verkauf von Pelzwaren zu stoppen [6].

Die beiden Initiativen aus der Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung entsprechen also nicht unbedingt den Formen eines (Partei-)Programms, eines Selbstverständnisses oder einer Kampagne. Als allgemeinverständlich gehaltene, programmatische Forderungskataloge einer sozialen Bewegung gibt es dennoch Ähnlichkeiten mit recht prominenten historischen Vorläufern. Für den Bund der Kommunisten formulierten etwa Marx, Engels und vier ihrer Mitstreiter kurz vor Beginn des Revolutionsversuchs von 1848 ein Flugblatt, auf dem siebzehn »Forderungen der Kommunistischen Partei in Deutschland« [7] aufgeführt wurden. Diese wurden aber erstens vom kurz zuvor veröffentlichten »Manifest der Kommunistischen Partei« [8] politisch-theoretisch gerahmt. Über soziale Träger, Mittel und Zweck konnte also kein Zweifel bestehen. Zweitens orientierten sich die Vorschläge nicht an einer identitätslogisch bestimmten Gruppe der Gesellschaft, wie etwa »den Tieren«, oder an einem Teilbereich der Gesellschaft. Drittens bildeten die Verstaatlichung nahezu aller entscheidenden Zweige der Wirtschaft als Voraussetzung ihrer demokratischen Verwaltung sowie die Demokratisierung des Staates den Kern und die verbindenden Elemente im Programm des Bundes.

Das vielleicht stärkste, fast ausschließlich auf Forderungen begrenzte Kurzprogramm einer Bewegungsorganisation, die sich an den Belangen einer bestimmten sozialen Gruppe orientiert, stammt aus der Hochzeit der Neuen Linken im Westen. Im sogenannten »Ten-Point Program« der Black Panther Party von 1966 [9] werden zehn auf den ersten Blick alltagsbezogene, pragmatisch erscheinende Dinge verlangt, wie etwa (unter Punkt vier) »menschenwürdiger Wohnraum«. Gleichwohl werden diese Anliegen in den beiden ersten Forderungen (»1. Wir wollen Freiheit. Wir wollen die Macht, das Schicksal unserer Schwarzen Community selbständig zu bestimmen«, »2. Wir wollen Vollbeschäftigung für unser Volk«) und den dazugehörigen, kurzen Erläuterungen relativ offen mit sozialistischen Zielen verbunden. Neben »Freiheit« und dem Recht auf Selbstbestimmung für Schwarze (nicht »Mitwirkung«, »Partizipation«, »Mitbestimmung« oder »Teilhabe«) wird unter Punkt zwei postuliert: »Wenn der weiße amerikanische Geschäftsmann die Vollbeschäftigung nicht sicherstellt, sollten dem Geschäftsmann die Produktionsmittel weggenommen und der Community übergeben werden, so dass die Menschen sich in ihren Communitys organisieren, allen Menschen Arbeit geben und einen hohen Lebensstandard gewährleisten können.« [Übersetzung MuTb] Hier ist die Vermittlung von Revolution und Reform in aller Schlichtheit gelungen. Gleichzeitig gibt es einen Ansatzpunkt für die Verknüpfung des Befreiungskampfs der Schwarzen mit dem gesellschaftlichen Kampf für die Befreiung der Arbeiterklasse.

Im Lichte dieser historischen Vorgänger und der Abgrenzung von anderen Formaten ist es also alles andere als prinzipiell falsch, programmatische Forderungen zusammenzustellen. Es kommt aber darauf an, wie ein solcher Katalog genau gestaltet und politisch-theoretisch eingebettet ist sowie welcher Zweck damit verfolgt wird. Zudem muss deutlich werden, wieso es gerade heute einer Zusammenstellung nächster Aufgaben in dieser Form bedarf.

Eine Brücke zwischen Sein und Sollen

Um diese Fragen zu beantworten, kann ein Argument des russischen Revolutionärs Lew Dawidowitsch Bronstein, genannt Leo Trotzki, aus seinem Essay »Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der 4. Internationale« [10] weiterhelfen. In seinem Aufsatz versucht er zu bestimmen, was zum Zeitpunkt dessen Erscheinens 1938 zu tun sei. Trotzki stand dabei unter dem Eindruck der autoritär zugerichteten sowjetischen Demokratie und dem Opportunismus der Sozialdemokratie in den westlichen Ländern einerseits und der Krise des kapitalistischen Modells andererseits, die – für ihn bereits vorhersehbar – in den Weltkrieg münden würde.

Um nach vorne zu schauen, richtete er seinen Blick zurück auf die klassische Sozialdemokratie und ihre Fehler. Ein wesentliches Problem sei gewesen, dass in der sozialdemokratischen Bewegung ein »Minimalprogramm« und ein »Maximalprogramm« unvermittelt nebeneinander gestanden hätten. Ersteres habe sich »auf Reformen im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft« beschränkt, letzteres »für eine unbestimmte Zukunft die Ersetzung des Kapitalismus durch den Sozialismus« versprochen. Zwischen den beiden aber habe »es keine Brücke« gegeben.

Eine ähnliche Kritik formulierte auch Rosa Luxemburg in ihrer Rede »Unser Programm und die politische Situation« [11] auf dem Gründungsparteitag der KPD (30. Dezember 1918 bis 1. Januar 1919). Sie diagnostizierte, dass im Erfurter Programm von 1891 [12], das für die SPD bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs richtungsweisend war, die »unmittelbaren, sogenannten Minimalforderungen für den politischen und wirtschaftlichen Kampf von dem sozialistischen Endziel als einem Maximalprogramm« getrennt vorgelegen hätten.

Die Grundidee der kommunistischen Revolutionärin, um dieses Problem zu lösen, bestand in der Strategie »revolutionärer Realpolitik«, die sie bereits 1903 in ihrem Artikel »Karl Marx« für die sozialdemokratische Zeitung »Vorwärts« dargelegt hatte. [13] »Proletarische Klassenpolitik« sei nicht daran auszurichten, was »vom Standpunkt der materiellen Tagespolitik real« ist, sondern »vom Standpunkt der geschichtlichen Entwicklungstendenz«. Was hier noch leicht geschichtsphilosophisch klingt, meint, dass die Reformen sich an der Durchsetzung des Sozialismus zu orientieren haben. »Die proletarische Realpolitik ist (…) revolutionär, indem sie durch alle ihre Teilbestrebungen in ihrer Gesamtheit über den Rahmen der bestehenden Ordnung, in die sie arbeitet, hinausgeht, indem sie sich bewußt nur als das Vorstadium des Aktes betrachtet, der sich zur Politik des herrschenden und umwälzenden Proletariats machen wird.« Mit anderen Worten, die Durchsetzung von Reformen muss auch dem Klassenkampf für die sozialistische Revolution nutzen, sie darf ihn nicht still stellen oder zur Integration der Arbeiterklasse beitragen.

1918/19 war für Luxemburg und die KPD die Sache recht klar. Sie konnten aufgrund des sich scheinbar für eine sozialistische Revolution öffnenden Fensters in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg im Großen und Ganzen die Programmatik des »Manifest der Kommunistischen Partei« übernehmen. Luxemburg schlussfolgerte daher: »Für uns gibt es jetzt kein Minimal- und kein Maximalprogramm; eines und dasselbe ist der Sozialismus; das ist das Minimum, das wir heutzutage durchzusetzen haben.« [14] Trotzki hingegen zog in einer späteren historisch-gesellschaftlichen Konstellation 1938 deutlich andere Konsequenzen. Er gab als Ziel aus, »der Masse im Verlauf ihres täglichen Kampfes [zu] helfen, die Brücke zu finden zwischen ihren aktuellen Forderungen und dem Programm der sozialistischen Revolution.« [15]

Trotzki argumentierte, dass 1938 die objektiv-ökonomischen Bedingungen – die Produktivkräfte seien weit genug entwickelt, das kapitalistische System in der Krise – zwar die Umsetzbarkeit der Revolution erlaubten, die subjektiven hingegen nicht. Insbesondere aber »die historische Krise der Führung des Proletariats« habe die Verwirklichung des Sozialismus verhindert. Anders ausgedrückt, die opportunistischen Leitungsgruppen in der Sozialdemokratie und in den Zentralkomitees der kommunistischen Parteien seien das zu überwindende Hindernis auf dem Weg zum Sozialismus. Nun muss man dieser spezifischen Begründung für einen Brückenschlag zwischen Reform und Revolution nicht zustimmen. Tatsächlich überbetont und vereinseitigt Trotzki in seiner Fehleranalyse das »Leitungsproblem« der sozialistischen Arbeiterbewegung.

Seine Grundideen sind dennoch unabhängig von seiner konkreten Begründung übertragbar auf die Art und Weise, wie Klassenkampf in der gegenwärtigen Entwicklungsphase des Kapitalismus mithilfe einer Sammlung programmatischer Forderungen revolutionär-realpolitisch geführt werden könnte: Denn erstens sind auch aktuell die objektiven und subjektiven Bedingungen der Revolution nicht deckungsgleich. Zweitens bedarf es in einer Konstellation, in der der subjektive Faktor gegenüber dem Objektiven unterentwickelt ist, einer Verknüpfung von Alltagspolitik »unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen« [16], die notwendig limitiert ist, mit dem revolutionären Ziel des Sozialismus. Denn dieser ist und bleibt die einzig mögliche fortschrittliche Alternative zur Ausbeutung und Herrschaft im westlich-liberalen oder im staatlich regulierteren Kapitalismus und zur Barbarisierung.

Aus seinen Reflexionen zog Trotzki 1938 die Schlussfolgerung, dass die »strategische Aufgabe der nächsten Periode (…) der Agitation, Propaganda und Organisation« darin bestehe, den Widerspruch zwischen objektiver Reife und subjektiver Unreife« zu überwinden. Dies sei dann auch der Zweck der sogenannten »Übergangsforderungen« beziehungsweise eines, wie er es nennt, »Übergangsprogramms« [17], das er in seinem Artikel schließlich ausführt.

Mit anderen Worten, ein Forderungskatalog im Stile eines Übergangsprogramms ist ein Werkzeug, um das revolutionäre Subjekt politisch, theoretisch und kulturell im laufenden Normalbetrieb einer nicht-revolutionären Phase kapitalistischer Entwicklung zu formieren. Es dient der Mobilisierung der Arbeiterklasse für und in aktuellen Klassenkämpfen, der Überzeugung aller ihrer Fraktionen von der Notwendigkeit und Machbarkeit einer sozialistischen Revolution, der Organisation der Ausgebeuteten in einem strategischen Projekt (oder vorerst mehreren), das auf die Realisierung des Sozialismus hinarbeitet, und der Herstellung des dazu nötigen politisch-theoretischen Klassenbewusstseins. Es ist also ein Mittel zur Selbstentwicklung und -organisation der Arbeiterklasse in Theorie und Praxis, eine Brücke zwischen ihrem Sein und Sollen, damit aber auch kein Ersatz für das sozialistische Programm oder für das revolutionäre Ziel.

Politisch-ökonomische Bedingungen revolutionärer Politik heute – ein Abriss

Die historisch-gesellschaftlichen Voraussetzungen, unter denen revolutionäre Politik und Organisation heute gemacht werden müssten, unterscheiden sich von jenen zu Trotzkis Zeiten beträchtlich, auch wenn es Kontinuitäten in den politisch-ökonomischen Grundverhältnissen und Tiefenstrukturen gibt und wir derzeit eine der historisch tiefsten Krisen des Kapitalismus erleben. Hier ist nicht der Platz für eine profunde Analyse der aktuellen Entwicklungsperiode der bürgerlichen Gesellschaft. Aber es liegt auf der Hand, dass die objektiven und subjektiven Bedingungen für sozialistische Gesellschaftsveränderung auch heute stark auseinanderklaffen.

Das Kapital hat sich buchstäblich und im übertragenen Sinn die Erde untertan gemacht und sich eine Welt nach seinem eigenen Bilde geschaffen. Seine Basis bildet die gänzlich internationalisierte und intensivierte Ausbeutung der Arbeiterklasse, die so groß ist wie nie zuvor in der Geschichte. Die »normale« Ausbeutung, darunter auch hochqualifizierter und -spezialisierter Arbeiter, ist gekoppelt mit der Überausbeutung großer Teile des Proletariats in der Peripherie, einzelner Fraktionen in den imperialistischen Metropolen, sowie mit der besonderen Ausbeutung von Natur und Tieren weltweit auf einem ebenfalls bisher ungeahnten Niveau. Die kapitalistische Ökonomie heute zeichnet sich zudem durch die Verbindung kapitalistischer Produktion in der klassischen Wirtschaft (Landwirtschaft, Industrie, Dienstleistungen) und in der Kultur, Freizeit und sozialen Reproduktion aus, nachdem letztere seit Mitte des 20. Jahrhunderts sukzessive als Akkumulationsfelder erschlossen wurden. Das Kapital profitiert zudem in großem Maße von nicht warenförmiger Arbeit außerhalb der Produktion und Zirkulation. Die Klassengesellschaft ist auch in den imperialistischen Metropolen wieder zunehmend polarisiert. In den Peripherien waren die Antagonismen schon immer stärker erkennbar.

Die Entwicklung der Produktivkräfte ist unter diesen Bedingungen zwar nicht per se regressiv. Heute mehr als noch zu Trotzkis Lebzeiten könnte sie eine Planung der Wirtschaft, die Versorgung aller Menschen und ein versöhntes Verhältnis zu Natur und zu Tieren erlauben. Aber die Produktivkräfte wurden in hohem Maße als Destruktivkräfte entwickelt, wie es nicht nur der Klimawandel zeigt. Seit 2007 befindet sich die kapitalistische Gesellschaft erneut in einer strukturellen Krise, die im Kern eine ökonomische ist und sich zugleich auf zahlreiche Beziehungen erstreckt, die das Kapital unterhält, wie etwa zur Natur und zu den Tieren. Schließlich führen die Hetzjagd auf Profite und die internationale Konkurrenz dazu, dass Kapitalisten und Staaten sich nicht nur einen politischen und ökonomischen Wettlauf um Rohstoffe, Absatzmärkte und Arbeitskräfte sowie Einflusssphären liefern. Vielmehr mündet der Wettbewerb zunehmend in militärische Konfrontationen und imperialistische Kriege.

Im Westen haben sich die subjektiven Bedingungen umgekehrt proportional zur Kapitalherrschaft und zur Ausdehnung bürgerlicher Ausbeutungsverhältnisse entwickelt. Unabhängig von seiner Bewertung ist durch den Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus ein Auflösungs- und Verfallsprozess der Linken wenn nicht losgetreten, so doch erheblich beschleunigt worden. Dessen Resultate sind unter anderem ein Zerfall und die Marginalisierung revolutionärer Organisation und ein Niedergang echten Klassenbewusstseins unter den Massen, die heute auch in den imperialistischen Metropolen wieder verarmen und verstärkt dem Druck des alltäglichen Überlebenskampfs ausgeliefert sind. Die noch bestehenden marxistisch-leninistischen, maoistischen oder trotzkistischen Parteien und außerparlamentarischen Splittergruppen mit programmatischer Verwandtschaft haben – zurückhaltend formuliert – wenig und weiter schwindenden gesellschaftlichen Einfluss in der breiten Bevölkerung.

Die linke Sozialdemokratie ist auch kein Hoffnungsträger. In Deutschland ist sie zudem weitgehend in zwei Lager gespalten. Das eine orientiert auf die Wiederherstellung des National- und Sozialstaats mittels Partei- und Gewerkschaftsarbeit (klassischer Keynesianismus plus Kulturkonservatismus) und will zurück zur fordistischen Regulation des Kapitalismus. Das andere setzt auf politischen Druck im erweiterten Staat mittels Bewegungs- und Parteiarbeit (linksliberaler Radikalismus plus Kulturrevolution) und will eine Art ausgebauten, liberalisierten und partizipativen Sozialstaat (»Infrastruktursozialismus«). Fernab aller Papiere, Proklamationen und betont zur Schau gestellten Bewegungsnähe zeigt die Praxis, dass der linke Flügel der Sozialdemokratie deren historische Rolle ausfüllt, wenn er denn darf. Er trägt Kürzungen, Sparmaßnahmen, Privatisierungen, Entlassungen, Umweltzerstörungen, Abschiebungen und Kriege mit und präsentiert sie den Menschen als Naturnotwendigkeit. Das ist bei deutschen Landesregierungen mit linker Beteiligung so und auch etwa in den USA oder in Griechenland hat der linke Flügel der Sozialdemokratie Regierungsämter im Zweifel über Inhalte gestellt. Gleichzeitig wurden durch die linkssozialdemokratischen Formationen Fraktionen oppositioneller Kräfte integriert. In anderen Staaten, wie etwa in England, ist das Projekt einer Wiederbelebung der Sozialdemokratie von links schon parteiintern krachend gescheitert, noch bevor es sich hätte an der Regierung beweisen müssen.

Die Träger des Klassenkampfes von oben, also auch die ideologischen Apparate des bürgerlichen Staates – Medien, (Hoch-)Schulen, Kirchen usw. – haben alles dafür getan, die kleinen Erfolge sozialistischer Bewegungen und Staaten in Verruf zu bringen. Zugleich muss man zur Kenntnis nehmen: Auch die Verbrechen, die im real existierenden Sozialismus begangen wurden, dessen Scheitern sowie der Opportunismus der Sozialdemokratie haben den Glauben an eine sozialistische beziehungsweise kommunistische Alternative, den Kampf für sie und die dafür nötigen Ideen unter den lohnabhängigen Massen und Marginalisierten zwar nicht ausgelöscht, aber dennoch erheblich diskreditiert.

Die großen sozialen Bewegungen jüngerer Vergangenheit vermögen das Gesamtbild nicht nennenswert zu verbessern. Zwar stehen dank ihnen mittlerweile etwa die Naturzerstörungen im Zentrum der medial sichtbaren politischen Auseinandersetzungen in Staat und Zivilgesellschaft. Erstmals in der Geschichte wird sogar die Tierfrage öffentlich aufgeworfen. Aber nach der Klassenzusammensetzung der Kader dieser Bewegungen, ihren Programmatiken, Politiken und Zielen handelt es sich bisher und in ihrer Mehrheit um linksliberale Modernisierungsbewegungen mit einem bestenfalls zwiespältigen Verhältnis zur Arbeiterklasse und zum Sozialismus.

Schließlich wird der Niedergang der Linken vom Wiederaufstieg des Faschismus als Bewegung in Peripherien und Zentren begleitet und akzentuiert. Er verkörpert in den sich zuspitzenden Klassenkämpfen in der gegenwärtigen Krise der kapitalistischen Gesellschaftsformation zugleich die präventive Konterrevolution und eine latente Option für eine andere Form bürgerlicher Herrschaft. Anders ausgedrückt, er dient dazu, Forderungen von links machtpolitisch zu neutralisieren, reaktionäre Maßnahmen in Ökonomie und Politik durchzusetzen, und im Fall der Fälle als Bündnispartner die Profite des Kapitals und die Macht der herrschenden Klasse in der Gesellschaft durch einen Übergang zu einer faschistischen Herrschaftsform abzusichern. In einzelnen europäischen Staaten und in den USA wurde und wird eine solche Bündnispolitik ebenso bereits in der Praxis verfolgt wie in den zwischenimperialistischen Konflikten, wie etwa das Bündnis westlich-kapitalistischer Zentren mit faschistischen Kräften in der Ukraine zeigt.

Anders als für Trotzki gleicht das potentielle revolutionäre Subjekt heute in dieser Situation nicht einem schwankenden Körper ohne Kopf. Es ähnelt auch nicht den noch unverbundenen Ortsgruppen einer potentiellen revolutionären Partei, die aber wie Fische im Wasser kampfbereiter Massen schwimmen, wie Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, es in »Was tun?« skizzierte. [18] Es ist derzeit auch – wohlwollend formuliert – schwer als eine in Luxemburgs Sinne spontan aus den Alltagskämpfen erwachsende, zur selbständigen Aktion schreitende Arbeitermasse erkennbar, die aus Kämpfen lernt, freiwillige Selbstdisziplin an den Tag legt und aus sich heraus eine Leitung bestimmt. [19]

Vielmehr existiert die revolutionär-sozialistische Linke – jedenfalls in Deutschland und der Schweiz – bestenfalls als ein ungleichmäßig verteiltes und lose verbundenes Netzwerk von Zirkeln, Kleingruppen, Intellektuellen und einzelnen Aktivisten in der Zivilgesellschaft. Vereinzelt stellt sie organisierte, zumeist aber eher einflusslose Minderheiten in außerparlamentarischen Bewegungen und Projekten sowie in parlamentarisch vertretenen oder bedeutungslosen Parteien. Sie ist daher, wenn auch ungleich, im gesamten Spektrum von linksgrüner Sozialdemokratie bis hin zum Marxismus-Leninismus realsozialistischer Prägungen vertreten. Kontakt zum revolutionären Subjekt besitzt sie allenfalls sporadisch.

Drei Argumente für ein Übergangsprogramm der Tierbefreiungsbewegung

Welchen Zweck hätte es, unter diesen Bedingungen heute überhaupt eine Art Programm zu formulieren? Noch dazu für die wahrscheinlich kleinste soziale Bewegung des Post-1968-Typs, der Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung?

Zunächst muss man in Rechnung stellen, dass unter den unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen die Formulierung eines Parteiprogramms auf der Höhe der Zeit am Entwicklungsstand des subjektiven Faktors vorbeiginge. Denn weder sind derzeit die Kräfte vorhanden, die ein solches Programm stützen und auch in der Realität den mit ihm einhergehenden Anspruch einlösen könnten. Noch entspricht die Kooperation, Koordination, Diskussion oder Organisation des revolutionären Lagers auch nur ansatzweise den Anforderungen eines sozialistischen Parteiprozesses.

Selbstverständnisse oder Kampagnenforderungen wiederum sind politisch zu beschränkt, pragmatisch zu eng gefasst und auf bestimmte unmittelbar praktische Zwecke ausgerichtet. Eine Strategie für den Kampf der subalternen Klasse oder auch nur für eine sozialistische Strömung innerhalb einer sozialen Bewegung können mit ihnen nicht entwickelt werden.

Im Vergleich zu diesen Mitteln politischer Arbeit ist ein auf die besondere historisch-gesellschaftliche Konstellation zugeschnittenes Übergangsprogramm geeignet, um heute revolutionäre Politik gegenüber dem Klassengegner, im Proletariat und gegenüber der organisierten Linken entwickeln zu können. Ein Übergangsprogramm kann tatsächlich eine Brücke zwischen objektiver Situation und nicht-revolutionären, subjektiven Bedingungen schlagen, wenn revolutionäre Sozialisten es zur Formierung des gesamten Subjekts nutzen. Es ist auch ein Weg, Luxemburgs strategischen Vorschlag revolutionärer Realpolitik auf einem Feld konkreter Klassenkämpfe inhaltlich umzusetzen und Reformvorhaben mit revolutionärem Ziel zu vermitteln. Im Stile des »Ten-Point-Programs« der Black Panther Party schließlich können Sozialisten es innerhalb einer sozialen Bewegung verwenden, um ausgehend von den konkreten Anliegen dieser Bewegung eine sozialistische Strömung aufzubauen beziehungsweise zu stärken und Anknüpfungspunkte für eine bewegungs- und organisationsübergreifende, reale Zusammenarbeit und Diskussion sozialistischer Kräfte zu schaffen.

Mit anderen Worten, ein Übergangsprogramm kann erstens dazu dienen, in konkreten Klassenkämpfen das objektiv notwendige Ziel politischen Handelns im Bewusstsein der Lohnabhängigen und politisch Aktiven zu verankern: die Befreiung von kapitalistischer Ausbeutung und Herrschaft durch das Kapital in ihren vielfältigen Formen mittels eines revolutionären Bruchs als Voraussetzung für den Aufbau einer Gesellschaft, in der Menschen, Tiere und Natur friedlich miteinander leben und prosperieren können. Es geht also darum, sich von der allgemein vorherrschenden Ohnmacht, den unzähligen Varianten des kapitalistischen Realismus [20] nicht dumm machen zu lassen, eine konkrete Perspektive für eine Lösung sozialer, ökologischer und anderer Probleme aufzuzeigen und anhand des Forderungskatalogs Klassenbewusstsein zu entwickeln, anstatt Palliativmittel als Heilung zu verkaufen. Das ist das politisch-ideelle Argument für ein Übergangsprogramm.

Zweitens muss es das revolutionäre Ziel mit der in ihrer Reichweite beschränkten politischen Praxis heute verknüpfen und so eine Abkehr von Modernisierungs- und Integrationsprozessen aufweisen. Die Forderungen des Programms konkretisieren das Ziel tagespolitisch und schneiden es auf die politischen Auseinandersetzungen unter den heutigen sozioökonomischen, politischen und kulturell-ideellen Bedingungen des Klassenkampfs zu. Dadurch ermöglichen sie es, in aktuellen und jeweils besonderen Klassenkämpfen Verbesserungen für Tiere, Arbeiter und die Natur einzufordern und demobilisierte Teile des Proletariats für den Klassenkampf zu mobilisieren. Sie machen aber zugleich deutlich, dass diese Mittel zur Verbesserung der Kampfposition des Proletariats dienen und nicht aus dem Gesamtprozess revolutionärer Befreiung herausgelöst werden können. Genauso wie Lohnerhöhungen und gute Arbeitsbedingungen sind eine vegane Lebensweise und Produktion entweder Modernisierungen des Kapitalismus oder Ansätze seiner Überwindung – je nachdem, wer sie wie und mit welchem Ziel durchsetzt. Man kämpft auf Basis eines Übergangsprogramms also nicht nur für Verbesserungen im Alltag, sondern nutzt diese, um auf den Bruch mit der Kapitalherrschaft und den Aufbau einer anderen Gesellschaft hinzuarbeiten. Auf dieser Grundlage können die aktuellen Auseinandersetzungen von Modernisierungs- in Klassenkämpfe verwandelt und real existierende soziale Bewegungen politisch und theoretisch weiterentwickelt werden. Das ist das politisch-strategische Argument für ein Übergangsprogramm.

Drittens ist es die Grundlage für eine kollektive Organisation auf einem spezifischen Feld des Klassenkampfs mit der Perspektive eines partei-, gruppen- und bewegungsübergreifenden, revolutionären Zusammenschlusses. Dem gegenwärtig vorherrschenden Bewegungsfetischismus zum Trotz und eingedenk historischer Fehler gibt es mittel- und langfristig nämlich keine Alternative zu einer revolutionären Organisation. Einerseits können auf spezifischen Feldern und in besonderen Klassenkämpfen (Tierbefreiung, Feminismus, Ökologie, Krieg und Frieden usw.) agierende Akteure sich auf Basis von Übergangsprogrammen zusammenschließen, um eine erkennbare sozialistische Strömung innerhalb der jeweiligen sozialen Bewegung zu bilden. Andererseits können Zirkel, Kleingruppen, Parteien und einzelne Aktivisten, die auf unterschiedlichen Feldern tätig sind, darin die Blaupause für gemeinsames Handeln und eine gemeinsame Orientierung erkennen. Anders ausgedrückt: Bewegungsspezifische Übergangsprogramme könnten in einem sozialistischen Übergangsprogramm aufgehen, weil sie inhaltlich, strategisch und organisatorisch gleich ausgerichtet sind. Das ist das politisch-organisatorische Argument für ein Übergangsprogramm.

Diese drei Argumente sind im Grunde für alle sozialen Bewegungen des Post-1968er-Typs gültig. Sie gelten also nicht nur der Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung. Gleichwohl bietet ein sozialistisches Übergangsprogramm für die Befreiung der Tiere für diese Bewegung besondere Vorteile. Zunächst ist es eine politisch-inhaltlich und strategisch begründete Gewichtung und Systematisierung bisher unveröffentlichter und publizierter Forderungen. In dieser Art hat es so etwas noch nicht gegeben. Die Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung hat damit eine echte Agenda, anhand derer sie ihre Ziele und Forderungen im Kampf mit dem Tierkapital sowie ihr Verhältnis zu anderen Bewegungen und zur offiziellen Politik bestimmen und messen kann. Zweitens ist ein Übergangsprogramm ein Hilfsmittel, den zunehmenden Versuchen zu begegnen, die Forderungen nach Tierbefreiung und Tierrechten – sei es aus Opportunismus oder aus eigener Schwäche – für ein liberales Projekt zur tierpolitischen und ökologischen Modernisierung des Kapitalismus zurechtzustutzen. Man kann damit den bereits eingesetzten Prozessen der integrativen Anerkennung entgegenwirken und eine Integration subalterner und oppositioneller Fraktionen in dem Maße vermeiden, wie sie etwa bei der Ökologiebewegung stattgefunden hat. Schließlich ist es drittens das erste sozialistische Programm seiner Art und damit ein erster Sammel-, Diskussions- und Ansatzpunkt für eine solche Strömung innerhalb der Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung, ein Angebot an noch nicht in der Bewegung aktive Sozialisten sowie eine Plattform zur Zusammenarbeit mit anderen sozialistischen Kräften. All dies ist – anders als etwa in anderen sozialen Bewegungen des Post-1968er-Typs wie z.B. der Frauenbewegung, wo es wiederholt Ansätze einer proletarischen Frauenbewegung gab – Neuland in der Geschichte der Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung.

Das Design

Damit ein Übergangsprogramm den formulierten Ansprüchen gerecht werden kann, bedarf es eines besonderen Zuschnitts. Es sollte einen revolutionär-realpolitischen Charakter besitzen, den historisch besonderen objektiven und subjektiven Bedingungen revolutionärer Politik angepasst sein und einen Maßstab für den Erfolg seiner Realisierung vorweisen. Alle drei Elemente ergänzen sich wechselseitig und sind nicht voneinander zu trennen.

Allgemein muss das revolutionär-realpolitische Wesen des Programms aus den Forderungen hervorgehen. Die Revolution darf als Ziel nicht verschwiegen werden, sondern muss sich aus den Forderungen als Einheit erschließen. Die Forderungen werden in diesem Geist abgefasst und transportieren ihn. Sie müssen zudem auch dem Klassengegner reale Zugeständnisse abverlangen und ihn schwächen. Er muss gezwungen sein, Terrain aufzugeben, wenn er Forderungen adaptiert. Gleichzeitig sollte das Programm einzelne Reformideen enthalten, die implementiert werden können. Es weist also einen Doppelcharakter auf, um die falschen Alternativen einer prinzipiellen Orientierung auf Revolution statt Reformen unabhängig von der konkreten gesellschaftlichen Situation (Revolutionismus) und auf Reformen statt Revolution (Reformismus) zu vermeiden. Werden einige Forderungen realisiert, treten neue, weitergehende an ihre Stelle. Ergibt sich aufgrund von Erfolgen, Misserfolgen oder wegen neu einsetzender Klassenkämpfe die Notwendigkeit, auf die neuen Umstände zu reagieren, können neue Forderungen im Programm laufend ergänzt werden. Anders ausgedrückt, der Zuschnitt des Übergangsprogramms orientiert sich an der jeweiligen Entwicklungsperiode des Kapitalismus und der Konstellation der Klassenkämpfe. Es besitzt also notwendigerweise einen Prozesscharakter, um flexibel auf ökonomische, politische und kulturell-ideologische Modernisierungen des Kapitalismus reagieren zu können.

Aus dem Forderungskatalog muss zweitens eindeutig hervorgehen, dass die kapitalistischen Eigentums- und Produktionsverhältnisse das Kernproblem sind und die sie aufrechterhaltende Klasse der politische »Hauptfeind« ist. Diese Anlage ergibt sich aus der Absicht, den Gegner an seinem stärksten und zugleich schwächsten Punkt zu treffen: der ökonomischen Reichtumsproduktion und -verteilung. Gleichzeitig muss der Aufbau die Struktur der abzuschaffenden Gesellschaftsformation abbilden. Denn die (internationale) (Mehr-)Wertproduktion und -verteilung funktioniert nur innerhalb und mithilfe des ganzen Gesellschaftsbaus. Das heißt, das Übergangsprogramm zielt auf die materielle »ökonomische Struktur« [21] der Gesellschaft, erstreckt sich aber zugleich auf die Distributions- und Konsumtionsweise sowie auf alle politisch-kulturellen »Momente des Überbaus« [22], inklusive individueller Subjektivitäten und Identitäten. Auf diese Weise werden alle aufeinander aufbauenden und integrierten Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnisse berücksichtigt, soweit sie der Aufrechterhaltung der bürgerlichen Gesellschaft als Totalität dienen.

Auch wenn ein Übergangsprogramm für die Befreiung der Tiere ausgehend von den Besonderheiten des Tierbefreiungskampfs gegen das Tierkapital formuliert wird, darf es drittens keine Single-Issue-Orientierung besitzen. Ein Forderungskatalog, der nicht zugleich etwa die Anliegen der Arbeiter und ökologische Widersprüche adressiert, entspricht weder der Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft und den Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnissen noch den Problemen und der Zusammensetzung des subjektiven Faktors in der Gegenwart. Die programmatischen Forderungen müssen ein Mittel sein, um auf allen Feldern des Klassenkampfs demobilisierte Arbeiter wieder für den aktiven Kampf zu gewinnen, inhaltliche und organisatorische Verbindungen zwischen den Resten der sozialistischen Arbeiterbewegung und den sozialistischen Strömungen der Neuen Sozialen Bewegungen herzustellen sowie eine Perspektive für eine kollektive, übergreifende Praxis und Organisierung zu eröffnen.

Der Maßstab für den Erfolg oder Misserfolg des Übergangsprogramms ist schließlich viertens die Verbesserung der objektiven und subjektiven Bedingungen für den Klassenkampf und damit für den revolutionären Bruch. Die Umsetzung des Übergangsprogramms und einzelner seiner Forderungen muss die Arbeits- und Lebensverhältnisse der Ausgebeuteten und Unterdrückten – Menschen, Tiere und Natur – erkennbar zu ihren Gunsten verändern. Das bedeutet auch, dass die Umsetzung die Kapitalistenklasse ökonomisch, politisch oder kulturell-ideell schwächen muss. Von realen Erfolgen kann erst die Rede sein, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind: Erstens muss die Kapitalistenklasse gezwungen sein, reale Zugeständnisse zu machen, die auch das Wesentliche berühren. Entsprechend müssen diese zweitens über partielle Konzessionen hinausgehen, die zwecks Teilen und Herrschen einzelnen Fraktionen der Subalternen zugestanden werden, um Opposition zu schwächen und oppositionelle Fraktionen zu kooptieren.

Ein Übergangsprogramm allein ist kein Allheilmittel für die ideellen, politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Probleme der Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung, und erst recht nicht der gesellschaftlichen Linken. Zumal Rosa Luxemburg zu Recht darauf hingewiesen hat, dass es letzten Endes nicht darauf ankommt, »was im Programm geschrieben steht, sondern wie man das Programm lebendig erfaßt« [23], die Praxis also über das Schicksal der Programme entscheidet – im Guten wie im Schlechten. Dennoch kann ein Übergangsprogramm in der bisher umrissenen Form ein Hilfsmittel sein, um Mobilisierungs-, Reorganisations- und Diskussionsprozesse in der Arbeiterklasse sowie in und zwischen noch existenten Parteien, Organisationen, Bewegungen und Individuen unter den Bedingungen revolutionärer Praxis heute in Gang zu setzen und zu fördern. In diesem Sinne folgt abschließend ein Entwurf für ein Übergangsprogramm zur Befreiung der Tiere:

12-Punkte-Übergangsprogramm zur Befreiung der Tiere