»Wegwerfmenschen« für das Kapital

Ob das neue »Arbeitsschutzkontrollgesetz« die Zustände in der deutschen Fleischindustrie verbessert, bleibt fraglich. Ein Überblick und Interview mit ehemaligen Schlachtarbeitern

Corona-Ausbruch in Schlachthöfen – kann ich noch bedenkenlos Schnitzel essen?« Solche Schlagzeilen gingen im Jahr 2020 mehrmals durch die Presse, nachdem sich tausende Arbeiter in bundesdeutschen Fleischfabriken mit SARS- CoV-2 infiziert hatten. Kaum einer der Corona- Hotspots wurde daraufhin vorübergehend dichtgemacht – die »Produktion« von Fleisch hatte schließlich das Prädikat der »Systemrelevanz« erhalten. Die Ausbreitung der Pandemie machte aber unübersehbar, was man im Prinzip schon lange wusste: In der Fleischbranche haben in den vergangenen Jahren vor allem migrantische Werkvertragsarbeiter aus Osteuropa unter katastrophalen Bedingungen zu Billiglöhnen und ohne angemessenen Arbeits- und Gesundheitsschutz geschuftet – weitgehend ohne gewerkschaftliche Interessenvertretung.

Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) ließ nach den ersten Infektionsskandalen in Schlacht- betrieben im Mai 2020 verlautbaren, er wolle nun »aufräumen mit diesen Verhältnissen«. Sein Amtskollege in Nordrhein-Westfalen Karl-Josef Laumann (CDU) sekundierte, die Zustände in der Fleischwirtschaft seien »weder mit einem christlichen Menschenbild noch mit der sozialen Marktwirtschaft vereinbar«. Über diese plötzliche Empörung der Politiker kann man sich nur wundern, denn Gründe für ein Aufräumen mit den Ausbeutungsbeziehungen in der Branche gab es auch lange vor Corona zur Genüge. Wie sehen diese Verhältnisse aus? Eine kurze Übersicht und ein Interview mit zwei ehemaligen Schlachthofarbeitern sollen einen Einblick geben.

Ein undurchsichtiges System

Nach Angaben der Bundesregierung waren in Deutschland im Juni 2019 insgesamt 189.466 Menschen im Bereich »Schlachtung und Fleischverarbeitung« beschäftigt, davon 35.235 in Schlachthöfen und 154.231 in der Weiterverarbeitung. Diese Zahlen spiegeln allerdings nur sozialversicherungspflichtig sowie geringfügig Beschäftigte wider – und damit bloß einen kleinen Teil der Lohnabhängigen dieses Industriezweigs. Wie viele Menschen das deutsche Fleischkapital für seine Profite arbeiten lässt, weiß niemand genau. Nach Gewerkschaftsschätzungen waren im Kernbereich der Produktion in den vergangenen Jahren teilweise bis zu 80 Prozent der Belegschaft über Subunternehmen angestellte Werkvertrags-und Leiharbeiter. Die Bundesregierung gab im Oktober 2020 in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Partei Die Linke unter Berufung auf die Berufsgenossenschaft Nahrungsmittel und Gastgewerbe (BGN) an, im Jahr 2019 seien 48.244 Werkvertragsarbeiter in der Branche beschäftigt gewesen – das wären 40 Prozent aller bei der BGN gemeldeten Fleischarbeiter. Diese Daten zeigen aber höchstens die Spitze des Eisbergs, denn Werkvertragsbeschäftigte werden auch bei anderen Berufsgenossenschaften gemeldet und Zahlen zu Leiharbeit werden gar nicht erst statistisch ermittelt, sondern beruhen ausschließlich auf Selbstauskünften der Konzerne. Diese Undurchsichtigkeit der Beschäftigungsverhältnisse hatte und hat System – sie sichert der Industrie einen möglichst ungestörten Ausbeutungsprozess und erschwert gewerkschaftliche Organisierung.

In der Branche gibt eine Handvoll Großkonzerne, allen voran Tönnies, die Gestaltung der Arbeitsbeziehungen und -bedingungen vor. In den letzten Dekaden haben sie diese so für sich optimiert, dass sie massiv von Billiglohnarbeit profitieren konnten, ohne sich mit der Organisation der Überausbeutung selbst die Hände schmutzig machen zu müssen. Denn alles, was dafür nötig ist, wurde bisher an Subunternehmen ausgelagert.

Organisiertes Lohndumping

Vom Reichtum, den die Arbeiter erwirtschaften, sehen sie selbst nur wenig. Zwar gilt in der Branche seit 2014 ein Mindestlohn von derzeit 9,50 Euro. Von diesem hat der Großteil der Arbeiter in den Schlachthäusern allerdings gar nichts: Bis dato haben Subunternehmer bei Tönnies und Co unter anderem durch unbezahlte Überstunden und Lohnabzüge für Wuchermieten dafür gesorgt, dass der Mindestlohn unterlaufen wird.

Das Kapital hat so die Überausbeutung hauptsächlich osteuropäischer Arbeitsmigranten perfektioniert. Der Anteil der Beschäftigten in der Fleischindustrie ohne deutschen Pass hat sich in den letzten zehn Jahren mehr als verdreifacht, wie die Antwort auf eine parlamentarische Anfrage der Linkspartei von 2019 deutlich macht. Viele der Kollegen sprechen kein Deutsch und kennen ihre Rechte nicht. Manchmal, so wird berichtet, würden Subunternehmer sogar ihre Pässe einstecken. Die Möglichkeiten, sich gegen Lohnprellerei und schlechte Arbeitsbedingungen zur

Wehr zu setzen, sind entsprechend eingeschränkt. Die Schlachthofarbeiter sind für das Fleischkapital »Wegwerfmenschen«, wie der Pfarrer Peter Kossen aus Lengerich, der diese Zustände in der Fleischindustrie seit 2012 skandalisiert, den Zynismus dieses Systems treffend beschrieben hat.

Verbot der Werkvertragsarbeit – Ende der Ausbeutung?

Die staatliche Politik hat dem organisierten Lohndumping bislang nichts entgegengesetzt, sondern es vielmehr – etwa durch unterlassene Eingriffe, lasche Regelungen und ein mangelhaftes Kontrollwesen – mit ermöglicht. Indes folgte auf Hubertus Heils Ankündigung, mit den schlimmsten Verhältnissen in der Branche aufzuräumen, tatsächlich das neue »Arbeitsschutzkontrollgesetz« (ASKG), auf das sich die Große Koalition im November 2020 geeinigt hatte und das im darauffolgenden Dezember im Bundestag verabschiedet wurde – allerdings erst nachdem die Fleischlobby weitreichende Ausnahmen erwirkt hatte.

Das ASKG verbietet seit Anfang 2021 Werkverträge und Leiharbeit beim Schlachten und Zerlegen. Es gilt aber nur für Unternehmen mit mindestens 50 Beschäftigten. In der Fleischverarbeitung bleibt Leiharbeit vorerst erlaubt, wenn sie tariflich geregelt ist – was angesichts der Schwäche der Gewerkschaften in der Branche nicht unbedingt ein Vorteil für die Beschäftigten sein wird. Darüber hinaus sieht das Gesetz ein verbessertes Kontrollwesen, die Pflicht zur elektronischen Erfassung der Arbeitszeiten, nicht näher definierte »Mindeststandards« für Wohnunterkünfte und Bußgelder von bis zu 30.000 Euro vor, was in Relation zu den Milliardenumsätzen der Topunternehmen wenig ist.

Das Verbot der Werkvertragsarbeit ist begrüßenswert. Darauf vertrauen, dass die Neuregelungen die Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit in der Fleischindustrie grundlegend verändern, sollte man allerdings nicht. Schließlich gibt es schon seit 2017 ein »Gesetz zur Sicherung von Arbeitnehmerrechten in der Fleischwirtschaft«, das Unternehmen verpflichtet, für die Sozialversicherung ihrer Beschäftigten bei Subunternehmern zu haften. Seither hat sich die Situation der Beschäftigten aber weiter verschlechtert. 2015 hatten die Branchenriesen zudem im damals von Sigmar Gabriel (SPD) geleiteten Wirtschaftsministerium eine wachsweiche »Selbstverpflichtung« unterschrieben, in der sie unter anderem erklärten, geltendes Arbeitsrecht »bei sich und ihren Werkvertragspartnern« sicherzustellen und Subunternehmer entsprechend verpflichten zu wollen. Ob Regelverstöße und Vertragsbrüche gemeldet und sanktioniert wurden, entschieden aber allein die Fleischbosse.

Außerdem lässt auch das neue Gesetz den Konzernen viele Schlupflöcher. Staatliche Kontrollen sollen zum Beispiel erst ab 2026 zunehmen und auch dann sind bei jährlich nur fünf Prozent der Fleischbetriebe Besichtigungen vorgesehen. Fraglich ist auch, ob sich etwas an der bisherigen Praxis ändern wird, Kontrollen vorher anzukündigen, so dass sie keine Gefahr für den reibungslosen Ausbeutungsprozess darstellen. Es wird darüber hinaus weiterhin möglich sein, den Beschäftigten einen Teil ihres Lohns durch Wuchermieten abzuknöpfen.

Großunternehmen wie Tönnies, Westfleisch und PHW haben derweil angekündigt, in den Kernbereichen der Fleischproduktion tatsächlich auf Werkverträge verzichten zu wollen. Trotzdem steht zu befürchten, dass sie weiterhin jede Möglichkeit nutzen werden, ihre ökonomische Vormachtstellung auszubauen. Die schlechten Löhne und Arbeitsbedingungen waren nie allein auf die rechtliche Konstruktion der Werkverträge zurückzuführen, wie der Journalist Werner Rügemer betont, sondern auch auf das in der Branche etablierte »Angst- und Zwangsregime« und die Komplizenschaft mit Vermittlungsunternehmen aus den Herkunftsländern der Arbeiter sowie mit Landesregierungen, der Gewerbeaufsicht, den Gesundheitsämtern und dem Zoll.

Vor diesem Hintergrund ist das »Arbeitsschutzkontrollgesetz« wohl kaum eine »krachende Niederlage für Lobbyisten« (Hubertus Heil). Zumal die nachhaltige Organisierung der Lohnabhängigen in der Fleischindustrie zur Vertretung ihrer Interessen voraussichtlich weiterhin erschwert wird. Der Klassenkampf mag sich in Gesetzen verdichten – aber er wird nicht in Parlamenten entschieden und auch nicht in erster Linie dort geführt.

Wie sahen der Alltag in den Fleischbetrieben und die Überausbeutung der Beschäftigten aus Osteuropa bisher aus? Wir konnten Anfang 2020 mit zwei Kollegen sprechen, die bis vor einiger Zeit bei Tönnies als Werkvertragsarbeiter eingesetzt waren. Sie bleiben anonym, denn wer »auspackt«, läuft Gefahr, von Schergen der Subunternehmer bedroht zu werden. Wir nennen sie Ben und Vasile.

Ihr wart bis vor einiger Zeit als Schlachtarbeiter bei Tönnies beschäftigt. Welche Tätigkeiten habt Ihr dort ausgeübt?

Ben: Ich habe in Nachtschichten Schweinehälften geschoben und LKWs beladen. Oft war ich auch Springer. Wenn irgendwo etwas kaputt gegangen ist, zum Beispiel eine der Hydraulikscheren, mit denen Schweinefüße abgetrennt werden, musste ich einspringen und die Füße von Hand abschneiden. Im Prinzip habe ich alles gemacht, was nötig war, um das Band am Laufen zu halten.

Vasile: Ich habe direkt in der Schlachtung am Fließband gearbeitet. Mein schlimmster Arbeitsplatz war bei der Entnahme von Innereien – Zungen von Speiseröhren trennen, Herzen rausnehmen und so weiter.

Welche Probleme kommen Euch zuerst in den Sinn, wenn Ihr an Eure Arbeit bei Tönnies zurückdenkt?

Vasile: Wir wurden wie Sklaven behandelt, das fällt mir ein. Die Arbeit war sehr stressig, die Schichten extrem lang und dazwischen gab es kaum Ruhezeiten. Ich wurde ununterbrochen von A nach B gescheucht, um dies zu tun, jenes zu tun, und dann bist du einfach erschöpft. Es ist hart, den ganzen Tag auf den Beinen zu sein. Du bekommst Armschmerzen, Rückenschmerzen, alles tut weh, und die ganze Zeit sind die Vorarbeiter da und halten dich an, schneller zu arbeiten. Manchmal haben sie Schläge verteilt. Der psychische Stress durch die Vorarbeiter, das war eigentlich das Schlimmste.

Ben: Es gibt so viel zu erzählen, ich könnte bis morgen reden. Die Arbeit war auf vielen Ebenen schwer, und wir wurden schlecht bezahlt. Die Vorarbeiter haben uns am Hinterkopf gepackt, manchmal Kisten voller Fett auf Kollegen geschmissen und uns angeschimpft, dass wir schneller machen sollen. Man musste funktionieren wie ein Roboter. Die Arbeit im Schlachthof ist körperlich ziemlich hart, daran kann man sich noch gewöhnen, aber der psychische Druck ist nicht auszuhalten. Damit kann nicht jeder umgehen. Durch die langen Arbeitszeiten kann man auch nie irgendetwas anderes tun, man kommt aus dem Stress nicht mehr raus. Und man darf auch nicht vergessen, dass es eine Belastung ist zu sehen, wenn die Tiere zum Beispiel nicht richtig betäubt werden und noch leben, sich noch bewegen, schreien, wenn sie ins heiße Brühbad kommen. Der Ablauf von der Betäubung bis zum Tod der Tiere ist nie reibungslos, aber das wird ignoriert. Nur wenn die Tierärzte da sind, wird nach Regeln gearbeitet. Ich habe das alles gesehen, und es hat mich sehr betroffen gemacht. Ich weiß nicht, ob alle so fühlen.

Vasile: Doch, ich denke schon. Es ist einfach seelisch extrem belastend, wenn du die ganze Zeit an einem Ort bist, an dem Tiere getötet werden. Man sieht den ganzen Tag Fleisch, Blut – und dann noch der Geruch. Die Tiere tun mir leid, und ich kenne viele, die davon so mitgenommen sind wie ich. Aber wir mussten das machen. Viele zeigen das jedoch nicht, kehren alles nach innen. Alle sind verschlossen, niemand äußert sich.

Der Pressesprecher von Tönnies würde jetzt einwenden: Das, was Ihr da beschreibt, passiert aber alles nur im Ausnahmefall.

Ben: Das stimmt aber nicht, das ist die Normalität. Bei mir war es so: Nur wenn Kontrollen an- gekündigt waren, wurden die Vorschriften eingehalten. Aber dann haben wir vorher Bescheid bekommen. Wenn keine Kontrollen angemeldet waren, musste so gearbeitet werden, wie es am schnellsten geht. Auch wenn zum Beispiel mal ein halbes Schwein runtergefallen ist: Wenn ein Tierarzt das gesehen hat, musste es weggeschmissen werden. Wenn nicht, wurde es wieder aufgehängt.

Wie seid Ihr eigentlich zu Tönnies gekommen und warum?

Ben: Ich bin über eine rumänische Firma zu Tönnies gekommen. Uns wurde damals gesagt, dass wir für acht Stunden Arbeit pro Tag 1.200 Euro im Monat und nochmal extra 50 Euro pro Woche bekommen. Von diesen 50 Euro habe ich nie etwas gesehen, und auch die anderen Versprechungen wurden nicht eingehalten. Aber das wusste ich vorher nicht, außerdem musste ich Geld verdienen. In Rumänien bekomme ich weniger. Wenn man dann einmal drin ist, wartet man immer darauf, dass sich die Situation verbessert – das hat sie aber nicht. Wenn ich die Bedingungen von Anfang an gekannt hätte, wäre ich nicht zu Tönnies gegangen. Die versprechen den Leuten viel, aber die Realität sieht anders aus. Viele Rumänen, denen gesagt wurde, dass sie in Deutschland in einem Geflügelschlachthof arbeiten werden, sind dann in der Schweineschlachtung bei Tönnies gelandet. Sie wurden oft nach kurzer Zeit rausgeschmissen oder sind freiwillig gegangen, weil sie mit der körperlich schweren Arbeit und auch mit der Geschwindigkeit nicht klargekommen sind.

Vasile: Bei mir war es ähnlich. Ich musste herkommen, weil ich Geld für meine Familie brauchte, und ich bin auch über eine rumänische Werkvertragsfima bei Tönnies gelandet.

Eine rumänische Firma hat Euch also angeheuert, aber Ihr habt dann bei Tönnies gearbeitet. In welchem Verhältnis standen denn die beiden Unternehmen zueinander? Gehören die zusammen?

Ben: Nein, das ist ein Subunternehmen. Ich war nie direkt bei Tönnies angestellt, und die Firma, die mich bezahlt hat, gehört nicht zu Tönnies. Ich wusste das allerdings nicht von Anfang an. Der Chef des Subunternehmens macht im rumänischen Fernsehen Werbung damit, dass man in Deutschland arbeiten kann und gut verdient. Ich habe gedacht, ich würde direkt bei einer deutschen Firma angestellt und werde da bestimmt keine Probleme haben.

Wurdet Ihr jemals darüber aufgeklärt, welche Rechte Ihr habt, zum Beispiel im Krankheitsfall oder in puncto Urlaub?

Ben: [Lacht] Also, mir wurde nie irgendetwas in dieser Richtung erklärt – wie es mit Arbeitssicherheit und Hygiene aussieht, ob ich zu einem Arzt gehen kann, wenn es sein muss, nichts. Als ich mich mal verletzt habe und einen brauchte, wusste ich noch nicht einmal, was die IKK [Krankenkasse] ist. Ich habe bei meiner Einstellung nur einen Haufen Papiere vorgelegt bekommen, die ich alle unterschreiben sollte. Es wurde auch nichts von einer PSA [Persönliche Schutzausrüstung] erzählt. Aber mir wurde aufgetragen, bei der Arbeit blaue Handschuhe zu tragen. Für meine Gesundheit waren die aber eher schädlich. An meinem Arbeitsplatz war es sehr kalt. Ihr glaubt gar nicht, wie unangenehm es dann ist, dünne Plastikhandschuhe tragen zu müssen.

Vasile: Aufklärung sah bei mir so aus: Am Anfang wurde uns gesagt, dass wir einen guten Stundenlohn bekommen. Aber als ich dann angestellt war, haben sie mir bezahlt, was sie wollten. Selbst wenn man seine Rechte kennt, ist es übrigens nicht so leicht, etwas zu sagen. Wenn zum Beispiel herauskommt, dass du Kontakt zur Gewerkschaft hattest, fliegst du raus. Das ist ein riesiges Problem. Ich habe einmal mitbekommen, wie Gewerkschafter vor einem Haus standen, in dem Arbeiter untergebracht waren. Sie wollten mit den Leuten reden, aber die durften nicht rausgehen. Und wenn ich jetzt noch bei Tönnies arbeiten würde und jemand mitbekäme, dass ich hier mit Euch spreche, würden die mich auch rausschmeißen.

Wer hat denn eigentlich darüber bestimmt, wie es bei der Arbeit zuging? Waren das Vorgesetzte von Tönnies?

Vasile: Nein, die Vorarbeiter waren auch von dem Subunternehmen.

Ben: Genau, die haben uns gesagt, was wir zu tun und zu lassen haben. Von Tönnies hat mir nie irgendjemand etwas gesagt – nur in absoluten Ausnahmefällen, wenn ganz dringend etwas erledigt werden musste. Die Vorarbeiter sind die Arsch- lecker des Subunternehmers. Die verdienen viel mehr Geld als wir bekommen haben. Und wenn ein Vorarbeiter auf uns eindrischt, damit wir schneller arbeiten, und der Chef sieht das, dann interessiert ihn das gar nicht. Den interessiert nur, dass wir in weniger Zeit mehr schaffen.

Ben, Du hast eben von einer Verletzung gesprochen. Was ist passiert, und wie wurde damit umgegangen?

Ben: Ich habe mich bei der Arbeit schwer an der Hand verletzt und schnell gemerkt, dass ich keine Kraft mehr zum Zupacken hatte. Nach einer Stunde habe ich dem Vorarbeiter Bescheid gesagt. Der hat mich aber angewiesen weiterzuarbeiten. Das habe ich dann auch gemacht. Ich wusste nicht, was ich tun kann. Niemand hat mir gesagt, welche Rechte ich im Falle eines Arbeitsunfalls habe. Ich bin dann erst nach drei Tagen zu einem Arzt gegangen. Da hatte sich meine Hand schon so entzündet, dass sie fast amputiert werden musste. Ich war nach der Behandlung erst einmal krankgeschrieben und blieb in meiner Unterkunft. Mir wurde aber ständig gedroht, dass ich rausgeschmissen werde, wenn ich nicht zur Arbeit gehen würde. Danach habe ich nicht mehr bei Tönnies gearbeitet. Aber es gab auch schon vorher die ganze Zeit Probleme mit Schmerzen. Wir mussten zum Beispiel gebrauchte Gummistiefel tragen. Es war immer überall nass, und wir mussten die ganze Zeit rumlaufen und hatten aufgequollene Füße und schmerzende Blasen, die immer schlimmer wurden. Die Schuhe waren kaputt, aber wir haben keine neuen bekommen.

Auf der Homepage des Unternehmens klingt das alles ganz anders. Dort heißt es: »Tönnies bekennt sich zu seiner Verantwortung für Mensch, Tier und Umwelt und arbeitet kontinuierlich daran, wirtschaftliches Handeln, nachhaltige Entwicklung und soziale Verantwortung in Einklang zu bringen.«

Ben: Das ist dann wohl gelogen. Tönnies hat zu meiner Zeit nichts für die Verbesserungen der Arbeitsbedingungen getan. Ich weiß nicht, ob irgendwelche Absprachen mit dem Subunternehmer getroffen wurden, aber falls es sie gab, dann ist bei uns Arbeitern nichts davon angekommen.

Vasile: Und uns wurde immer wieder zugesagt, dass die Löhne höher werden. Aber von leeren Versprechungen können wir uns auch nichts kaufen. Ben: Ehrlich, Tönnies interessiert das alles doch gar nicht – das ist unsere Erfahrung. Der kann sich in den Medien gut darstellen und Werbefilme machen, in denen in den Arbeiterwohnungen Bananen und Blumen auf dem Tisch stehen [lacht], aber dort, wo ich untergebracht war – das war eine Unterkunft, die das Subunternehmen angemietet hat –, gab es Kakerlaken im Backofen. Zumindest zu meiner Zeit war das so. Man konnte sich da auch nicht ausruhen. Ich habe in der Nacht gearbeitet, musste also am Tag schlafen. In dem Zimmer, in dem ich untergebracht war, standen zehn Betten, man war also fast nie allein, und die Sonne hat mir ins Gesicht geschienen. An Schlafen war also kaum zu denken.

Und wie viel Miete habt Ihr dafür gezahlt?

Ben: Offiziell gab es keine Miete, aber der Subunternehmer hat uns einen Teil des Lohns abgezogen. Das hieß »Abschlag«.

Vasile: Bei mir waren es 250 Euro für das Bett.

Gerade was die Bezahlung anbelangt, wird Wert auf die Darstellung gelegt, die Fleischindustrie tue alles dafür, dass die Beschäftigten den Mindestlohn erhalten.

Ben: Wir haben den Mindestlohn schon bekommen – auf dem Papier. Unsere Arbeitszeiten waren aber viel länger als vereinbart. Meine Schichten dauerten immer von 22 Uhr bis um 15.30, 16, 17 Uhr am nächsten Tag. Meine längste Schicht ging 21 Stunden. Geld habe ich für die Überstunden nicht gesehen. Auch wenn ich 15 Stunden gearbeitet habe, wurden mir nur acht bezahlt. Kontrolliert wurde das nie, und niemand würde dir bestätigen, dass du 21 Stunden gearbeitet hast. Nur wenn der Zoll kam, wurde geprüft. Aber dann wusste das Unternehmen vorher Bescheid, und wir wurden angewiesen zu behaupten, dass uns Überstunden über ein anderes Konto ausbezahlt würden. Ich weiß selbst nicht einmal, wie viele Stunden ich pro Monat bei Tönnies gearbeitet habe. Aber ich weiß, dass meine Schichten sehr lang waren und zwar sechs Tage die Woche, und der Monatslohn dafür nicht stimmen kann.

Vasile: Bei mir waren die Schichten etwas kürzer. Ich habe meistens an sechs Tagen pro Woche zehn, elf, zwölf Stunden gearbeitet, also nicht ganz so viele Überstunden. Aber bezahlt wurde ich auch nur für acht. Und je weniger Überstunden wir machen mussten, was teilweise eine Reaktion auf die Kritik an schlechten Arbeitsbedingungen bei Tönnies in den Medien war, desto mehr wurde die Arbeitsgeschwindigkeit erhöht.

Ben: Es haben auch nicht alle gleich viel Lohn bekommen. Die Chefs machen Unterschiede. »Zigeuner kriegen weniger«, haben sie zum Beispiel gesagt. Und wenn Leute es bei Tönnies nicht mehr ausgehalten haben und nur auf den ersten Lohn warten wollten, um mit dem Geld zurück nach Rumänien fahren zu können, wurden die letzten zwei Wochen oft nicht bezahlt. Ich kenne eine Frau aus Rumänien, die ohne Geld nach Hause gegangen ist nach einem Monat Arbeit. Wir mussten früher auch noch Geld für Schutzkleidung, Messer und so weiter bezahlen.

Ben, Du hast gesagt, dass Du auch mal 21 Stunden am Stück gearbeitet hast. War das eine Ausnahme oder kam das häufiger vor?

Ben: Das war eine einmalige Sache. Aber früher als 15.30 Uhr bin ich nie rausgekommen. Zumindest kann ich mich nicht daran erinnern, aber wir waren ja auch wie gesteuert, haben meist nur zwei, drei Stunden geschlafen und mussten dann wieder zur Arbeit. An dem 21-Stunden-Tag hatte ich übrigens auch meinen Arbeitsunfall.

Gab es denn einen guten Zusammenhalt unter den Arbeitern?

Ben: Die Arbeitstage haben meistens gut angefangen. Aber wenn wir zu kaputt und überlastet waren, dann sind wir oft nicht gut miteinander umgegangen. Es gab zum Beispiel Streit, wenn jemand nicht mehr so schnell konnte und deswegen alle anderen auch langsamer machen mussten. Solche Dinge macht der Stress.

Zum Abschluss noch eine Frage: Würdet Ihr das Fleisch essen, das bei Tönnies verarbeitet wird?

Ben: Also, ich will das nicht mehr essen – dafür habe ich zu viel gesehen.

Vasile: Das geht mir genauso.

Text und Interview: Christin Bernhold und John Lütten

Ein Artikel aus unserer Zeitung “Das Fleischkapital”.